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Mehr InfosBachelorarbeit, 2013, 86 Seiten
Bachelorarbeit
1,3
1. Einleitung
2. Die Bedeutung des Sports
2.1 Sport für die Gesellschaft
2.2 Der Sportverein
3. Entstehung und Bedeutung ethnischer Sportvereine
3.1 Entstehung selbstorganisierter Migrantenvereine
3.2 Entstehung ethnischer Sportvereine
3.3 Bedeutung von ethnischen Sportvereinen
3.3.1 Charakteristische Merkmale ethnischer Sportvereine
3.3.2. Partizipationsmotive der MitgliederInnen ethnischer Sportvereine
4. Ethnische Sportvereine und ihre Auswirkungen auf die interethnischen Beziehungen
4.1 Was heißt Integration?
4.2 Was heißt Segregation?
4.3 Integrations- bzw. Segregationstendenzen ethnischer Sportvereine
4.3.1 Auswirkungen auf den Vereinssport
4.3.2 Auswirkungen auf die Gesellschaft
5. Anforderungen an die Soziale Arbeit
6. Schlussbetrachtung
Tabellenverzeichnis:
Literaturverzeichnis:
Die vorliegende Arbeit widmet sich folgender zentraler Fragestellung: Welches sind die Hintergründe der Entstehung ethnischer Sportvereine in Deutschland und welche Auswirkungen haben sie auf die interethnischen Beziehungen in Vereinssport und Gesellschaft?
Der Begriff interethnische Beziehungen bezieht sich in dieser Arbeit auf das Verhältnis von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft und Menschen mit Migrationshintergrund zueinander.
Bewusst sind beide Teilfragen zu einer übergeordneten Fragestellung zusammengefügt worden. In der Fachliteratur der Sport- bzw. der Migrationssoziologie fehlte bisher eine gemeinsame Behandlung der Entstehungsfrage und der Thematisierung einer Beeinflussung der interethnischen Beziehungen von ethnischen Sportvereinen.
Diese Arbeit zeigt jedoch auf, dass eine Beleuchtung des erstgenannten Aspektes für eine fundierte Erörterung der letztgenannten Thematik, unerlässlich ist.
Aktualität und Relevanz erhält das Thema dadurch, dass in den vergangenen Jahren von deutschlandweit erscheinenden Tageszeitungen mit zunehmender Häufigkeit über eskalierende Gewalt zwischen deutschen Sportvereinen und ethnischen Sportvereinen im Amateurfußball berichtet wird (vgl. Stern 2013). Diese Berichterstattung stellt dabei nahezu einstimmig die Spieler und Verantwortlichen ethnischer Fußballvereine als Täter und Auslöser dieser Zwischenfälle dar. Es ergibt sich dadurch ein Blickwinkel der ethnischer Sportvereine als integrationshinderlich und Auslöser einer interethnischen Problematik erscheinen lässt.
Im Rahmen dieser Arbeit soll sich mit dieser verallgemeinernden Beurteilung unter der Berücksichtung theoretischer Anknüpfungspunkte und empirischer Befunde kritisch auseinandergesetzt werden.
Auch für die Soziale Arbeit weist die Fragestellung dieser Arbeit Relevanz und Aktualität auf.
In den vergangenen Jahren hat sich die Sichtweise vieler Organisationen und Verbände der Sozialen Arbeit in Bezug auf selbstorganisierte Migrantenvereine und Migrantenselbstorganisationen verändert. Im zunehmenden Maße wird erkannt, dass selbstorganisierte Vereine und Organisationen von Menschen mit Migrationshintergrund Zugang zu Personengruppen finden, bei denen es der Sozialen Arbeit in den meisten Fällen nicht gelingt (vgl. Latorre/ Zitzelsberger 2011, 204ff.). Dennoch stellt eine systematische Kooperation von Trägern und Institutionen der Sozialen Arbeit mit diesem Vereins- bzw. Organisationstypus noch die Ausnahme dar. In diesem Zusammenhang kann diese Arbeit mit der Analyse der ethnischen Sportvereine weitere Argumente für oder aber Argumente gegen einen weiteren Ausbau der Zusammenarbeit mit selbstorganisierten Migrantenvereinen und -organisationen liefern. Um eine Grundlage für die Auseinandersetzung mit der übergeordneten Fragestellung dieser Arbeit zu schaffen, ist es im 2. Kapitel sinnvoll, zunächst die gesellschaftliche Bedeutung des Sports zu beleuchten. Aufgrund des Umfangs dieser Thematik und unter Berücksichtigung der Relevanz für die übergeordnete Fragestellung, wird sich dieses Kapitel auf die gesellschaftliche Bedeutung des Vereinsports in Deutschland beschränken. Es wird knapp die gesellschaftliche Rolle der Sportzuschauerthematik in Deutschland und anschließend ausführlicher die soziale Funktion des aktiven Sporttreibens in den deutschen Sportvereinen beleuchtet werden. Insbesondere auf die Integrationsleistung des Sportvereinswesens hinsichtlich der Menschen mit Migrationshintergrund wird in diesem Zusammenhang ein besonderer Schwerpunkt gelegt.
Der darauf folgenden Erörterung der Entstehungsgeschichte ethnischer Sportvereine in Deutschland im 3. Kapitel, wird für ein umfassenderes Verständnis die Gründung selbstorganisierter Migrantenvereine in Deutschland vorangestellt. So lässt sich aus der Darstellung des unterschiedlichen Gründungskontextes selbstorganisierter Migrantenvereine in den alten und in den neuen Bundesländern auf einen Bedingungsfaktor des gegenwärtigen zahlenmäßigen Ungleichgewichts ethnischer Sportvereine in beiden deutschen Regionen schließen.
Nachfolgend werden mit den charakteristischen Merkmalen und den Partizipationsmotiven der MitgliederInnen ethnischer Sportvereine, zwei wesentliche Bedeutungselemente dieses Vereinstypus aufgezeigt. Beide Komponenten eröffnen dabei wichtiges Hintergrundwissen für die im 4. Kapitel sich anschließende Beurteilung der integrativen und der segregativen Auswirkungen ethnischer Sportvereine auf die interethnische Beziehungsgestaltung im Vereinsport und in der Gesellschaft. Voraussetzung für eine derartige Analyse verschafft eine unter den Gliederungspunkten 4.1 und 4.2 zuvor sowohl terminologisch als auch theoretisch erfolgte Erläuterung der Begrifflichkeiten Integration und Segregation.
Im 5. Kapitel geht es auf der einen Seite darum deutlich zu machen, welche Bezugspunkte diese Arbeit zur Sozialen Arbeit aufweist. Auf der anderen Seite sollen gewonnene Erkenntnisse auf das Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit übertragen und daraus abgeleitete Anforderungen beschrieben werden.
Abschließend werden im 6. Kapitel die wichtigsten Befunde der vorliegenden Arbeit systematisch zusammengefasst, kritisch bewertet und Vorschläge zur Weiterführung des Themas gegeben.
Im Kapitel 2.1 wird der gegenwärtige gesellschaftliche Stellenwert des passiven Sports in Deutschland dargestellt. Zu diesem Zweck wird das so genannte „Massenphänomen Sport“ und sein sozialer, die Menschen verbindender Einfluss in Deutschland erörtert.
Das Kapitel 2.2 befasst sich dann mit der gesellschaftlichen Rolle des Sportvereins in Deutschland und damit einhergehend mit dem aktiven Sporttreiben. Die Integrationsleistung des organisierten Sports, mit einer Fokussierung hinsichtlich der Menschen mit Migrationshintergrund, wird dabei unter Berücksichtigung der Fragestellung dieser Arbeit, in den Mittelpunkt der Analyse gestellt.
Um sich auf die gesellschaftliche Relevanz des passiven, organisierten Sports[1] fokussieren zu können, ist es sinnvoll zunächst zu definieren, was man unter dem allgemeinen Begriff Sport versteht.
„[…] Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich Sport zu einem umgangssprachlichen, weltweit gebrauchten Begriff entwickelt. Eine präzise oder gar eindeutige begriffliche Abgrenzung lässt sich deshalb nicht vornehmen. Was im allgemeinen unter Sport verstanden wird, ist weniger eine Frage wissenschaftlicher Dimensionsanalysen, sondern wird weit mehr vom alltagstheoretischen Gebrauch sowie von den historisch gewachsenen und tradierten Einbindungen in soziale, ökonomische, politische und rechtliche Gegebenheiten bestimmt. Darüber hinaus verändert, erweitert und differenziert das faktische Geschehen des Sporttreibens selbst das Begriffverständnis von Sport. […]"(Röthig/ Prohl 2003, 493 )
Dieser Definition des Sportwissenschaftlichen Lexikons ist zu entnehmen, dass das Verständnis von Sport aufgrund seiner seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts inflationären Verwendung abhängig von der individuellen Interpretation und den jeweiligen sozialen Lebensumständen, z.B. politischer Art, des Individuums ist. Überdies ist das subjektive wie kollektive Sportverständnis einer Gesellschaft den gegenwärtigen und zukünftigen Geschehnissen und Entwicklungen der sportlichen Betätigung unterworfen.
Die gesellschaftliche Bedeutung des Sports in seiner passiven Ausgestaltung erkennt man gegenwärtig unter anderem an hand von weltweiten Massenphänomenen wie Fußball-Weltmeisterschaften oder der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung der Fußball Bundesliga in Deutschland (vgl. Lamprecht/ Stamm 2002, 133ff.).
Weiß thematisiert die „quasireligiöse Bedeutung“ des Sports, welche dieser im Verlauf des 20. Jahrhunderts errungen hat. Als eine wesentliche Ursache für diese Entwicklung betrachtet er den in den westlichen Industriegesellschaften Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzenden gesellschaftlichen Wandel mit seinen für die Menschen einhergehenden Unsicherheiten, beispielsweise der zunehmenden Individualisierung der Lebensführung aufgrund des Bedeutungsverlustes der Kirchen. Der Sport hat in diesem Zusammenhang die Rolle eines gesellschaftlichen Kompensationssystems eingenommen, in dem die Menschen sinnstiftende und identifikatorische Elemente erhalten. Der Sport würde mit seiner Eindeutigkeit der Regeln, für die Menschen ein erwünschtes Gegenbild zur Vielfalt an bestehenden Weltauffassungen in den modernen Gesellschaften darstellen. Gemäß Weiß Darstellung zeigt sich dieser Bedeutungsgewinn des Sports an hand von im Verlauf des 20.Jahrhunderts stetig zunehmenden Zuschauerzahlen und Umsätzen (vgl. Weiß 1990, 9ff.).
Im Gegensatz zu Weiß, der keine genauen Angaben zu Zuschauerzahlen macht, verdeutlicht Pries die gesellschaftliche Bedeutung des Massenphänomens Sport mit der Darlegung eines konkreten Werts. Das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland sei weltweit von mehr als einer Milliarde Fernsehzuschauern gesehen worden, eine derart hohe Zahl würde „kein gesellschaftliches Großereignis“ aus einem anderen Gesellschaftsbereich erreichen (vgl. Pries 2008, 9).
Weiß vertritt die Auffassung, dass der Sport über seinen Status als gesellschaftliches Teilsystem hinaus, die Funktion eines „role-model“ für die Sportzuschauer innerhalb der modernen Industriegesellschaft darstellt. Dieser Vorbildscharakter des Sports, beispielsweise für die Arbeitswelt, würde sich in seinem objektiven, transparenten und universellen Leistungssystem zeigen (vgl. Weiß 1990, 39 ff.). Grupe erkennt zwar ebenfalls übereinstimmende Gesetzmäßigkeiten von Sport und modernen Gesellschaften, ohne dabei jedoch die negativen Aspekte außen vor zu lassen. So zeigt Grupe die ambivalente Struktur sowohl vom Spitzensport als auch vom Breitensport, unter anderem mit der Gegenüberstellung von „Heroisches und Gemeines, Großzügigkeit und Egoismus, Betrug und Fairness“, auf (vgl. Grupe 1987, 59 f.).
Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass in vielen Sportarten der Einsatz des „taktischen Fouls“ als Ressource gilt bzw. die Thematik des Dopingmissbrauchs viele Sportarten, beispielsweise die jüngeren Geschichte des Radsport, begleitet, erscheint die Darstellungsweise von Grupe realistischer zu sein. Dennoch hat Weiß nicht gänzlich Unrecht mit der Annahme, dass Prinzipien des Sports wie Chancengleichheit und Eindeutigkeit der Leistung ein Leitbild für andere gesellschaftliche Bereiche erfüllen können.
Als einen weiteren Aspekt, der die Bedeutsamkeit des passiven, wie im Übrigen auch des aktiven Sports, ausmacht, beschreibt Weiß seine Komplexreduktion. Diese Komplexreduktion würde sowohl für Sportler als auch für Sportzuschauer in einem für alle Menschen nachvollziehbaren Reiz-Reaktions-Muster bestehen. Als praktisches Beispiel führt er den Boxsport an. Eine Angriffsaktion des einen Boxers, teils instinktiv, teils geplant, würde eine Abwehrreaktion des anderen Boxers hervorrufen. Diese simple Form der Kommunikation würde für Sportler und Zuschauer eine der zentralen sozialen Integrationsleistungen des Sports darstellen.
Über Grenzen des Alters, der Kultur und der Religion hinweg wäre es theoretisch nahezu jedem Menschen möglich mit einem anderen Menschen sportlich aktiv oder über den Sport zu kommunizieren (vgl. Weiß 1990, 102ff.).
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Komplexreduktion des Breiten- und des Leistungssports eine wesentliche Grundlage des „Massenphänomen Sport“ ausmacht.
Die Eindeutigkeit der Regeln innerhalb der jeweiligen Sportarten kann angesichts der modernen, sich durch viele unterschiedliche Normen- und Wertevorstellungen kennzeichnenden Gesellschaft in Deutschland, eine sinnhafte und der Identifikation dienende Funktion einnehmen. Darüber hinaus fungiert der Sport aufgrund seiner sprach- und kulturunabhängigen Verständlichkeit für Zuschauer, wie auch aktiv Sport treibende, als ein die Menschen verbindendes Element.
Gemäß Emrich, Pitsch, und Papathanassiou wird unter dem Begriff Sportverein „jeder Verein im Sinne des Vereinsrechts (§21-79BGB) verstanden, der Mitglied im DSB[2] oder in einer zum DSB gehörenden Untergliederung ist.“ (Emrich/ Pitsch/ Papathanassiou 2001, 29)
Festgehalten werden kann demzufolge, dass der Terminus Sportverein, anders als die Bezeichnung Sport, eindeutig definierbar ist.
„Sport im weiten Sinne verstanden (z.B. als Turnen, Gymnastik, Spiel, Sportartensport, Bewegung, Tanz) und auf unterschiedliche Weise betrieben und gedeutet (z.B. als Wettkampf, Erholung, Unterhaltung, Erziehung, Gesundheit, Freizeit) im Verein ist die älteste, häufigste und verbreiteste Organisationsform in Deutschland.“ (Jütting 2008, 133)
Diese Charakterisierung von Jütting bringt zum Ausdruck, welche vielfältigen sportlichen Betätigungsfelder und Sportmotive das heutige Sportvereinswesen in Deutschland vereint.
Gemäß Jütting zeichnet sich das deutsche Sportvereinswesen durch seinen Not-Profit-Charakter, Gemeinwohlbezug, Solidarität und Geselligkeit aus. Die Sportvereine würden sich über die Bedürfnisorientierung an ihren MitgliederInnen, Freiwilligkeit der Mitgliedschaften, Entscheidungsfindung nach Demokratie-Grundsätzen und Ehrenamtlichem Engagement definieren (vgl. Jütting 2008, 133 f.).
Im Folgenden wird eine Auseinandersetzung mit der Integrationsleistung von deutschen Sportvereinen, insbesondere in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund, auf umfassende Art und Weise erfolgen. Unter dem Begriff Menschen mit Migrationshintergrund werden deutsche und ausländische StaatsbürgerInnen, die selbst oder deren Eltern bzw. Großeltern ab 1950 nach Deutschland eingewandert sind, gefasst (vgl. bpb 2012).
Cachay und Thiel zeigen den Wandel der Sportvereine in Deutschland und der damit verändernden gesellschaftlichen Relevanz ihrerseits, im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf. Vergleiche man die Sportvereine in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit den Sportvereinen in den 1960er Jahren, bemerke man eine signifikante Veränderung der Mitgliederstruktur auf der einen und der Angebotsstruktur auf der anderen Seite.
Im Gegensatz zu den 1960er Jahren, in denen jüngere, deutsche Männer die Vereinsmitgliedschaften und wettkampfbezogene Angebote die Angebotsstruktur der Sportvereine gleichermaßen klar dominierten, seien zum Ende der 1990er Jahre bezüglich beider Komponenten eine deutlich größere Vielfalt festzustellen. Als einen entscheidenden Bedingungsfaktor machen beide Autoren die „soziale Öffnung“ des organisierten Sports zu Beginn der 1970er Jahre aus. Cachay und Thiel beziehen sich mit dieser Formulierung auf die Grundsatzerklärung des Deutschen Sportbundes aus dem Jahr 1972 „Sport für alle“, mit der gezielt versucht worden ist breitere Bevölkerungsschichten zu integrieren. Hintergrund dieses Vorhabens sei gewesen die gesellschaftliche Bedeutung des Sports, z.B. in den Bereichen Gesundheit und Vergemeinschaftung, noch stärker öffentlich von Seiten des organisierten Sports legitimieren zu können. Mit der sich in den kommenden Jahrzehnten vollziehender Inklusion breiterer Bevölkerungsgruppen, z.B. Frauen und ältere Menschen, sei es auch zu einer Vielfalt bezogen auf die Motive der Sporttreibenden gekommen. Nicht mehr der sportliche Wettkampf allein, sondern auch auf bestimmte Zielgruppen abgepasste Bedürfnisse, z.B. eine Verbesserung der körperlichen Fitness oder eine Fokussierung auf Geselligkeitsformen, seien als sportliche Interessen der Partizipation am organisierten Sport hinzugekommen (vgl. Cachay/ Thiel 2000, 116 ff.).
Laut Nagel ist bei den Frauen der Mitgliederanteil von 15% im Jahr 1976 auf 26% im Jahr 2003 gestiegen. Während der Mitgliederanteil der über 40-Jährigen Menschen Ende der 1970er Jahre bei knapp 20 % gelegen hätte, würde er Anfang des 21. Jahrhunderts bezüglich der MitgliederInnen über 60 Jahren bei knapp über 30 % liegen (vgl. Nagel 2006, 40 ff.).
Es ist demzufolge zu konstatieren, dass die 1972 vom DSB beabsichtigte Maßnahme der Öffnung des Vereinsports in Deutschland, hinsichtlich der Frauen und ältere Menschen erfolgreich gewesen ist.
Mit 27.8 Millionen Mitgliedern, die sich auf mehr als 91.000 Sportvereine verteilen, ist der Deutsche Olympische Sportbund gegenwärtig nicht nur die bedeutendste Sportinstanz, sondern auch die „größte Bürgerbewegung“ in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. DOSB 2013b). Die veröffentlichen Zahlen des DOSB demonstrieren, dass bis ins Jahr 2013 die Mitgliederzahl derart hoch gestiegen ist, dass mehr als ein Drittel der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland einem Sportverein angehören.
Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt für die gesellschaftliche Bedeutung von Sportvereinen, ist das bürgerschaftliche Engagement. Laut dem DOSB gibt es in den Sportvereinen 1.85 Millionen Menschen mit einem Ehrenamt. Zusätzlich müssten 6 Millionen informelle Helfer und Helferinnen, die die Organisationsleistung von Sportbetrieb und Veranstaltungen ermöglichen, mitberücksichtigt werden. Der organisierte Sport in Deutschland trägt damit dem DOSB zufolge, zu einer jährlichen Wertschöpfung für die Volkswirtschaft von über 6.7 Milliarden Euro bei und stellt den zahlenmäßig bedeutsamsten Träger bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland dar (vgl. DOSB 2013c).
Unter Berücksichtigung der Fragestellung dieser Arbeit ist allerdings speziell die Integration der Menschen mit Migrationshintergrund in die deutschen Sportvereine von besonderem Interesse. Das Wissen um die quantitative und qualitative Einbindung von Menschen mit Migrationshintergrund innerhalb der Sportvereine in Deutschland im Allgemeinen, kann für die Betrachtungsweise von ethnischen Sportvereinen in den nachfolgenden Kapiteln einen belangvollen Gesichtspunkt darstellen.
Breuer und Wicker überprüfen im Rahmen des Sportentwicklungsberichts 2009/2010 die numerische Einbindung der Menschen mit Migrationshintergrund in den Sportvereinen in Deutschland. Gemäß beiden Autoren haben 9.3 % aller SportvereinsmitgliederInnen einen Migrationshintergrund. Die daraus resultierende Zahl von 2.6 Millionen Mitgliedschaften setzte sich aus 67 % männlichen und 33% weiblichen Menschen mit Migrationshintergrund zusammen und sei in den letzten Jahren konstant geblieben. Breuer und Wicker weisen darauf hin, dass trotz dieser hohen Zahl, gemessen am Bevölkerungsanteil der Menschen mit Migrationshintergrund von etwa 19% im Jahr 2008, diese Personengruppe in deutschen Sportvereinen unterrepräsentiert ist. Gleiches gelte für ihren Anteil als ehrenamtliche Funktionsträger/innen, auch wenn diesbezüglich ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen sei.
Während beiden Autoren zufolge 2007 13.5% aller Sportvereine Menschen mit Migrationshintergrund mit ehrenamtlicher Beschäftigung hatten, seien 2009 in 30% der Sportvereine Menschen mit Migrationshintergrund ehrenamtlich aktiv gewesen. Im Jahr 2009 seien Menschen mit Migrationshintergrund in 18% aller deutschen Sportvereine auf Vorstandsebene und 22% auf der Ausführungsebene ehrenamtlich tätig gewesen. Gemäß Breuer und Wicker ist die Gesamtzahl von etwa 100.000 ehrenamtlichen Menschen mit Migrationshintergrund bzw. im Durchschnitt einem pro Sportverein, angesichts ihrer Mitgliederzahl dennoch ein Indiz für eine zusätzliche Unterrepräsentanz in diesem Bereich (vgl. Breuer/ Wicker 2011, 25 ff.). Kritisch anzumerken ist an dieser Stelle, dass beide Autoren die Beleuchtung von Hintergründen des zu verzeichnenden Zuwachses an Ehrenamtlichen Menschen mit Migrationshintergrund in deutschen Sportvereinen außer acht lassen. Es werden weder Ursachen erörtert, noch wird eine Aufteilung der präsentierten Zahlen nach ethnischen Sportvereinen und den übrigen Sportvereinen in Deutschland vorgenommen. Die als zweites angeführte Bemängelung ist im Übrigen auf alle von Breuer und Wicker im Rahmen der Sportentwicklungsberichte 2007/2008 und 2009/2010 angeführten Befunde anzuwenden.
Im Gegensatz dazu ist positiv hervorzuheben, dass Breuer und Wicker im Sportentwicklungsbericht 2007/2008, die Integration der Menschen mit Migrationshintergrund in den deutschen Sportvereinen nach Bundesländern differenziert untersucht haben. Auf diese Weise ist es möglich sich ein umfassenderes, weil detaillierteres Bild, über die Eingliederung dieser Personengruppe in deutsche Sportvereine zu verschaffen.
Laut Breuers und Wickers Darstellung bestehen hinsichtlich dieses Gesichtspunkts große Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern. So weise Sachen-Anhalt mit 4.6 Prozent den niedrigsten und Hamburg mit 14.3 Prozent den höchsten Wert bezüglich Sportvereinsmitgliedschaften mit Migrationshintergrund auf. Beide Autoren weisen an dieser Stelle auf den wichtigen Zusammenhang des differierenden Bevölkerungsanteils von Menschen mit Migrationshintergrund in den verschiedenen Bundesländern hin. Dementsprechend hätte Hamburg mit 25.8 Prozent am meisten, die neuen Bundesländer, ohne Berlin, zusammengerechnet mit 4.7 Prozent am wenigsten Menschen mit Migrationshintergrund in ihrer Bevölkerung. Ungeachtet insgesamt relativ hoher Werte in den alten Bundesländern, gelte für jedes Bundesland, dass diese Personengruppe gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, in den deutschen Sportvereinen eine Unterrepräsentanz aufweisen würde.
8.4 % aller Sportvereine haben den Autoren zufolge gesonderte Integrationsmaßnahmen ergriffen. So würden etwa 60% dieser Vereine „spezielle Aktionen“, z.B. Projekttage zum besseren kennen lernen der autochthonen und der MitgliederInnen mit Migrationshintergrund, durchführen. Knapp 30 % der Sportvereine, die gesonderte Integrationsmaßnahmen ergriffen haben, würden auf die Bedürfnisse bestimmter Zielgruppen abgestimmte Angebote, wie z.B. „Sportangebote in geschlossenen Räumen für Frauen“, anbieten.
In Übereinstimmung mit dem Mitgliederanteil, ist auch hinsichtlich der Durchführung von Integrationsmaßnahmen ein Ost-West-Gefälle auszumachen (vgl. Breuer / Wicker 2009, 79 ff.).
Insgesamt betrachtet, fällt damit für alle behandelten Gesichtspunkte der Integration der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschen Sportvereinen, ein prägnantes Ost-West-Gefälle zwischen den neuen und den alten Bundesländern auf. So gilt die zu ihrem jeweiligen Bevölkerungsanteil in Relation gesetzte Unterrepräsentanz von Menschen mit Migrationshintergrund in deutschen Sportvereinen, sowie an ihrem Mitgliederanteil gemessene Unterrepräsentiertheit im Ehrenamtlichen Bereich, für alle Bundesländer. In den neuen Bundesländern wird dieser Aspekt jedoch besonders deutlich. Bei der geringen Zahl von Vereinsmitgliedschaften dieses Personenkreises und der anschließend behandelten Blickpunkte ist allerdings zu bedenken, dass in den neuen Bundesländern der Bevölkerungsanteil von Menschen mit Migrationshintergrund wesentlich geringer als in den alten Bundesländern ist (vgl. bpb 2012). Hierbei handelt es sich um einen wichtigen Faktor, der sich ebenfalls auf die Diskrepanz hinsichtlich ergriffener Integrationsmaßnahmen und der Verteilungsstruktur der Menschen mit Migrationshintergrund in den Sportvereinen in den neuen und in den alten Bundesländern auswirkt.
Ein für die übergeordnete Fragestellung zusätzlich relevanter Aspekt, der von Breuer und Wicker beleuchtet wird, ist welche Merkmale eines Sportvereins als wesentlich für den Beitritt von Menschen mit Migrationshintergrund angesehen werden können. Breuer und Wicker heben hervor, dass von Sportvereinen ergriffene Integrationsmaßnahmen, das wichtigste Kriterium in dieser Hinsicht darstellen. Sportvereine mit Integrationsmaßnahmen würden einen Mitgliederanteil von Menschen mit Migrationshintergrund von 21.1 %, Sportvereine ohne derartige Maßnahmen hingegen nur durchschnittlich 9.8% Mitgliedschaften mit Migrationshintergrund aufweisen (vgl. Breuer/ Wicker 2009, 105 ff.). Zu Recht stellen beide Autoren in diesem Zusammenhang fest, dass im Unklaren bleibt, ob nicht eventuell der gegenteilige Bedingungsfaktor ebenfalls zu diesem Umstand geführt hat. Dieser Blickwinkel bezieht sich auf die Konstellation, dass ein Sportverein als Reaktion auf einen bestehenden großen Anteil von Vereinsmitgliedschaften mit Migrationshintergrund, Integrationsmaßnahmen ergriffen hat. Diesbezüglich legen Breuer und Wicker überzeugend dar, dass höchstwahrscheinlich von einer wechselseitigen Beeinflussung beider Komponenten ausgegangen werden kann. Es gilt insofern hervorzuheben, dass ein Engagement eines Sportvereins im Bereich der erörterten Integrationsmaßnahmen mit einem hohen Anteil von Vereinsmitgliedschaften mit Migrationshintergrund korreliert.
In diesem Kapitel wird zunächst die Geschichte ethnischer Sportvereine in Deutschland dargestellt. Bei einem ethnischen Sportverein handelt es sich um einen Sportverein, dessen Mehrheit der VereinsmitgliederInnen auf organisatorischer Führungs- und auf sportlich aktiver Ebene sich aus einer einzelnen ethnischen oder nationalen Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund zusammensetzt (vgl. Stahl 2009, 65).
Dieser Vereinstypus ist eine spezifische Form der allgemeinen Selbstorganisation von Menschen mit Migrationshintergrund in eigenen Vereinen in Deutschland. Aufgrund dieser Tatsache wird für ein umfassenderes Verständnis, die generelle Entstehung selbstorganisierter Migrantenvereine in Deutschland vorangestellt beschrieben.
Darauf folgend wird dann der gegenwärtige gesellschaftliche Stellenwert der ethnischen Sportvereine beleuchtet, in dem die charakteristischen Merkmale und Partizipationsmotive seitens der Mitgliedschaft dieser Vereine beschrieben werden.
Huth-Hildebrandt und Stüwe betonen die Wichtigkeit einer Beleuchtung der Entstehungsgeschichte der Selbstorganisation von Menschen mit Migrationshintergrund in Vereinen in Deutschland. Auf diese Weise würde sich ein Teil der gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedeutsamkeit selbstorganisierter Migrantenvereine, aber auch deren Unterschiede in den neuen und in den alten Bundesländern, erklären lassen.
In der Bundesrepublik Deutschland sind gemäß Huth-Hildebrandt und Stüwe die ersten selbstorganisierten Migrantenvereine von Menschen mit Migrationshintergrund der ersten Einwanderergeneration, im Rahmen der so genannten „Gastarbeiteranwerbung“[3], gegründet worden. Der Anlass sei gewesen sich einen eigenen Ort der „landsmännischen“ Begegnung und Selbsthilfe zu schaffen. In den Stadtteilen der Großstädte der BRD mit breiter Zuwanderungsdichte seien so mit den Jahren eine Vielzahl an selbstorganisierten Vereinen, in den meisten Fällen ethnische Vereine, entstanden. Beide Autoren beschreiben ethnische Vereine als Vereine, die an hand ihrer Mitgliedschaftsstruktur einer Nation zugeordnet werden können. In den Gegenstandsbereich von selbstorganisierten Migrantenvereine würden im Gegensatz dazu ebenfalls multiethnisch bzw. -national zusammengesetzte, auf Selbstorganisation beruhende Vereine von Menschen mit Migrationshintergrund fallen.
Gemäß beider Autoren haben sich die selbstorganisierten Migrantenvereine parallel zu den Organisationen der sozialen Arbeit, z.B. den Wohlfahrtsverbänden, zu lebensweltlichen Unterstützungsinstanzen für die Menschen mit Migrationshintergrund entwickelt. Aufgrund der Kooperation mit den auf den Themenbereich der Migration spezialisierten Beratungsstellen des Aufnahmelandes, in den Fällen, in denen die selbstorganisierten Migrantenvereine ihre Hilfe-Kompetenz als unzureichend angesehen hätten, sei es jedoch falsch von einer Parallelstruktur zu sprechen. Dennoch merken beide Autoren kritisch an, dass bei noch heute bestehenden Vereinen aus der Gründungszeit, Interkulturalität und Zusammenarbeit mit deutschen Organisationen eher die Ausnahme darstellt.
Ein Ursachenzusammenhang dafür sei, dass bis zur Wiedervereinigung beider deutscher Staaten, in der BRD von Seiten der Aufnahmegesellschaft den Menschen mit Migrationshintergrund gegenüber eine paternalistische Einstellung bestanden hätte. Ihre gesellschaftliche und politische Teilhabe sei im Verantwortungsbereich der deutschen Organisationen der Sozialen Arbeit verortet worden. Die bis 1989 entstandenen selbstorganisierten Migrantenvereine seien von der Aufnahmegesellschaft wenig beachtet worden und eine Rollenzuschreibung einer gleichberechtigten Partizipation im Rahmen des bürgerschaftlichen Engagements, z.B. im politischen Kontext, sei gar undenkbar gewesen.
Laut Huth-Hildebrandt und Stüwe verlief der Prozess der Zuwanderung in der DDR in einem anderen Rahmen. Beide Autoren machen darauf aufmerksam, dass sich dieser Aspekt nicht nur auf den deutlich geringeren Bevölkerungsanteil von Menschen mit Migrationshintergrund in der DDR, im Vergleich zur BRD, bezieht. Die Zuwanderung sei, zumindest bis in die 1980er Jahre, nicht im Rahmen einer Arbeitskräfteanwerbung, sondern aus Solidarität anderen kommunistisch geprägten Ländern gegenüber erfolgt. Jungen Menschen sei die zeitlich befristete Gelegenheitsstruktur eines Studiums oder eines Facharbeiterprogramms geboten worden, zu gleich hätten sie jedoch in staatlich eingerichteten „ethnisch homogenen Wohnheimen“ gelebt. In der DDR war beiden Autoren zufolge überdies den Menschen mit Migrationshintergrund verboten selbstorganisierte Vereine zu bilden, auch wenn es „informell“ durchaus derartige Strukturen gegeben hätte. Ein Jahr nach der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten hatten gemäß Huth-Hildebrandt und Stüwe in der ehemaligen DDR zwei Drittel, 60.000 Menschen, der seit Mitte der 1980er Jahre angeworbenen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter ihren Arbeitsplatz und damit einhergehend ihren Wohnheimplatz verloren. Aufgrund der Tatsache, dass ihr rechtlichter Status erst 1997 festgelegt worden sei, hätten die nach der Wende gegründeten selbstorganisierten Migrantenvereine aufgrund ihrer Unterstützungsleistungen für die Menschen mit Migrationshintergrund in den neuen Bundesländern in den Jahren nach dem Mauerfall eine immense Bedeutung innegehabt (vgl. Huth-Hildebrandt/ Stüwe 2012, 268ff.).
Es bleibt festzuhalten, dass die Entstehungsgeschichte der Selbstorganisation von Menschen mit Migrationshintergrund in Vereinen innerhalb der alten und neuen Bundesländer aufgrund unterschiedlicher Zuwanderungsbedingungen und verschiedener politischer Rahmenbedingungen, als differenziert zu betrachten ist. In der BRD ist die Entstehung selbstorganisierter Migrantenvereine im Kontext des Wunsches der Menschen mit Migrationshintergrund im fremden Aufnahmeland Deutschland in der Zusammenkunft mit Landsleuten Halt zu finden und der Motivation alltagsbezogene Unterstützung zu erhalten bzw. zu leisten, zu betrachten. Beide Autoren führen zudem mit der in Westdeutschland bestehenden Gesellschaftspraxis der Bevormundung den Menschen mit Migrationshintergrund gegenüber, ein überzeugendes Argument dafür an, weswegen dieser Vereinsform von der Mehrheitsgesellschaft über einen langen Zeitraum keine große Aufmerksamkeit widerfahren ist.
Jungk betont, wie wichtig die Förderung von politischen Migrantenvereinen seitens der deutschen Politik, unter anderem „Das Berliner Programm zur Förderung von Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeprojekten“ aus dem Jahr 1990, ist. Die von diesen selbstorganisierten Vereinen erbrachte gesellschaftspolitische und aufgrund der ehrenamtlichen Tätigkeit zu gleich volkswirtschaftliche Bedeutung, sei an hand jahrzehntelanger Nicht-Beachtung und folgender Vorbehalte nationalistischer bzw. später religiös-fundamentaler Art seitens der Aufnahmegesellschaft, lange Zeit nicht richtig gewürdigt worden (vgl. Jungk 2001, 82).
Die Entstehung der Selbstorganisation von Menschen mit Migrationshintergrund in Vereinen in der ehemaligen DDR setzte zum überwiegenden Teil hingegen erst nach dem Mauerfall ein. Als Hintergrund dieses Umstandes ist nicht nur das vorherige offizielle Verbot seitens des Staates, sondern die lebensweltliche Relevanz einer Existenz derartiger Vereine, unter Berücksichtigung der Lebensumstände für diese Menschen in den Jahren nach dem Mauerfall, anzusehen. Weiss macht in diesem Kontext darauf aufmerksam, dass im Gegensatz zur BRD, bei der Gründung der selbstorganisierten Migrantenvereine in den neuen Bundesländern zu meist autochthone Deutsche mitbeteiligt gewesen seien. Weiss bringt diesem Umstand in Zusammenhang mit der Tatsache, dass derartige Vereinigungen in den neuen Bundesländern, im Gegensatz zu denen in den alten Bundesländern, ihr Profil zu meist aufs interkulturelle Zusammenleben in Deutschland und weniger aufs Herkunftsland oder ethnische Bindungen legen (vgl. Weiss 2005, 82 f.).
Im Gegensatz zu den bisher aufgeführten Autoren, liefert Hunger bezüglich der Entstehungsgeschichte der Selbstorganisation von Menschen mit Migrationshintergrund in Vereinen konkrete Zahlen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 1: Anzahl selbstorganisierter Migrantenvereine in Deutschland (vgl. Hunger 2005, 224)
Hungers Auswertung des bundesweiten Ausländervereinsregisters des Jahres 2001 hat demnach einen kontinuierlichen Anstieg der selbstorganisierten Migrantenvereine in Deutschland ergeben. Insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren ist eine besonders hohe Gründungsdichte zu verzeichnen. Als Hintergrund führt Hunger die zum Ende der 1970er Jahre erfolgte Etablierung der Selbstorganisation in eigenen Vereinen seitens der „größeren Zuwanderungsgruppen“, nach vereinzelnden Gründungen in den 1950er und 1960er Jahren an. Hunger stellt zu Recht kritisch fest, dass nicht alle Amtsgerichte ihrer Pflicht der Weitergabe von Eintragungen von selbstorganisierten Migrantenvereinen in ihre kommunalen Vereinsregister ans bundesweite Zentralregister im Bundesverwaltungsamt nachgekommen sind. Dennoch würden für viele Kommunen komplette Datensätze vorliegen bzw. nicht eine Kommune gänzlich fehlen, so dass die Repräsentativität der Daten bis zu einem gewissen Grad als gegeben anzusehen ist. Es gilt überdies zu betonen, dass es sich um die einzige deutschlandweite und nicht regional beschränkte, empirische Erfassung von selbstorganisierten Migrantenvereinen handelt.
Stahl zeigt auf, dass die Entstehungsgeschichte ethnischer Sportvereine nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland in einem engen Zusammenhang mit dem so genannten Rotationsmodel steht (vgl. Stahl 2011, 66).
Das Rotationsmodell beschreibt Bade als eine gesellschaftliche Praxis in der Anfangszeit der Gastarbeiteranwerbung, in der jungen männlichen Arbeitskräften ein maximaler „Arbeitsaufenthalt“ von sechs Monaten gewährt wurde. Die Intention des Rotationsmodells sei es gewesen zu erreichen, dass die angeworbenen Menschen mit Migrationshintergrund nur für eine begrenzte Dauer in der Bundesrepublik bleiben (vgl. Bade 2005, 218 ff.).
Gemäß Stahl war mit dem Rotationsmodell und der anfänglichen, zu gleich bei vielen Menschen mit Migrationshintergrund bestehenden, Vorstellung eines vorübergehenden Aufenthaltscharakter verbunden, dass bis in die 1970er Jahre ein Beitritt von Menschen mit Migrationshintergrund zu einem Deutschen Sportverein für beide Seiten keine große Rolle spielte. Bis auf wenige Ausnahmen sei für die „Arbeitsmigranten“ aufgrund ihrer außerhalb der Ortschaften gelegenen Siedlungen, sowie mit der gesellschaftlichen Anwerbepraxis verbundenen Mängel in Sprache und sozialer Kontakte zu Einheimischen, eine Teilnahme an einem deutschen Sportverein nicht in Betracht gekommen. Neben der Möglichkeit an Sportaktivitäten im Rahmen von organisierten Betreuungsangeboten in ihren Wohnunterkünften teilzunehmen, haben sich gemäß Stahl mit der Zeit die „Arbeitsmigranten“ an ihren Arbeitsstellen, z.B. Fabriken, selbst zu festen Fußballmannschaften organisiert. Diese selbst organisierten Fußballmannschaften bildeten nach Stahl die Grundlage, für die in den 1960er und 1970er Jahren ersten gegründeten ethnischen Sportvereine nach Ende des weiten Weltkrieges.
Stahl legt überzeugend dar, dass somit die Entstehung dieser ethnischen Sportvereine in Deutschland nicht auf der Initiative integrationsunwilliger Menschen mit Migrationshintergrund, sondern einer „auf Integrationsverhinderung angelegten deutschen Ausländerpolitik des Anwerbezeitraums“ beruht (vgl. Stahl 2011, 66 f.).
Stahl stellt überdies zu Recht fest, dass es sich bei den in diesem Gründungskontext entstandenen ethnischen Sportvereinen, nicht um die ersten Sportvereine dieser Art in Deutschland handelte. Blecking zeigt auf, dass die polnischen Turnvereine, die zur Zeit des deutschen Reiches entstanden, als erste Form eines ethnischen Sportvereins in Deutschland anzusehen sind (vgl. Blecking 2001, 15ff.).
Stahl macht deutlich, dass an der Gründung der ethnischen Sportvereine in den 1960er und 1970er Jahren deutsche Organisationen maßgeblich beteiligt gewesen sind. Zu nennen sei die Arbeiterwohlfahrt, die unter anderem in der Anfangsphase nach der Gründung die Betreuung des wahrscheinlich ersten türkischen Sportvereins in Deutschland, Türkspor Berlin, übernommen hätte (vgl. Stahl 2009, 51). Fijalkowski und Gillmeister haben herausgearbeitet, dass darüber hinaus auch die katholische Kirche im Rahmen des vom Staat finanzierten Betreuungsprogramms für „Gastarbeiter“ aus katholischen Ländern, bei der Gründung ethnischer Sportvereine in diesem Zeitraum ihren Einfluss gehabt hat. Die Caritas, sowie die italienische, die spanische und die kroatische Mission der katholischen Kirche organisierten demnach ethnische Sportgruppen, welche eine Vorbildfunktion für einige der heutigen ethnischen Sportvereine gehabt hätten (vgl. Fijalkowski/ Gillmeister 1997, 111 ff.).
Stahl zufolge gestaltete sich in den 1960er und 1970er Jahren der Rahmen der Sportausübung der Menschen mit Migrationshintergrund so, dass diese in eigenen, so genannten „Gastarbeiterligen“, von dem Ligensystem des organisierten deutschen Sports ausgeschlossen wurden. Diese Gastarbeiterligen hätten in mehreren Städten verschiedener Bundesländer der Bundesrepublik bestanden und seien unter Mitwirkung der Konsulate so aufgebaut gewesen, dass in den meisten Fällen eine Liga aus den Mannschaften eines Herkunftslandes bestanden hätte. Diese Form der Segregation entsprach nach Stahl der „Gastarbeiterpolitik“ in diesem Zeitraum und war auf diese Art und Weise auch in anderen Lebensbereichen erkennbar, z.B. an hand von Gastarbeiterwohnheimen. Diese starren gesellschaftlichen Parallelstrukturen hätten sich in den 1970er Jahren aufgrund der Abkehr vom Rotationsprinzip verändert.
Der hauptsächliche Anlass dieser sich ändernden Praxis der „Gastarbeiterpolitik“ sei die sich in der Industrie durchsetzende Sichtweise einer zu kritisierenden „Unwirtschaftlichkeit“ bezüglich des sich ständig wiederholenden Vorgangs der Einarbeitung. Stahl zufolge war die Konsequenz eine Umorientierung vieler „Arbeitsmigranten“, die im Kontext von längeren Aufenthaltszeiten und dem einsetzenden Familiennachzug, die Bundesrepublik Deutschland als neuen Lebensmittelpunkt annahmen. Diese Veränderung auf gesellschaftlicher und politischer Ebene, Ende der 1970er Jahre sei das Thema einer „gezielten Integrationspolitik“ erstmals aufgekommen, hätte sich auch im organisierten Sport bemerkbar gemacht. Immer mehr ethnische Sportvereine schafften gemäß Stahl mit der Eintragung im Vereinsregister und dem Beitritt in den jeweiligen Landessportverband die formale Voraussetzung und wurden daraufhin in das allgemeine organisierte Sportsystem, insbesondere das Ligensystem der Fußballverbände, integriert. Diese ersten Vereine hätten eine Vorbildfunktion für die folgenden, zahlreichen Gründungen ethnischer Sportvereine inne gehabt. Als Beispiel führt Stahl Türkiyemspor Berlin an, die Anfang der 1990er Jahre beinahe den Aufstieg in die 2. Fußball-Bundesliga geschafft und von vielen Menschen mit türkischen Migrationshintergrund in der gesamten Bundesrepublik großes Interesse und Verbundenheit erfahren haben (vgl. Stahl 2009, 46 ff.).
Stüwe kommt zur Schlussfolgerung: „[…] erst die Vielzahl der gegründeten Ausländersportvereine außerhalb des DSB veranlasste den DSB, sich der Ausländer anzunehmen.“ (Stüwe 1984, 303) Mit dieser Aussage bezieht sich Stüwe auf die Tatsache, dass die Gastarbeiterligen, z.B. die „wilde türkische Fußballliga“ in Baden-Württemberg, eine ernstzunehmende Gefahr für die „Monopolstellung“ des DSB dargestellt hätte. Die Konsequenz sei gewesen, dass sich der DSB in seiner Grundsatzerklärung im Jahr 1972 „Sport für alle“ neben Frauen oder Senioren, auch für die Integration der Menschen mit Migrationshintergrund in deutsche Sportvereine, in Form von Einzelmitgliedschaften, eingesetzt hätte (vgl. ebd.).
Festzustellen ist damit, dass erst die Gewahrwerdung der Selbstorganisation von Menschen mit Migrationshintergrund in eigenen Sportvereinen außerhalb des DSB dazu führte, dass die Integration dieser Personengruppe ins deutsche Sportsystem thematisiert wurde. Wie der DSB Anfang der 1980er Jahre zur Eingliederung ethnischer Sportvereine in den organisierten Sport in der Bundesrepublik stand, wurde in seiner Grundsatzerklärung 1981 „Sport der ausländischen Mitglieder“ deutlich. „Ausländervereine“ seien grundsätzlich abzulehnen und nur zu akzeptieren, wenn „ein hoher Prozentsatz ausländischer Mitbürger einen deutschen Verein überfremdet“ (vgl. DSB 1981, 5). An hand dieser Formulierung wird die Betrachtungsweise einer notgedrungenen Übergangslösung deutlich, die sich jedoch als irrtümlich herausstellen sollte. Die Grundsatzerklärung des DSB aus dem Jahr 2004, „Sport und Zuwanderung“, trägt dieser Entwicklung Rechnung und zeugt von einem anderen Standpunkt ethnischen Sportvereinen gegenüber.
„Die Gründung eigenethnischer Sportvereine ist weder Ausdruck des Scheiterns der Integrationsbemühungen der deutschen Sportvereine, noch der Integrationsunwilligkeit der Migrantinnen und Migranten. Der Deutsche Sportbund betrachtet die unterschiedlichen Mitwirkungsformen von Migrantinnen und Migranten am deutschen Sport-eigenethnische wie gemischethnische- gleichermaßen als selbstverständlich. Der Sport ist angesichts seiner politischen und religiösen Neutralität grundsätzlich für alle Menschen offen. Diese Neutralität muss sich aber auch in den (eigenethnischen) Sportvereinen selbst widerspiegeln.“ (DSB 2004, 4f.)
[...]
[1] Mit dem Terminus organisierter Sport wird das Sporttreiben im Rahmen der vom Deutschen Olympischen Sportbund angebotenen Sportvereine im Bereich des Leistungs- und des Breitensports bezeichnet (vgl. DOSB 2013a).
[2] Seit dem 20.Mai 2006 ist der Deutsche Sportbund mit dem Nationalen Olympischen Komitee für Deutschland zum Deutschen Olympischen Sportbund fusioniert (vgl. DOSB 2013a).
[3] Die Begriffe Arbeitsmigrant oder Gastarbeiteranwerbung werden in Anführungszeichen gesetzt, da sich die damalige Annahme, der zeitlich begrenzten Zuwanderung, als faktischer Trugschluss erwiesen hat
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