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Mehr InfosStudienarbeit, 2006, 67 Seiten
Studienarbeit
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Bei Familien mit entwicklungsgefährdeten oder behinderten Kindern besteht ein erhöhtes Risiko des sozialen Rückzugs.
Für die Entwicklungsmöglichkeiten eines Kindes sind eine gute soziale Integration und intakte gesellschaftliche Außenkontakte jedoch von großer Bedeutung (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 91).
Soziale Probleme können nach Weiß et al. auf zwei Ebenen entstehen:
- Innerhalb der Familie: Bedingt durch Kränkungen und Enttäuschungen, die mit einer Entwicklungsauffälligkeit oder Behinderung einhergehen, kommt es häufig zu Rückzugstendenzen, Schuldgefühlen oder Schuldzuweisungen zwischen den Mitgliedern einer Familie. Die Frühförderung wirkt vermittelnd und integrierend nach dem Grundsatz der Allparteilichkeit. Lassen sich bestehende Schwierigkeiten durch Beratungsgespräche nicht ausräumen, so kann z.B. eine Familientherapie helfen die Probleme zu beseitigen.
- Auf gesellschaftlicher Ebene: Hier gilt es Stigmatisierungen entgegen zu treten, bestehende Kontakte trotz Belastungen aufrecht zu halten und neue Beziehungen zu Personen in vergleichbaren Situationen aufzubauen (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 91).
Aufgrund der vielschichtigen und komplexen Aufgabenfelder der Frühförderung bedarf es eines ineinander greifenden Netzwerks von Hilfen unterschiedlicher Art. Die Maßnahmen der beteiligten Einrichtungen und Fachleute müssen aufeinander abgestimmt sein und koordiniert werden (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 92f).
Regelmäßiger Austausch aller am Förderprozess beteiligten Fachkräfte trägt zu einem funktionierenden System bei und steigert die Kompetenzen der Beteiligten (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 92f).
Die moderne Frühförderung entspricht laut Weiß, Neuhäuser und Sohns (2004) zentralen Grundsätze, die im Folgenden beschrieben werden.
Die Förderung des Kindes darf nicht isoliert-additiv durch nicht koordinierte Therapieansätze erfolgen. Das Kind muss als unteilbare Persönlichkeit mit unterschiedlichen Bedürfnissen wahrgenommen und respektiert werden. Das schließt Stärken und Schwächen, das Selbsterleben und körperliche Empfinden des Kindes aber auch fördernde und hemmende Bedingungen seiner Lebenswelt ein (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 113f).
Der Grundsatz der Ganzheitlichkeit soll ein „integrierender Pol“ (Thurmair/Naggl 2003, 25) sein und das Spannungsgefüge verschiedener Förderbereiche und –ziele auflösen. Eine Therapie muss auf die individuelle Situation und die Bedürfnisse des Kindes abgestimmt sein und ein durchgehendes, kohärentes Konzept aufweisen (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 113f).
Die Wirksamkeit der Frühförderung hängt maßgeblich davon ab, inwieweit entwicklungsfördernde Ressourcen der primären Lebenswelt des Kindes – also der Familie – aktiviert werden können. Als Hauptbezugspersonen gestalten Eltern die Lebens-, Beziehungs- und Interaktionswelt des Kindes entscheidend mit. Frühförderung soll die Eltern bei ihren Aufgaben unterstützen (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 114f).
Das Eltern-Kind-System ist im Bereich Frühförderung häufig eine Quelle von Spannungen. Es ist Aufgabe der Fachleute, eine Balance zwischen Familien- und Kindorientierung zu halten. Schnell besteht die Gefahr, einseitig für das Wohl des Kindes einzutreten und die Eltern ausschließlich als Funktionsträger zu behandeln, die bestimmte Leistungen, wie Pflege, Therapie und Förderung, für das Kind erbringen müssen. An dieser Stelle ist eine Besinnung auf den Grundsatz der Ganzheitlichkeit notwendig: Auch die Eltern sind unteilbare Personen mit individuellen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Möglichkeiten, die es zu respektieren gilt (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 114f).
Im Sinne der systemischen Beratung ist daher eine Allparteilichkeit der am Förderprozess beteiligten Fachpersonen notwendig: Sowohl die Bedürfnisse des Kindes als auch der anderen Familienmitglieder müssen gleichermaßen beachtet werden (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 114f).
Zur Auflösung von Spannungen ist ein intensiver, offener und verständigungs-orientierter Dialog aller Beteiligten notwendig (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 114f).
Eingebunden in tief greifende gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Prozesse befindet sich die Familie der modernen Gesellschaft im Wandel. Neben traditionellen Kleinfamilien, die aus den beiden Elternteilen und einem oder mehreren Kindern bestehen, finden sich zunehmend auch andere Konstellationen. Ein-Eltern-Familien und so genannte Patchwork-Familien (Familien, die sich aus Mitgliedern verschiedener, teilweise zerbrochener Beziehungen zusammensetzen) sind immer häufiger anzutreffen. Diesen veränderten Konstellationen muss die Frühförderung Rechnung tragen (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 115).
Drohende oder manifeste Behinderungen können nicht isoliert betrachtet werden. Im Sinne der Ganzheitlichkeit muss bei Diagnose, Therapie und Förderung den physischen, psychischen und sozialen Dimensionen der Person Rechnung getragen werden (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 117f).
Um dieser Anforderung gerecht zu werden, ist ein breites, interdisziplinäres Handlungsspektrum der Frühfördereinrichtungen erforderlich. Nach Weiß, Neuhäuser und Sohns finden dabei momentan vor allem zwei Ansätze Verbreitung:
Häufig findet man in der Praxis Konstellationen, bei denen Fachpersonen verschiedener Bereiche – gewissermaßen als „Addition fachspezifischer Bausteine“ (Weiß et al.) – auf das Kind und dessen Familie einwirken. Trotz Abstimmung der beteiligten Fachkräfte entsteht oft statt intensiver Interdisziplinarität nur eine unkoordinierte Multidisziplinarität ohne übergeordnete Ziele. Folgen können Therapiemüdigkeit und Überbelastung von Kind und Familie sein (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 117ff).
Vor allem in Frühförderstellen trifft man auf eine konzeptuelle Weiterentwicklung des eben beschriebenen Ansatzes:
In einem interdisziplinären Team übernimmt eine Fachperson, deren Kompetenzprofil am ehesten den Bedürfnissen des Kindes entspricht, die Betreuung. Durch Anregungen versucht diese Person auf das Eltern-Kind-System entwicklungsfördernd einzuwirken und eventuell bestehende entwicklungshemmende Faktoren auszuräumen. Um getreu des Grundsatzes der Ganzheitlichkeit möglichst vielen Aspekten des Kindes und der Eltern entsprechen zu können, ist eine Übertragung von Kompetenzen durch transdisziplinare Kooperation notwendig, welche in gemeinsamen Fallbesprechungen der Experten des Teams stattfindet.
Zusätzlich können, falls erforderlich, auch hier weitere Fachpersonen direkt mit Kind und Familie in Kontakt treten (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 117f).
Um den Bedürfnissen von Kind und Familie hinreichend zu genügen, sollten Frühförderstellen in Anlehnung an Speck die folgenden Arbeitsbereiche umfassen (Speck 1977a, 50):
- medizinischer Arbeitsbereich
- pädagogischer Arbeitsbereich
- psychologischer Arbeitsbereich
- Bereich Sozialarbeit
Obwohl in der Frühförderverordnung letzterer Ansatz verlangt wird, ist er in der Praxis bislang noch selten anzutreffen (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 119).
Eine wirkungsvolle Umsetzung der Grundsätze der Ganzheitlichkeit, der Familienorientierung und der Interdisziplinarität wird durch eine gelungene Vernetzung erreicht (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 119ff).
Frühförderung ist ein Angebot, welches auf Freiwilligkeit beruht. Es ist demnach für eine Inanspruchnahme der Frühförderung wichtig, dass die Angebote der Frühförderung dem Personenkreis möglicher Hilfesuchender bekannt sind und eine gewisse Akzeptanz gegenüber diesen Angeboten besteht (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 119ff).
Die Bekanntmachung und Offenlegung der Leistungen und Strukturen des Systems Frühförderung für die Öffentlichkeit ist aus diesem Grund von hohem Stellenwert. Die Publikation von Informationsmaterial, wie Broschüren oder Faltblätter, spielt dabei eine wichtige Rolle.
In die Frühförderung involvierte Fachleute – allen voran die Ärzte – und Einrichtungen (z.B. Kindergärten, Gesundheits- und Sozialämter, Erziehungsberatungsstellen) dienen als Multiplikatoren, indem sie auf Frühförder-Angebote hinweisen und diese vermitteln (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 119ff).
Den Betroffenen sollen Möglichkeiten der Vernetzung aufgezeigt werden, z.B. in Form von Elternveranstaltungen, Stammtischen oder aber autonomen Selbsthilfegruppen (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 121f).
Engelbert stellte 1999 fest, dass gruppenbezogene Angebote gerade von Angehörigen unterer Bildungsschichten in Anspruch genommen werden (Engelbert 1999, 243f). Frühförderstellen können so „ungleichheitskompensierende Leistungen“ (Engelbert 1999, 280) erbringen und eher schwer erreichbare Bevölkerungsschichten ansprechen.
Der Aufbau regionaler Netzwerke fördert den fachlichen Austausch der verschiedenen Einrichtungen. Schwierigkeiten, Verbesserungsvorschläge und Innovationen können diskutiert werden. Eine gelungene Vernetzung trägt dazu bei, das Angebot der Frühförderung entsprechend den Bedürfnissen der Hilfesuchenden auszubauen und zu erweitern (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 121f).
Die wichtigsten Grundsätze und Konzepte der Montessori-Pädagogik werden in diesem Kapitel vorgestellt. Dabei werden vor allem Elemente erwähnt, die für den Einsatz im Frühförderbereich relevant sind.
Neben der pränatalen Embryonalphase im Uterus durchschreitet das Kind nach Montessori eine zweite, postnatale embryonale Phase. Diese geistige Embryonalphase oder formative Periode ist spezifisch für den Mensch und dauert von der Geburt bis etwa zum dritten Lebensjahr (Montessori 1972, 55 und Fuchs 2003, 65).
Während dieses Entwicklungsabschnitts absorbiert der Geist des Kleinkindes Sinneseindrücke in einem unterbewussten biologischen Gedächtnis, der Mneme. In Form so genannter Engramme werden diese dauerhaft fixiert. Unter Engramm („Eingezeichnetes“) versteht Montessori physiologische Veränderungen, welche einen Sinneseindruck in der Mneme hinterlässt (Fuchs 2003, 65).
Im Kind besteht für alles, was es umgibt, eine absorbierende Sensitivität (Biewer 1992, 19): Es verinnerlicht automatisch und unreflektiert die Eindrücke seiner Umwelt; dabei formt und strukturiert es seinen kindlichen Geist (Fuchs 2003, 65).
Dem Sammeln von Engrammen schreibt Montessori eine wesentlich höhere Bedeutung für die kindliche Intelligenzentwicklung zu als dem bewussten Lernen. Das didaktische Material dient dem Kind als Werkzeug, um selbständig entsprechend seiner inneren Bedürfnisse auf die Mneme einzuwirken und seine Intelligenz zu schulen (Fuchs 2003, 66f).
Die kindliche Entwicklung, so glaubt Montessori, folgt einem inneren Plan, welcher bei der Erziehung und Förderung des Kleinkindes berücksichtigt werden muss (Montessori 1999, 49f):
Das Kind macht seine Erwerbungen in seinen Empfänglichkeitsperioden. Diese sind mit einem Scheinwerfer vergleichbar, der einen bestimmten Bezirk des Inneren taghell erleuchtet, vielleicht auch einem Zustand elektrischer Aufladung. Auf Grund dieser Empfänglichkeit vermag das Kind einen außerordentlich intensiven Zusammenhang zwischen sich und der Außenwelt herzustellen, und von diesem Augenblick an wird ihm alles leicht, begeisternd, lebendig. […] Erst wenn während einer solchen Empfänglichkeitsperiode die entsprechende Fähigkeit errungen worden ist, senkt sich ein Schleier der Gleichgültigkeit und Müdigkeit über die Seele des Kindes (Montessori 1999, 49f).
Innere Sensitivitäten, Phasen erhöhter Aufnahmebereitschaft für bestimmte äußere Reize, lenken das Interesse des Kindes auf Objekte, welche Erfahrungen ermöglichen, die es in einer bestimmten Entwicklungsphase für sein geistiges Wachstum benötigt. Zumindest in den frühen Entwicklungsphasen folgt das Kind also unbewusst einem inneren natürlichen Entwicklungsprogramm (Fuchs 2003, 60f).
Das Kind braucht eine angepasste, anregende Umgebung, um die notwendigen Erfahrungen gemäß des inneren Bauplans machen zu können. Montessori vertraut darauf, dass das Kind intuitiv seine Bedürfnisse erkennt und beim Vorhandensein eines entsprechenden Angebots auch zu befriedigen vermag. Weil das Kind weiß, was es für seine Entwicklung braucht, darf es in der vorbereiteten Umgebung frei wählen mit welchen Gegenständen es sich beschäftigen mag (Montessori 1999, 125f).
Unter der vorbereiteten Umgebung versteht Montessori die pädagogische Gestaltung eines den Anforderungen und Bedürfnissen des Kindes angepassten Umfelds (Montessori 1972, 198ff).
Im Lebensraum des Kindes sollen Rahmenbedingungen geschaffen werden, welche eine systematische Schulung der Sinne ermöglichen:
Als erstes muß das Kind den Weg und die Mittel zur Konzentration finden, die die Grundlagen des Charakters und das soziale Verhalten stabilisieren. Die Bedeutung der Umgebung dafür wird plötzlich offenbar; denn da niemand dem Kind von außen die Konzentration und die Gestaltung seiner Psyche geben kann, muß es dies von sich aus tun (Montessori 1972, 199).
Erstmals umgesetzt hat Montessori ihr Konzept der vorbereiteten Umgebung in der Casa dei bambini, dem Kinderhaus.
Die Erziehung erfolgt im Kinderhaus nicht nur durch die Lehrerin, sondern durch die Umgebung, die Materialien und die weitgehend selbständige Auseinandersetzung des Kindes mit dem Umfeld (Heiland 1991, 50).
Einrichtungsgegenstände sollen den kindlichen Kräften und Dimensionen in Größe und Form angemessen sein; den besonderen motorischen Bedürfnissen kleiner Kinder muss Rechnung getragen werden (Montessori-Vereinigung 1992, 9).
Die Umgebung soll ansprechend und freundlich gestaltet sein, Interesse wecken und zur Aktivität einladen. Kunst- und Schmuckgegenstände sprechen den kindlichen Sinn für Ästhetik und Schönheit an und schaffen eine freundliche Atmosphäre (Montessori-Vereinigung 1992, 9).
Das Kind kann sich in der vorbereiteten Umgebung frei bewegen und seinen inneren Impulsen folgen (Heiland 1991, 54). Zentraler Bestandteil der vorbereiteten Umgebung ist das didaktische Material (siehe Kapitel 3).
Montessori unterscheidet zwei verschiedene Naturen des Kindes: Eine normale und eine deviante (Montessori 1972, 180-185).
Als deviant bezeichnet sie Kinder die launisch, unordentlich, schüchtern oder faul sind. Diese Verhaltensweisen stehen ihrem Verständnis nach einer erfolgreichen Entwicklung der Persönlichkeit und des Geistes der Kinder im Wege (Montessori 1972, 182).
Als Ursache für die Devianz macht Montessori eine gescheiterte bzw. unvollständige Entwicklung des geistigen Embryos verantwortlich. Im Alter von etwa drei Jahren müssen Montessori zu Folge die embryonalen Entwicklungen gemeinsam wirken und sich in den Dienst der Personalität stellen. Scheitert diese Integration, so entwickeln sich die einzelnen Teilbereiche unkoordiniert und weichen von einer natürlichen Entwicklung ab (Montessori 1972, 182).
Durch Normalisation sollen die Kinder „zu der Führung durch die Gesetze der Natur“ zurück finden (Montessori 1966, 49). Normalisation vollzieht sich durch die Koordinierung der gesamten kindlichen Aktivität, und äußert sich im Phänomen der Konzentration. Ein Kind kann dann als normalisiert bezeichnet werden, wenn es sich nicht mehr von äußeren Faktoren bestimmen lässt und stattdessen seiner inneren Natur gehorcht (Böhm 1977, 117f).
Mit anderen Worten ist Normalisation die Fähigkeit eines Menschen, Konzentration und Aktivität auf die Durchführung eines bestimmten, dem eigenen Vermögen angemessenen Vorgangs zu lenken (von Oy 1987, 20).
Ein Kind, das konzentriert arbeitet, versinkt gleichsam und entfernt sich von der äußeren Welt. Nichts kann seine Arbeit stören, und hört die Konzentration auf, so geschieht es durch einen inneren Vorgang. Dann scheint das Kind nicht ermüdet, sondern ausgeruht und freudig. Beim kleinen Kind zeigt sich die Konzentration immer nur in Verbindung mit einem äußeren Gegenstand. Sie kann sich noch nicht von der Umgebung lösen (Montessori 1967a, 34).
Das Schlüsselerlebnis Montessoris, welches zur Entdeckung der Polarisation der Aufmerksamkeit führte, wird in der Literatur an zahlreichen Stellen geschildert:
Im Kinderhaus beobachtete Montessori ein kleines, etwa drei Jahre altes Mädchen, das tief versunken war in die Beschäftigung mit einem Einsatzzylinderblock. Wieder und immer wieder führte das Kind die Übung aus und ließ sich dabei auch nicht durch bewusste Ablenkungsversuche irritieren. Montessori zählte über 40 Durchführungen der Übung. Nachdem das Kind vom Material abließ, schien es ausgeruht und glücklich (Montessori 1967b, 17f).
In der tiefen, fokussierten Aufmerksamkeit vermutet Montessori einen Akt der Organisation und Strukturierung des Geistes. Sie vergleicht die durchdringende Konzentration mit dem Kristallisationspunkt einer gesättigten Lösung, welcher den Ausgang bilden kann für einen großen, geordneten Kristall (Montessori 1967b, 17-22).
Um gezielt das Phänomen der vollständigen Konzentration zu begünstigen, erdenkt Montessori für ihre Kinderhäuser eine geordnete, anregende Umgebung mit Materialien, die das kindliche Interesse auf sich ziehen: Die vorbereitete Umgebung und das didaktische Material entstehen.
Montessori sucht gezielt nach Faktoren, die das Phänomen der vollständigen Aufmerksamkeit begünstigen. Sie erkennt dabei die positive Wirkung der vorbereiteten Umgebung. Die Ordnung des Umfelds hält Ablenkungen und störende Reize von den Kindern fern. Die klare Strukturiertheit ermöglicht eine intensive Auseinandersetzung mit dem didaktischen Material.
Auf der Suche nach einer Methode zur Erziehung geistig behinderter Kinder stößt Montessori auf das sinnesphysiologische Material des französischen Arztes Seguin (Hellbrügge 1978a, 38f).
Für sein Konzept der physiologischen Erziehung der Schwachsinnigen stellte Seguin die folgenden Thesen auf (zitiert nach Hänsel 1974):
1) Die Sinne und jeder einzelne können besonderer physiologischer Schulung unterworfen werden, durch die ihr ursprüngliches Vermögen unbegrenzt intellektualisiert wird.
2) Ein Sinn kann als Mittel der Auffassung und intellektuellen Kultur an Stelle eines anderen gesetzt werden.
3) Die physiologische Übung eines Sinnes verstärkt das Funktionieren und bereitet das Erwerben eines anderen vor.
4) Unsere abstraktesten Ideen sind Vergleiche und Generalisierungen dessen, was unser Geist mittels unserer Sinne wahrgenommen hat.
5) Die Perzeptionsweise ausbilden heißt Nahrung für den Geist selbst vorbereiten.
6) Empfindungen sind intellektuelle Funktionen, die durch äußere Mittel umgeformt werden, ebenso wie Urteil Einbildung etc. durch eigene Veranlassung.
Beeindruckt von diesen Thesen modifiziert und erweitert Montessori die Materialien Seguins und unterzieht diese wissenschaftlichen Untersuchungen. Das didaktische Material – auch wissenschaftliches Material oder schlicht Montessori-Material genannt - entsteht (Hellbrügge 1978a, 36ff).
Wie auch Seguin glaubt Montessori, dass die psychische Entwicklung des Kindes durch äußere Erfahrungen und Reize beeinflusst werden kann: „Die physiologische Sinnesbildung ist der königliche Pfad zur Bildung der Intelligenz. Erfahrung nicht Gedächtnis ist die Mutter der Idee.“[1]
Das didaktische Material ist der systematische Versuch, dem Kind Gegenstände und Übungen zur Verfügung zu stellen, welche ihm über die Schulung der Sinne die Entwicklung seines Intellekts und seiner Persönlichkeit ermöglichen sollen. Montessori bezeichnet das Material deshalb als „Schlüssel zur Welt“[2]:
Das kleine Kind hat das intensive Bedürfnis nach tätigen Sinneseindrücken. Wir bieten dem Kind Gegenstände dar, die ihm Möglichkeiten geben, viel klarer und leichter zu einer Befriedigung dieses Bedürfnisses zu kommen. Wir wissen, daß das Kind mit all seinen Sinnesorganen die Umgebung erforscht und die Bilder mit Auswahl in sich aufnimmt und ordnet. Da wir aber auch wissen, daß die zu komplizierte Umgebung, die viele ungeordnete Reize bringt, dem Kind die geistige Arbeit erschwert, kommen wir ihm zu Hilfe, indem wir ihm Bilder darbieten, die geordnet sind und ihm bei der Ordnung helfen (Montessori 1967a, 32).
Die Beschreibung der didaktischen Materialien und deren Anwendung ist nicht Inhalt dieser Arbeit. Eine detaillierte Einführung bietet das Buch Montessori-Material der Montessori-Vereinigung (1992).
[...]
[1] Seguin in einer Rede über die physiologische Methode.
[2] Maria Montessori 1931 auf einem Kongress in Rom
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