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Mehr InfosBachelorarbeit, 2013, 50 Seiten
Bachelorarbeit
1,3
Im Verlauf der letzten 15 Jahre haben sich unzählige Studien und Theorien im Bereich der erinnerungskulturellen Forschung derart akkumuliert, dass der Versuch, einen umfassenden Überblick über die verschiedensten Konzepte zu bewahren, zu einem gewagten Vorhaben wurde. Vor dem Hintergrund der immensen Ausdehnung des Gedächtnis-Themas auf interdisziplinäre Bereiche entsteht eine oftmals verwirrende Heterogenität der Begriffe und Konzepte. Astrid Erll unternimmt in ihrer 2005 erschienenen Monografie Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen dennoch den Versuch, einen Überblick über den umfassenden Forschungsbereich zu geben. Dabei bezeichnet sie die Erinnerungspraxis und ihre Reflexion als ein gesamtkulturelles, internationales und interdisziplinäres Phänomen, das eine übergreifendende Verbindung zwischen den verschiedenen Wissenschaftszweigen darstellt (vgl. Erll 2011: 1f.). Um den Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht zu sprengen, werden im Folgenden nur einzelne, für die Analysen relevante Aspekte der erinnerungskulturellen Forschung, näher erläutert.
Der Ursprung der kulturwissenschaftlichen Forschung ist auf die 1920er Jahre zurückzuführen. Dabei haben sich vor allem die von Maurice Halbwachs sowie Aby Warburg veröffentlichten Studien zu kollektiven Erinnerungs- und Gedächtnisprozessen als prägend erwiesen (vgl. Erll 2011: 16). In seiner einflussreichen Veröffentlichung wie La mémoire collective (Das kollektive Gedächtnis, 1967) konzipiert der französische Philologe und Philosoph Maurice Halbwachs die Erinnerung als ein kollektives, soziales Phänomen, womit er sich deutlich von der zeitgenössischen Auffassung der individuellen Erinnerungen abgrenzt und zum ersten Mal das Hauptaugenmerk auf „die soziale Bedingtheit der Erinnerung“ (Erll 2011: 16) richtet. In Anlehnung an Halbwachs führt Astrid Erll (Erll 2011: 17) an, dass jedes Individuum in seinem Erinnerungsprozess auf die Mitmenschen, die den eigentlichen sozialen Bezugsrahmen bilden, angewiesen ist. Denn nur in einem sozialen Kollektiv bekommt das Individuum den Zugang zur Sprache, den Sitten und bestimmten Denkschemata, die als kollektive Phänomene gelten und wird fähig, eigene Erinnerungen zu bilden (vgl. ebd.). Das individuelle sowie das kollektive Gedächtnis sind wechselseitig verbunden. Der Soziologe Maurice Halbwachs (Halbwachs 1967: 31) veranschaulicht diesen Aspekt wie folgt:
Wenn überdies das kollektive Gedächtnis seine Kraft und seine Beständigkeit daraus herleitet, daß es auf einer Gesamtheit von Menschen beruht, so sind es indessen Individuen, die sich als Mitglieder der Gruppe erinnern.
Die Erinnerungen eines einzelnen Individuums sind, nach Halbwachs somit, von seiner Gruppe abhängig. Besonders deutlich wird es an seiner Ausführung: „Wir würden sagen, jedes individuelle Gedächtnis als ein ‚Ausblickspunkt‘ auf das kollektive Gedächtnis; […]“ (ebd.).
Trotz all der in den vergangenen Jahren vorgenommenen Ausdifferenzierungen und Weiterentwicklungen des Konzepts von Halbwachs lassen sich zwei wesentliche Charakteristiken des Gedächtnisprozesses anführen, die für das weitere Verständnis relevant sind: seine Gegenwartsbezogenheit und Konstruktivität (vgl. Erll 2011: 7). Astrid Erll betont in ihren Ausführungen mehrfach den Gegenwartsbezug des Erinnerungsprozesses, der nicht als bloße Nachbildung der Vergangenheit, sondern als das Ergebnis des gegenwärtigen Kontextes des Erinnernden zu verstehen ist (vgl. ebd.; Erll 2004b: 116). Darüber hinaus betont die Literaturwissenschaftlerin die Subjektivität und die hochgradige Selektivität des kollektiven Gedächtnisses, da es abhängig von der gegenwärtigen Abrufsituation verschiedene Vergangenheitsversion rekonstruiert (vgl. Erll 2011: 25). Aleida Assmann (Assmann 2007: 25) pointiert ebenfalls, dass Erinnerungen mit den Bewertungsmustern der Individuen, die sich im Zeitablauf verändern, mitwandeln. Demnach werden sie im kollektiven Gedächtnis abhängig von den aktuellen Bewertungsmustern aktiv konstruiert und nicht bloß abgebildet, denn erst durch Verdichtungsprozesse und Bedeutungszuschreibungen entwirft das kollektive Gedächtnis Vergangenheitsversionen (vgl. Erll 2004b: 121ff.).
Des Weiteren ist folgende Eigenschaft des kollektiven Gedächtnisses zu betonen: seine mediale Vermittlung. Die Gedächtnisinhalte einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft können nicht vererbt und müssen daher an weitere Generationen tradiert werden. Demgemäß erfordern sie bestimmte Medien zur Speicherung und Übertragung der Gedächtnisinhalte. Beispielsweise können mündliche und schriftliche Kommunikation, Bücher, Filme, Monumente, Denkmäler usw. solche Medien darstellen (vgl. Erll 2004a: 4).
Aufbauend auf Halbwachs haben Aleida und Jan Assmann ein Konzept des kollektiven Gedächtnisses entworfen, das die zentrale Bedeutung der Medien hervorhebt. Dieses theoretische Konstrukt wird im Folgenden in seinen Grundzügen dargelegt.
Das Konzept von Aleida und Jan Assmann geht von einer Unterteilung des kollektiven Gedächtnisses in zwei unterschiedliche Modi aus: das kulturelle und kommunikative Gedächtnis. In dem Aufsatz „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“ (Assmann 1988) charakterisiert und systematisiert Jan Assmann die beiden Gedächtnis-Ebenen, die hier gegenübergestellt werden sollen.
Die Ebene des kommunikativen Gedächtnisses basiert auf der Alltagsinteraktion mit Zeitgenossen und hat größtenteils zeitnahe Geschichtserfahrung und eigene Biografie zum Gegenstand. Auf der kommunikativen Ebene wandern die Gedächtnisinhalte mit ihren lebendigen Trägern mit, wodurch sie sich mit den wechselnden Generationen stets verändern. Daher ist der Zeithorizont des kommunikativen Gedächtnisses begrenzt und umfasst etwa 80 bis 100 Jahre. Darüber hinaus existieren keine festen Bedeutungszuschreibungen und keine Bevorzugungen bestimmter Erinnerungen. Der kommunikative Gedächtnisrahmen lässt sich somit als ungeformt, alltagshaltig, instabil, fragmentarisch und hierarchielos beschreiben (vgl. Assmann 1988: 10f.)[1].
In Abgrenzung dazu konstituiert sich das kulturelle Gedächtnis aus „transferierbaren und tradierbaren kulturellen Objektivationen wie Symbolen, Artefakten, Medien und Praktiken sowie deren Institutionen“ (Assmann 2007: 33). Diese Medien stellen die Träger des kollektiven Gedächtnisses dar, wodurch seine potenziell unendliche Überlebensdauer sichergestellt wird. Es ist somit nicht mehr auf die sterblichen Individuen und deren kurze Lebensspanne angewiesen (vgl. ebd.). Demnach sind es die symbolischen Medien wie Texte, Bilder, Riten, Denkmäler, Museen, Monumente usw., die als Stütze des kollektiven Gedächtnisses dienen und ihm eine langfristige Überlebensdauer verleihen (vgl. ebd.: 32). Während die Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses sich größtenteils auf den Alltag und die nahe Vergangenheit beziehen, ist das kulturelle Gedächtnis in das Zeithorizont einer fernen Vergangenheit zu verorten (vgl. Assmann 1988: 12).
Aleida Assmann (Assmann 2007: 33 f.) hebt in ihrer 2007 erschienenen Monografie Der lange Schatten der Vergangenheit. die unterschiedlichen Rollen der Medien in den jeweiligen Gedächtnisrahmen hervor. Während die materiellen Datenträger auf der Ebene des kommunikativen Gedächtnisses als dessen Stütze fungieren und die Menschen die Träger der Gedächtnisinhalte darstellen, wendet sich das Verhältnis auf der kulturellen Ebene. Die Medien werden zu Trägern und die Individuen dienen als Stütze des Gedächtnisses, da sie die überlieferten Medieninhalte und Symbole immer wieder aktualisieren und ihren Sinn neu interpretieren müssen (vgl. ebd.). Die Literaturwissenschaftlerin bezeichnet die medialen Träger im Modus des kulturellen Gedächtnisses als „stumme Zeugen der Vergangenheit“ (Assmann 2007: 54), da sie auf die Individuen, die sich diese aneignen und neu deuten müssen, angewiesen sind.
Angesichts der Heterogenität der erinnerungskulturellen Konzepte, die die kulturwissenschaftliche Forschung hervorgebracht hat, ist der Begriff Erinnerungskultur nicht eindeutig festgelegt. Daher soll an dieser Stelle eine für diese Arbeit geeignete Definition des Begriffs ausgewählt werden.
Eine mögliche, den folgenden Analysen dienliche Abgrenzung stellt die von Mathias Berek (Berek 2009) im Rahmen seines Werkes, Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen, vorgenommene Definition dar. Berek definiert Erinnerungskultur als „die Gesamtheit aller Phänomene menschlicher Gesellschaft, die einen gemeinsamen Umgang mit Vergangenheit zum Inhalt haben“ (Berek 2009: 38). Dabei existieren nach dieser Auffassung des Begriffs parallel mehrere Erinnerungskulturen einer Gesellschaft nebeneinander, die ebenfalls in Konkurrenz stehen können (vgl. ebd.).
In den nächsten beiden Kapiteln soll auf die Rolle des Symbolsystems Literatur im kollektiven Gedächtnis eingegangen werden. Welche Besonderheiten weisen literarische Werke im Vergleich zu anderen Medien und Symbolsystemen des kulturellen Gedächtnisses auf und welche Funktionen erfüllen sie im erinnerungskulturellen Kontext? Diese Fragen sollen im Rahmen des nächsten Kapitels beantwortet werden.
Das in Grundzügen vorgestellte Konzept des kollektiven Gedächtnisses nach Aleida und Jan Assmann hat bereits die existenzielle Rolle der Medien für das kommunikative wie für das kulturelle Gedächtnis verdeutlicht. Sie können sowohl die Funktion der Stütze als auch die der Träger des kollektiven Gedächtnisses übernehmen. Allerdings werden literarische Texte in diesem medientheoretischen Konzept mit anderen Symbolsystemen wie der Geschichtsschreibung, dem Bild, der Alltagserzählung, usw. gleichgesetzt, wodurch ihr besonderes Leistungsvermögen ausgeblendet wird (vgl. Neumann 2005: 170). Daher soll der vorliegenden Arbeit das Konzept der „Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses“ (Erll 2005: 249) von Astid Erll zu Grunde liegen, da sich daran die besondere Rolle und Funktion von Literatur im erinnerungskulturellen Kontext konkretisieren lässt. Erll betont, dass Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses ubiquitär ist: „[…] Texte aller Gattungen und Genres, sowohl die populäre ›Trivialliteratur‹ als auch die kanonisierte ›Hochliteratur‹ dienten und dienen als Medien des kollektiven Gedächtnisses.“ (Erll 2011: 173).
Literarische Texte zeichnen sich von anderen Symbolsystemen durch bestimmte Eigenschaften aus und entfalten dadurch ihre besondere Rolle im erinnerungskulturellen Kontext. In diesem Zusammenhang führt Astrid Erll (ebd.: 177 ff.) drei wesentliche distinktive Merkmale des Mediums Literatur an, die im Weiteren dargelegt werden: fiktionale Privilegien und Restriktionen, Interdiskursivität sowie Polyvalenz.
Der Begriff fiktionale Privilegien im Zusammenhang mit Literatur ist bereits von Ansgar Nünning in seinem Aufsatz „Literarische Geschichtsdarstellung: Theoretische Grundlagen, fiktionale Privilegien, Gattungstypologie und Funktionen“ eingeführt worden. Schon allein durch seinen Status ist dem Symbolsystem Literatur quasi per gesellschaftlicher Übereinkunft der Rückgriff auf Fiktionalität und Imaginäres vorbehalten (vgl. Erll 2011: 177). Anders als die Geschichtsschreibung sind literarische Darstellungen von Vergangenheit nicht auf Verweise bestimmter nachprüfbarer Quellen angewiesen und haben daher die Möglichkeit sich auf solche Bereiche der Vergangenheit zu beziehen, die der Historie verwehrt bleiben. (vgl. Nünning 2005: 40). Durch die Integration fiktiver Elemente, Ereignisse, Innenweltdarstellungen sowie unterschiedlicher Perspektiven eröffnen sich dem Medium Literatur vielfältige Möglichkeiten, die Vergangenheit zu konstruieren und neue Perspektiven in das kollektive Gedächtnis einzuschließen (vgl. Erll 2005: 258). Außerdem erlaubt die Fiktion, dargestellte Orte, Gegenstände, Zeitstrukturen mit bestimmten Bedeutungen aufzuladen und somit neue Sinnstiftungen zu bewirken (vgl. Nünning 2005: 50f.).
Durch die Interdiskusivität heben sich literarische Texte vor allem von den anderen, wissenschaftlichen Medien ab, da sie eine breite Diskursvielfalt des kollektiven Gedächtnisses in die Vergangenheitsdarstellung einbeziehen können und somit eine Vielzahl von unterschiedlichen Perspektiven und Deutungen in die Erinnerungskultur einspeisen (vgl. Erll 2011: 178).
Schließlich kann durch die Polyvalenz die der kollektiven Gedächtnisbildung eigene Verdichtungsleistung im Medium der Literatur verstärkt werden, wodurch literarische Vergangenheitsdarstellungen komplexe und mehrdeutige Strukturen aufweisen können (vgl. Erll 2011: 178).
Daran wird deutlich, dass literarische Texte sich von vielen anderen Medien auszeichnen, da sie über ein breites Spektrum von Möglichkeiten verfügen, Inhalte des kollektiven Gedächtnisses zu vermitteln und diese auf unterschiedliche Weise darzustellen.
Des Weiteren hat Erll (2011: 196) in ihrem Konzept zwei bedeutende Funktionspotenziale literarischer Texte verdeutlicht: die der Gedächtnisbildung und die der Gedächtnisreflexion.
Die Funktion der Gedächtnisbildung entsteht, vereinfacht erklärt, dadurch, dass die literarisch konstruierten Vergangenheitsversionen die Vorstellungen der Individuen über die Vergangenheit prägen und persönliche Erinnerungen beeinflussen können (vgl. ebd.). Ein ausführliches Modell, welches die Prozesse der literarischen Vergangenheitskonstruktion veranschaulicht und die Wechselwirkung der Literatur mit dem erinnerungskulturellen Kontext aufzeigt, ist das von Erll (2011: 179; 2004: 122) weiterentwickelte Modell des Kreises der Mimesis von Paul Ricouer. Dieses besteht aus drei verschiedenen Stufen der Mimesis, in denen der literarische Prozess in seiner Wechselbeziehung zur Erinnerungskultur dargestellt wird.
In der ersten Stufe (Mimesis I) erfolgt die erinnerungskulturelle Präfiguration, die den literarischen Bezug auf die außertextuelle Wirklichkeit verdeutlicht. Die Literatur kann dabei aufgrund ihrer erläuterten Privilegien auf faktisch nicht belegte Elemente sowie unterschiedliche Wertmuster zugreifen, wodurch sie neue Perspektiven auf vergangene Geschehnisse einschließt (vgl. Erll 2011: 181)[2].
In der zweiten Stufe (Mimesis II) erfolgt die „Konfiguration fiktionaler Erinnerung“ (ebd.:182). Dabei werden die in der Mimesis I ausgewählten Elemente im Medium der literarischen Fiktion konfiguriert, verändert und mit zusätzlicher Bedeutung angereichert. Bei der literarischen Konfiguration handelt es sich um einen konstruktiven Prozess, daher schlägt Erll vor, in diesem Zusammenhang von einer „Poesis“ zu sprechen (vgl. Erll 2011: 182)[3].
Schließlich erfolgt auf der letzten Stufe des Modells (Mimesis III) die kollektive Refiguration, die auf dem Rezeptionsakt durch den Leser basiert. Die in der zweiten Stufe der Mimesis angereicherte Bedeutung und Symbolik muss durch die Individuen in der Wirklichkeit wieder enkodiert werden. Damit die literarischen Inszenierungen von Vergangenheit ihre Wirkung in der Erinnerungskultur entfalten können, müssen sie von der Leserschaft in breitem Maße rezipiert werden (vgl. ebd.:183)[4]. Von den möglichen Funktionen der Literatur werden im Rezeptionsprozess nicht alle realisiert, daher stellen literarische Texte lediglich Funktionsangebote dar (vgl. Neumann 2003: 171).
An diesem vereinfacht dargestellten Modell wird deutlich, dass der literarische Prozess – analog den Eigenschaften des kollektiven Gedächtnisses– als ein konstruktiver, gegenwartsbezogener Vorgang verstanden werden kann, der somit ebenfalls das Potenzial bestimmter Welt- und Vergangenheitserzeugung aufweisen und zur Gedächtnisbildung beitragen kann (vgl. Erll 2004b: 122).
Das literarische Funktionspotenzial der Gedächtnisreflexion ermöglicht eine Beobachtung der Erinnerungskulturen und der Prozesse des kollektiven Gedächtnisses (vgl. Erll 2011: 197). Es kann zwischen der Beobachtung erster und zweiter Ordnung unterschieden werden (vgl. ebd.). Einerseits ermöglicht das Medium der Literatur dem Leser, die in ihm dargestellte Vergangenheit zu beobachten. Andererseits sind in den fiktionalen Texten, wie zum Beispiel in den kritischen Erinnerungsromanen, durch die selbstreflexiven Verweise auf die Erinnerungspraktiken Gedächtnisprozesse zu beobachten (vgl. ebd.). Diese Möglichkeit literarischer Texte, Prozesse und Funktionsweisen des kollektiven Gedächtnisses zu veranschaulichen und kritisch zu hinterfragen, kann als ein weiteres Privileg des Symbolsystems Literatur angesehen werden (vgl. Neumann 2003: 169). Die beiden Funktionspotenziale schließen sich keineswegs aus und können somit beide gleichzeitig in unterschiedlichem Verhältnis präsent sein (vgl. Erll 2011: 197f.).
Astrid Erll hat in ihrem Konzept „Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses“ nicht nur die Funktionspotenziale literarischer Texte im erinnerungskulturellen Kontext dargelegt, sondern auch eine Methode entwickelt, mit der sich diese möglichen erinnerungskulturellen Funktionen an der narrativen Form der Vergangenheitsdarstellungen untersuchen lassen. In ihrer 2003 veröffentlichten Monografie Gedächtnisromane entwickelt sie das Konzept der „Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses“, das der vorliegenden Arbeit als methodische Grundlage dienen soll und im nächsten Kapitel vorgestellt wird.
Im letzten Jahrzehnt ist der hohe Erkenntnisgewinn der Erzählforschung, die auf der methodischen Untersuchung des Aufbaus, der Struktur sowie der Darstellungsform von epischen Texten beruht, für erinnerungskulturelle Konzepte von vielen Wissenschaftlern dargelegt und veranschaulicht worden (vgl. Neumann 2003: 164). Unter der Einbeziehung erzähltheoretischer Methoden können implizite, semantisierte literarische Darstellungen entschlüsselt und in Hinblick auf ihre erinnerungskulturelle Funktion interpretiert werden. In diesem Sinne ist das von Astrid Erll entwickelte Konzept Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses zu verstehen. Die Literaturwissenschaftlerin baut ihr methodisches Konstrukt auf dem Konzept des kollektiven Gedächtnisses von Aleida und Jan Assmann auf und verknüpft erzähltheoretische und erinnerungskulturelle Aspekte miteinander (vgl. Erll 2005: 267). Dieses beruht auf der Annahme, dass es unter anderem von der Darstellung der Texte abhängt, wie sie als Medium funktionalisiert werden, also ob und welches gedächtnismediale Funktionspotenzial (Gedächtnisbildung oder Gedächtnisreflexion) eines Werks im Rezeptionsprozess (Mimesis III) aktualisiert wird (vgl. Erll 2011: 202). Dafür definiert Erll fünf Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses, welche durch ein breites Spektrum an literarischen Darstellungsverfahren erzeugt werden können (vgl. ebd.). Diese werden im Folgenden nur in Ansätzen vorgestellt, da sie im praktischen Teil der Analyse wiederaufgegriffen werden.
Erfahrungshaftiger Modus: die Darstellung erfolgt hier „als Gegenstand des alltagsweltlichen kommunikativen Gedächtnisses“ (Erll 2011: 202). Es werden Vergangenheitsversionen vor allem als Lebensweisen und Erfahrungen einer bestimmten Gruppe und Ereignisse einer nahen Vergangenheit wie Revolutionen, Kriege oder Terror konstruiert. Das Erzählte wird in diesem Modus als eine gelebte Erfahrung dargeboten, wobei der Fokus auf der Wahrnehmung und dem Handeln der einzelnen Individuen liegt. Alltägliche Details und Ereignisse werden einbezogen und typische Inhalte des kommunikativen und individuell autobiografischen Gedächtnisses aufgeführt. Dabei dominiert eine solche Darstellungsweise der Ereignisse, die den Eindruck der Authentizität, der Erfahrungshaftigkeit und der Alltagsnähe suggeriert (vgl. ebd.: 203; 208)[5].
Monumentaler Modus: das Dargestellte erscheint als Gegenstand des kulturellen Gedächtnisses, da hier solche Darstellungsverfahren eingesetzt werden, die das Erzählte auf eine sinnstiftende, wertende Weise inszenieren, um den Fernhorizont der Kultur zu beeinflussen (vgl. ebd.)[6].
Historisierender Modus: es dominiert hier eine Darstellungsweise, die die Ereignisse als Teil der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung und somit einer abgeschlossenen Vergangenheit erscheinen lässt (vgl. ebd.:202).
Antagonistischer Modus: auf dieser Ebene werden Konkurrenzbeziehungen zwischen den Erinnerungskulturen dargestellt. Dominierend erweist sich die Inszenierung von „Gegen-Erinnerungen“ (ebd.:212) anderer Gruppen sowie die Erzeugung von Selbstbildern und Wertehierarchien, die der dominierenden Erinnerungskultur konträr sind (vgl. ebd.: 212). Die für jedes Gedächtnismedium typische Selektivität, Perspektivität und Standortgebundenheit wird in der Darstellungsweise des antagonistischen Modus potenziert. Somit sind literarische Werke in diesem Modus stark perspektivisch, kategorisch und standortgebunden. Sie können im Rahmen des fiktionalen Erzählens bestehende Erinnerungen bewusst forcieren oder auflösen und durch neue ersetzen (vgl. ebd.: 212-216).
Reflexiver Modus: dieser Modus grenzt sich von den bisherigen insofern ab, als dass er nicht zum Funktionsbereich der Gedächtnisbildung, sondern der Gedächtnisreflexion gehört. Durch die Darstellung von Funktionsweisen und Problemen der kollektiven Gedächtnisprozesse ermöglicht der reflexive Modus dem Leser eine erinnerungskulturelle Beobachtung zweiter Ordnung. Häufig geht der reflexive Modus in Verbindung mit dem antagonistischen einher, da mit der Offenlegung der Funktionsprozesse des kollektiven Gedächtnisses die Darstellung der unterschiedlichen Konkurrenzverhältnisse erfolgt (vgl. ebd.: 218-222)[7].
Die einzelnen Modi des kollektiven Gedächtnisses kommen selten in einer Reinform vor, meist treten sie in unterschiedlichen Dominanzverhältnissen nebeneinander auf. Durch die Zuordnung der literarischen Texte zu den einzelnen vorherrschenden Modi können ihre unterschiedlichen Funktionspotenziale offenbart werden. So kann die Literatur beispielsweise im erfahrungshaftigen Modus zur Gedächtnisbildung innerhalb des kommunikativen Gedächtnisrahmens beitragen und im historisierenden Modus die Vorstellungen von bestimmten Geschichtsereignissen mitprägen (vgl. ebd.: 223).
Allerdings ist zu beachten, dass die Modi nur auf mögliche, aufgrund der Rhetorik der Texte, entstehende Funktionspotenziale hinweisen. Ob sie tatsächlich eine bestimmte Funktion entfalten und als Medien rezipiert werden, kann nur unter der genauen Analyse ihrer Wirkung in der jeweiligen Erinnerungskultur gesagt werden (vgl. ebd.: 201).
Auch wenn die Methode der erzähltheoretischen Analyse im Hinblick auf die erinnerungskulturellen Aussagen den Eindruck eines rein textbezogenen Verfahrens erweckt, so darf diese keinesfalls so aufgefasst werden. Diese Methodik ist nur mit Blick auf den geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext sowie die Kenntnis der außertextuellen Erinnerungskultur sinnvoll (vgl. ebd.: 225).
Im Folgenden wird die literarische Thematisierung des Attentats auf Carrero Blanco im Detektivroman Demasiado para Gálvez von Jorge Martínez Reverte und anschließend im Erinnerungsroman Viví años de tormenta von Fernando Schwartz analytisch untersucht. Unter Anlehnung an das dargelegte erzähltheoretische Konzept, soll anhand der Analyse der literarischen Darstellungsmittel festgestellt werden, ob und welche Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses die Inszenierungen jeweils aufweisen.
Um einen besseren Überblick zu gewährleisten, werden die Analysen nach den einzelnen relevanten Untersuchungsaspekten gegliedert. Mit dem Ziel die außerliterarischen Bezüge der Romane zur ihren zeitgenössischen Erinnerungskulturen aufzuzeigen, werden vor der eigentlichen literarischen Analyse die wesentlichen Gattungsmerkmale dargelegt und der Entstehungshintergrund in Grundzügen beleuchtet.
In dem an die beiden Analysekapitel anschließenden Vergleich werden die wesentlichen Analyseergebnisse der beiden Romane zusammengefasst und kontrastiv gegenübergestellt.
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[1] Diese Quellenangabe bezieht sich auf den gesamten Absatz.
[2] Diese Quellenangabe bezieht sich auf den gesamten Absatz.
[3] Diese Quellenangabe bezieht sich auf den gesamten Absatz.
[4] Diese Quellenangabe bezieht sich auf den gesamten Absatz.
[5] Diese Quellenangabe bezieht sich auf den gesamten Absatz.
[6] Diese Quellenangabe bezieht sich auf den gesamten Absatz.
[7] Diese Quellenangabe bezieht sich auf den gesamten Absatz.
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