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Mehr InfosExamensarbeit, 2009, 58 Seiten
Examensarbeit
1,5
Psychische Erkrankungen sind häufig Familienkrankheiten, das heißt sie kommen in einigen Familien gehäuft vor.
Vorliegende Studien zu Entwicklungsverlauf und Auftretenshäufigkeit psychischer Störungen kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass eine psychische Erkrankung eines Elternteils das Risiko für Kinder, im Verlauf ihres Lebens selbst eine psychische Störung auszubilden, beträchtlich erhöht (Lenz 2008, S. 10).
Das Risiko variiert je nach psychiatrischem Krankheitsbild zwischen 10 und 50 %. Dimova geht von einem nochmals deutlich erhöhten generellen Risiko bei Schizophrenie, Sucherkrankungen, Depressionen und bipolaren Störungen aus (Dimova 2004, S. 44).
Bei schweren psychiatrischen Erkrankungen wie Schizophrenie kommt es bei 30 bis 40 % der Betroffenen zu klinisch relevanten Auffälligkeiten bis zum Jugendalter. Wenn beide Elternteile von einer psychischen Erkrankung betroffen sind, steigt die Wahrscheinlichkeit für psychische Auffälligkeiten bei den Kindern noch einmal deutlich an. Die jeweilige psychiatrische Diagnose ist jedoch weniger bedeutsam für die Belastungssituation der Kinder und das Erkrankungsrisiko als andere Faktoren wie Schweregrad, Art und Chronizität der Symptome, Rückfallhäufigkeit, sowie allgemeine familiäre und soziale Bedingungen des Aufwachsens (Lenz 2008, S. 10ff.).
Es gibt einen unspezifischen Zusammenhang zwischen der Art der psychischen Erkrankung der Eltern und den Reaktionen der Kinder. Die Auswirkungen auf die Kinder ergeben sich aus einem erhöhten Stressniveau (Dimova 2004, S. 45).
In der frühen Kindheit und im Jugendalter ist die Vulnerabilität gegenüber Belastungen, die mit dem Zusammenleben mit einem psychisch kranken Elternteil verbunden sind, erhöht. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Auswirkung der psychischen Erkrankung eines Elternteils sind bisher nicht eindeutig geklärt (Lenz 2008, S. 14).
Die bisher getroffenen Aussagen bedeuten keinesfalls, dass eine determinierende Wirkung genetischer Faktoren vorliegt. Diese kann sogar weitgehend ausgeschlossen werden. Ebenso bestehen hinsichtlich des eigenen Erkrankungsrisikos weitere Abhängigkeiten wie zum Beispiel vom Schweregrad der elterlichen Erkrankung, vom Geschlecht des erkrankten Elternteils oder vom Alter und Entwicklungsstand des Kindes bei Ausbruch der elterlichen Erkrankung. Eine weitere wichtige Variable ist die Stabilität der Eltern-Kind-Beziehung (Lenz 2008, S. 13).
Umweltfaktoren haben mindestens eine ebenso große Bedeutung für ungünstige Entwicklungsverläufe und die Ausbildung von psychischen Störungen wie genetische Faktoren. So kommt es gerade bei vermutlich vorhandenen genetischen Risiken auf die Umwelt an, in der ein Kind aufwächst (Lenz 2008, S. 13).
So erscheint es sinnvoll besonders die Entwicklungsbedingungen dieser Kinder zu betrachten. Weiterhin sollen Ergebnisse qualitativer Studien, die einen subjektiven Zugang zu den Gefühlen und der Lebenswelt der betroffenen Kinder ermöglichen, zusammengefasst werden.
Bereits Babys können Verhaltensauffälligkeiten zeigen und ihre soziale und kognitive Entwicklung kann beeinträchtigt sein. Bei depressiven Müttern fand man heraus, dass sie sowohl sprachlich als auch über Körperkontakt weniger mit ihren Kindern kommunizieren (Baumann 2000, S. 49).
Erfahrungen zeigen, dass die Interaktionsmerkmale Unterstimulation, Überstimulation und Unberechenbarkeit als Interaktionsmuster auch in der Kommunikation zwischen psychisch kranken Eltern und ihren älteren Kindern zu finden sind (Deneke 2005, S. 141ff., zit. nach Lenz 2008, S. 19).
20 bis 30 % der Kinder mit psychisch schwer kranken Müttern können die grundlegende Entwicklungsaufgabe des Aufbaus einer organisierten Bindungsbeziehung zur Mutter in der frühen Kindheit nicht erfüllen (Lenz 2008, S. 16).
Im Kleinkindalter von 2 bis 4 Jahren können die betroffenen Kinder von der normalen Entwicklung abweichen. Entwicklungsdefizite können bei ersten Ablösungsschritten von den Eltern, beim Erkunden der Umwelt und beim Spracherwerb bestehen. So beschäftigen sich Kinder depressiver Mütter in Spielsituationen häufiger allein, wirken meist ängstlicher und erkunden eine neue Umwelt oftmals nur sehr zögerlich (Baumann 2000, S. 51).
Remschmidt und Mattejat (1994) haben darüber hinaus festgestellt, dass das Identifikationsverhalten der Kinder mit ihren Eltern aufgrund der psychischen Erkrankung eines Elternteils vermindert ist.
Im Vorschulalter lernen Kinder die Perspektive anderer immer mehr in ihre Überlegungen einzubeziehen. Bei Kindern depressiver Mütter zeigen sich häufig bereits in diesem Alter typische depressive Kognitionen mit Hoffnungslosigkeit und Schuldgefühlen. Auch sind die mit zunehmenden Alter immer bedeutsamer werdenden außerfamiliären Kontakte und Erfahrungen oftmals sehr reduziert, wodurch häufig auch die Kinder isoliert sind (Baumann 2000, S. 52).
Im Schulalter, wo die bisherige Entwicklung des Kindes zum ersten Mal einer strengen Außenbeurteilung unterzogen wird, können Schwierigkeiten im Bereich der Schulleistungen, des Verhaltens oder der sozialen Integration auftreten. In diesem Alter entwickeln die Kinder oftmals Schamgefühle für den erkrankten Elternteil, was dazu führen kann, dass sie andere Kinder nicht zu sich nach Hause einladen und sich somit isolieren. Auch Schuldgefühle, für die Krankheit mit verantwortlich zu sein, können eine zusätzliche Belastung darstellen (Baumann 2000, S. 52).
Lernschwierigkeiten und Lernstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen, schwache Schul- und Arbeitsmotivation sowie soziale Probleme beim Umgang mit Gleichaltrigen und Schulschwänzen treten gehäuft auf (Serbanescu 1993, zit. nach Baumann 2000, S. 54).
Die Befunde zu Schulleistungen sind jedoch inkonsistent. So erlebt nach Lenz nur eine substanzielle Minderheit der Kinder bedeutsame schulische Misserfolge. Bei Kindern depressiv erkrankter Elternteile konnten gar keine Auswirkungen auf die Schulleistungen festgestellt werden. Ebenso kommen Untersuchungen, die sich allgemein mit den Auswirkungen von psychischen Erkrankungen der Eltern auf die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten beschäftigen, zu unterschiedlichen Ergebnissen. Auch hier ist die Qualität der Mutter Kind Interaktion entscheidend (Lenz 2008, S. 16).
Auch im Jugend- und Erwachsenenalter kommt es häufig zu entwicklungspsychologischen Beeinträchtigungen.[1]
Zusammenfassend wurde festgestellt, dass bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, im Vergleich zu Kindern aus Kontrollgruppen, ein größerer Anteil der Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil scheitert bzw. weniger erfolgreich ist (Mattejat 2005, S. 66f.).
Weitere Belastungen können sich durch Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit bei psychisch kranken Eltern ergeben, welche die Entwicklung insgesamt negativ beeinflussen können. Darunter zählen Fähigkeiten der Eltern die kindlichen Bedürfnisse nach körperlicher Versorgung und Schutz zu befriedigen. Ebenso sind es Fähigkeiten der Eltern dem Kind als stabile und positive Vertrauensperson dienen zu können, ihren Kindern ein Mindestmaß an Regeln und Werten vermitteln zu können oder grundlegende Lernchancen eröffnen zu können (Lenz 2008, S. 17ff.).
Auch die Einschränkung der Erziehungsfähigkeit ist nicht bei allen psychisch kranken Eltern gegeben bzw. variiert im Ausmaß. Sie kann je nach Art, Intensität und Verlauf der psychischen Erkrankung unterschiedlich ausgeprägt sein.
(1) Veränderte soziale Strukturen und Rollen
Vertraute familiäre Alltagsstrukturen können wegbrechen. So kann es sein, dass beispielsweise die erkrankte Mutter oder der erkrankte Vater morgens nicht mehr aufsteht, vormittags schon wieder ins Bett geht, ständig müde ist und immer mehr Aufgaben im Haushalt unerledigt bleiben. Bei schweren psychiatrischen Erkrankungen kann es phasenweise zu deutlichen Veränderungen der Alltagsaktivitäten kommen, wodurch die Kinder auch von Verwahrlosung bedroht sein können. Auch ein längerer Klinikaufenthalt und die damit verbundene reale Trennung vom Elternteil kann gerade für jüngere Kinder ein zusätzliches Belastungsmoment darstellen (Lenz 2008, S. 26f.).
Weitere psychosozialen Probleme wie Arbeitsplatzverlust der Eltern, Scheidung bzw. Trennung der Eltern treten gehäuft auf (Dimova 2004, S. 52).
Rollenumkehrungen innerhalb der betroffenen Familien treten häufig auf. So zeigt sich, dass sowohl der kranke als auch der gesunde Elternteil seinen Kindern häufig seine Bedürftigkeit signalisiert und ihnen Verantwortung für sein Wohlbefinden aufbürdet. Kinder können zu Vertrauten und Ratgebern ihrer Eltern sowie zur primären Quelle von Unterstützung und Trost werden. Sie werden als überaus empathisch und hilfsbereit beschrieben. Parentifizierung muss jedoch nicht automatisch pathologisch sein, sondern kann sogar förderlich sein. Inwieweit sie schädlich ist hängt davon ab, ob das Kind für die Verfügbarkeit und für die unerfüllten Bedürfnisse der Eltern anerkannt, selbst unterstützt und in seinen eigenen Bedürfnissen berücksichtigt wird (Lenz 2008, S. 28ff.).
Solche adaptiven Formen der Parentifizierung können auch positiven Einfluss auf das Selbstwertgefühl und die Entwicklung der Kinder haben. Soziale Fertigkeiten, Verantwortungsübernahme, Fürsorglichkeit und Empathie können erlernt werden. Die Rollenübernahme bedeutet aber oftmals den Verlust der Kindheit, indem Sorglosigkeit, Spontanität und Lebhaftigkeit verloren gehen (Jurkovic 1997, zit. nach Lenz 2008, S. 30).
(2) Tabuisierung , Loyalitätskonflikte, diffuses Krankheitswissen
Aus eigenen Schuld- und Schamgefühlen heraus und um die Kinder vermeintlich zu schonen, vermeiden die Eltern oft eine offene Auseinandersetzung mit der Krankheit. Die Kinder sind durch das Informationsdefizit über die Krankheit oftmals auf ihre eigenen Überlegungen, Vermutungen und Schlussfolgerungen angewiesen. Häufig treten deshalb auch Befürchtungen bezüglich einer möglichen eigenen Erkrankung auf (Lenz 2008, S. 32f.).
Ebenfalls haben die Eltern häufig Angst vor möglichen Vorurteilen, Stigmatisierungen und vor Ablehnung und Ausgrenzung durch das soziale Umfeld. Auch gegenüber Außenstehenden herrscht oftmals ein intuitiv empfundenes oder explizit vermitteltes Schweigegebot, was den Kindern oftmals die Möglichkeit nimmt sich einer außerfamiliären Bezugsperson mitzuteilen (Lenz 2008, S. 32f.).
„Ja und Mama möchte das auch nicht, dass ich mit in der Schule und darüber rede und so was[…] das hat sie mir gesagt […] Das wäre schon etwas unangenehm, dass das alle wissen(w, 8 Jahre)“ (Lenz 2005, S. 120).
Die Mehrzahl der Kinder verfügt über soziale Beziehungen zu Verwandten, Schulkameraden, und Freunden. Die Bereitschaft auf diese Ressourcen aus ihrem sozialen Netzwerk bei der Bewältigung ihrer Belastungen zurückzugreifen ist jedoch gering (Lenz 2005, S. 120).
Loyalitätsspaltungen können auftreten, die die Kinder in ihrer Integrität belasten. Sie können hin- und hergerissen sein zwischen der Loyalität zu ihren Eltern, ihrem Schamgefühl eine psychisch kranke Mutter oder Vater zu haben, und dem Bedürfnis mit jemanden sprechen zu können (Lenz 2008, S. 32f.).
Auch gegenüber nicht über die elterliche Erkrankung informierten Lehrern und Mitschülern können die Kinder dadurch m.E. nach in innere Konflikte geraten.
(3) Mögliche Auswirkungen auf die emotionale Befindlichkeit der Kinder
Generell werden die meisten Kinder als sehr empathisch beschrieben, was aber wiederum die Abgrenzung von der elterlichen Erkrankung und den familiären Ablösungsprozess erschweren kann. Aus retrospektiven Befragungen von mittlerweile erwachsenen Betroffen sowie aus Befragungen direkt betroffener Kinder fand man folgende häufig auftretende Gefühlslagen.
Schamgefühle und Desorientierung können Folge dieser innerfamiliären Verheimlichungsstrukturen sein. Ebenso glauben Kinder häufig, dass sie an den psychischen Problemen ihrer Eltern Schuld sind (Wagenblass 2001, S. 4).
Ebenso treten häufig Ängste vor einem möglichen Rückfall bei der elterlichen Erkrankung, vor einer eigenen Erkrankung sowie vereinzelt auch vor Gewalt oder dem Selbstmord der Eltern auf. Insbesondere bei längerem Krankheitsverlauf empfinden Kinder häufig Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Resignation. Die Kinder äußern häufig auch Gefühle des Verlustes und der Trauer (Lenz 2005, S. 86ff.).
Da sich vor der Erkrankung geltende Regeln, Werte und elterliche Reaktionsweisen teilweise verändern, kommt es zu massiver Verunsicherung und Desorientierung.
Die Kinder bringen das eigene Verhalten häufig mit den Reaktionen des Erkrankten in Zusammenhang. Sie erleben dadurch Unvorhersehbarkeit, Unkontrollierbarkeit und oftmals auch Hilflosigkeit (Dimova 2004, S. 49ff.).
Da Hilflosigkeit auf diesem Wege auch erlernt werden kann, kann das Risiko beispielsweise eine Depression zu bekommen noch einmal erhöht sein. Detailliertere Ausführungen dazu finden sich bei Seligman (1979).
Auch fühlen sich viele Kinder häufig nicht verstanden, weil emotionale Wärme und Feinfühligkeit fehlen:
„Die 11- jährige Claudia freute sich über ihren erfolgreich abgeschlossenen Computerkurs. Ihre sich gerade in einer manischen Phase befindliche Mutter reagierte darauf mit einem läppischen „Na und“ und schenkte ihr weiter keine Aufmerksamkeit“ (Dimova 2004, S. 50).
Die fehlende Konsistenz zwischen eigenem Verhalten und elterlichen Rückmeldungen sowie Schuldgefühle können zu einem verminderten Selbstwertgefühl führen. Das Wahrnehmen eigener Bedürfnisse und Wünsche ist oftmals beeinträchtigt (Dimova 2004, S. 50).
Nachdem die Auswirkungen der elterlichen Erkrankung auf die Lebenssituation und Entwicklung der Kinder beschrieben wurden, sollen in diesem Kapitel wichtige Erkenntnisse zum Stresserleben im Kindesalter und zu Bewältigungsstrategien von Kindern psychisch kranker Eltern zusammengetragen werden.
Den theoretischen Hintergrund hierfür bildet das transaktionale Stressmodel von Lazarus (2008). Es geht von der Grundannahme aus, dass Stress dann entsteht, wenn es zu einem Ungleichgewicht zwischen wahrgenommenen Anforderungen und subjektiven Fähigkeiten in Belastungssituationen kommt, die für das Individuum eine gewisse Bedeutung besitzen.
In der Forschung wird häufig zwischen funktionalen bzw. dysfunktionalen Bewältigungs- bzw. Copingstrategien unterschieden. Funktionale Strategien beziehen sich auf die Anstrengung, Probleme durch aktives Suchen nach Unterstützung, durch Reflexion möglicher Lösungen und durch konkrete Handlungen zu bewältigen. Dysfunktionale Strategien können die Leugnung des Problems bzw. die Vermeidung der Suche nach Lösungen beinhalten. Probleme lassen sich so zumindest auf lange Sicht nicht bewältigen (Lenz et al. 2008, S. 47).
Die Forschung kann jedoch die Frage, ob bestimmte Bewältigungsstrategien eine schützende Wirkung haben oder Risikofaktoren darstellen, mitunter nicht eindeutig beantworten. So kann beispielsweise eine Problemmeidung kurzfristig eine schützende Funktion haben, während sie langfristig ein Risiko darstellt (Lenz 2008, S. 49).
Aussagen darüber, ob in bestimmten Kontexten erfolgreiche Bewältigungsstrategien, auch in anderen Situationen oder späteren Entwicklungsabschnitten erfolgreich sind, sind nicht eindeutig möglich.
Eine erfolgreiche, effektive Stressbewältigung setzt aus diesem Grund ein breites Repertoire an Bewältigungsstrategien voraus, die je nach Belastungskonstellation flexibel eingesetzt werden können (Lohaus, Klein-Heßling 1999, zit. nach Wustmann 2008, S. 82).
Lohaus (1996) konnte bei Kindern drei Bewältigungsstrategiearten identifizieren: Nutzung problemlösender Strategien, Nutzung emotionsregulierender Strategien und Nutzung sozialer Unterstützung. Daneben besteht noch die Möglichkeit der Problemmeidung.
Jüngere Kinder neigen eher zu problemorientierten Bewältigungsstrategien. Mit zunehmendem Alter werden auch immer mehr emotionsregulierende Strategien verwendet (Wustmann 2008, S. 78).
Dabei besitzen Ereignisse für Kinder eine andere Stressrelevanz als für Erwachsene. So kann beispielsweise ein Streit mit einer Freundin oder einem Freund von einem Kind als sehr belastend erlebt werden (Lenz 2008, S. 44ff.).
Die Einschätzung von Bewältigungsmöglichkeiten kommt bei Kindern zu anderen Ergebnissen. So stehen einige Bewältigungsstrategien, die von Erwachsenen genutzt werden, Kindern nur eingeschränkt zur Verfügung (Lenz 2008, S. 46ff.).
Die Mehrzahl der Kinder psychisch kranker Eltern setzt dysfunktionale und Problem meidende Strategien langfristig ein (Lenz 2005, S. 117).
Zu den langfristig eingesetzten passiv-vermeidenden Strategien gehören Rückzug, Ablenkung, das Verdrängen von Gedanken und Gefühlen oder die Flucht in Fantasiewelten (Lenz 2005, S. 119ff.).
Enge Bezüge zeigen sich zum von Antonovsky beschriebenen Kohärenzgefühl. Er ist der Überzeugung, dass Menschen mit einem hohen Kohärenzgefühl über die notwendige Flexibilität an Bewältigungsstrategien besitzen. Ein Mensch mit einem gering ausgeprägten Kohärenzgefühl wird dagegen auf Anforderungen eher starr und rigide reagieren, da er weniger Widerstandsressourcen zur Bewältigung zur Verfügung hat bzw. diese nicht wahrnimmt (Antonovsky, Franke 1997, S. 16).
Antonovsky beschreibt als eine notwendige Voraussetzung für Kohärenzgefühl, dass die Ereignisse der eigenen inneren und äußeren Umwelt im Lebenslauf strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind. Auch aus dieser Perspektive sind bei Kindern psychisch kranker Eltern aufgrund der beschriebenen möglichen Auswirkungen von Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit Beeinträchtigungen in ihren Bewältigungsstrategien wahrscheinlich.
Die schwach ausgeprägte soziale Netzwerkorientierung der betroffenen Kinder wurde bereits beschrieben. Gründe dafür können die Tabuisierung der Krankheit in der Familie, Redeverbote, Schamgefühle oder die Angst vor sozialer Ausgrenzung und Abwertung sein (Lenz 2005, S. 122).
Eine psychische Erkrankung eines Elternteils mit längerem Krankheitsverlauf und akuten Phasen stellt zusammenfassend für die Kinder häufig ein andauerndes erhöhtes Stressniveau dar, woraus die bereits dargestellten Folgen resultieren können (Lenz 2008, S. 44.).
Insgesamt kann festgehalten werden, dass die psychische Erkrankung eines Elternteils einen Risikofaktor für die Entwicklung der Kinder darstellen kann, der sich aus den hier aufgezeigten vielschichtigen Ebenen zusammensetzt. Dabei sind auch Defizite bei den Bewältigungsstrategien festzustellen. Eine Resilienzförderung könnte folglich für die Zielgruppe, gerade unter Berücksichtigung der aufgezeigten Entwicklungsrisken, in besonderem Maße bedeutsam sein.
Trotz der potenziellen vielfältigen Belastungen werden nicht alle Kinder selbst krank oder verhaltensauffällig.
Gesicherte Ergebnisse aus der Risikoforschung zeigen, dass das kindliche Störungsrisiko bei psychischen Auffälligkeiten der Eltern um den Faktor 2 bis 3 gegenüber einer Vergleichsgruppe erhöht ist. Allerdings entwickelt der weitaus größere Teil der betroffenen Kinder keine oder allenfalls vorübergehende psychische Störungen. Bei ca. 10 -30 % können persistente kinderpsychiatrische Störungen festgestellt werden (Sollberger et al. 2008, S. 158).
Das kindliche Entwicklungsrisiko ist aber nur zum Teil von der elterlichen psychischen Störung abhängig, zum anderen wird es, wie aufgezeigt, von den mit der elterlichen Erkrankung in Verbindung stehenden psychosozialen Risikofaktoren überlagert. Die beschriebenen Wechselwirkungen auf biologischer, psychischer und sozialer Ebene sind dabei zu berücksichtigen.
Was zeichnet aber die gesund bleibenden Kinder aus und wo liegen die Unterschiede zu den anderen Kindern? Die Stress- und Copingforschung hat gezeigt, dass die Art des Umgangs mit Problemsituationen, Konflikten und Spannungen sowie die Mobilisierung von Bewältigungsressourcen entscheidend für eine effektive Stress- bzw. Problembewältigung sind. Die Wahrscheinlichkeit selber Verhaltensauffälligkeiten zu entwickeln oder selbst zu erkranken kann so verringert werden.
Die hier nun weiter zu betrachtende Resilienzforschung untersucht unter Einbezug umfangreicherer Faktoren, warum und wie Kinder, trotz vielfältiger Belastungen und Risiken gesund bleiben bzw. wie sie mit belastenden, widrigen und widersprüchlichen Lebenserfahrungen angemessen umgehen können.
Der Resilienzbegriff ist in der Forschung noch nicht eindeutig definiert worden. Aus pathogenetischer Perspektive versteht man unter Resilienz die Abwesenheit bestimmter Störungen oder Verhaltensprobleme trotz vorhandener Risiken. Resilienz sollte aber nicht an zu engen Kriterien festgemacht werden. Ein anderes Verständnis von Resilienz zeigt sich, wenn man Resilienz nicht nur durch die Abwesenheit von Erlebens- und Verhaltensstörungen definiert, sondern die erfolgreiche Bewältigung bestimmter Entwicklungsaufgaben berücksichtigt (Lösel, Bender 2008, S. 60f.).
Dies schließt den Erwerb bzw. Erhalt altersangemessener Fähigkeiten und Kompetenzen der normalen kindlichen Entwicklung mit ein und stellt somit ein höheres Anforderungsniveau an Resilienz dar (Wustmann 2005, S. 192f.).
Von zentraler Bedeutung scheint die Art der Bearbeitung einer Risikolage zu sein:
„…vielmehr liegt die Qualität von Resilienz darin, wie Menschen mit Lebensveränderungen umgehen und was sie hinsichtlich ihrer Lebenssituation tun. Diese Qualität ist durch frühe Lebenserfahrungen[…]und durch die Lebensumstände im Erwachsenenalter beeinflusst“ (Rutter 1985, S. 608, zit. nach Fingerle 2008, S. 15).
Dies macht auf die Bedeutung von Problemlösungs- und Bewältigungsstrategien aufmerksam.
Es zeigt sich, dass das Verständnis über den Resilienzbegriff nicht einheitlich ist, woraus sich auch Probleme der Operationalisierung ergeben können, wann man von Resilienz bzw. von resilienter Entwicklung sprechen kann.
Resilienz ist ein dynamischer Anpassungs- und Entwicklungsprozess. Es ist folglich kein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal eines Kindes, sondern stellt eine Kapazität dar, die im Verlauf der Entwicklung erworben wird. Dabei sind sowohl Person als auch Umwelt an der Entwicklung beteiligt. Positive und stabilisierende frühere Erfahrungen können die Ausbildung von Bewältigungsfähigkeiten wesentlich begünstigen (Wustmann 2005, S. 193f.).
Protektive Faktoren wirken oftmals zusammen. Protektive Prozesse, die Resilienz fördern, manifestieren sich bereits in der frühen Kindheit. Die erste Lebensdekade hat eine große Bedeutung für die Grundlegung von Resilienz. Die schützende Wirkung eines Faktors hat auch einen positiven Einfluss auf die Lebensbewältigung in einem späteren Entwicklungsabschnitt (Werner 2008b, S. 320f.)
Resilienz bedeutet dabei keine stabile Immunität gegenüber negativen Lebensereignissen und psychischen Störungen, sondern kann über Zeit und Situationen hinweg variieren (Wustmann 2005, S. 193f.).
Resilienz kann auch nicht auf alle anderen Lebens- und Kompetenzbereiche übertragen werden (Wustmann 2005, S. 193f.).
Kinder, welche wie die beschriebene Zielgruppe einer elterlichen Erkrankung ausgesetzt sind, können somit hinsichtlich ihrer schulischen Leistungsfähigkeit resilient sein, hinsichtlich ihrer sozialen Kontakte und Beziehungen wiederum nicht resilient sein.
Das Modell der Resilienz ist ein stark ressourcenorientiertes Modell. Es weist einen starken Bezug zum Konzept der Salutogenese vom Medizinsoziologen Antonovsky auf. Sein zentraler Ansatz ist die Frage, was den Menschen gesund erhält und wie es gelingt, trotz gesundheitsgefährdender Bedingungen nicht krank zu werden. Die Frage danach, was eine Person krankt macht oder was die Krankheit ausgelöst hat, ist für ihn zweitrangig (Antonovsky, Franke 1997).
In der Forschung ist eine Vielzahl an Resilienzstudien zu finden, in denen eine große Bandbreite an Kindern und Jugendlichen untersucht wurde, die unterschiedlichsten Risiken ausgesetzt waren.
Als Pionierstudie gilt die „Kauai-Längsschnittstudie“ von Werner (Werner 2008a, S. 20ff.).
Die Erforschung von Resilienz steht mit einer Vielzahl an methodischen Problemen aber noch ziemlich am Anfang. Ein Hauptkritikpunkt ist dabei, dass die Theorie bisher nur beschreibenden Charakter hat. Im Mittelpunkt der bisherigen Forschung stand die Identifikation von Risikofaktoren und von Schutzfaktoren, die Resilienz ermöglichen. Die Prozesse und Mechanismen der Wechselwirkung dieser Faktoren gelten als noch weitgehend unerforscht. Die neuere Resilienzforschung legt darum ein Hauptaugenmerk auf die differenziellen Prozesse von Resilienz. Weitere Kritikpunkte sind die mangelnde einheitliche, klare Terminologie und Probleme bei der Abgrenzung von Risiko- und Schutzfaktoren (Lösel, Bender 2008, S. 57ff.).
Häufig ist nicht genau zu beurteilen, worin genau das Risiko besteht. Dabei wird oftmals dabei zwischen distalen und proximalen Risikofaktoren unterschieden (Fingerle et al. 1999, S. 230).
Distale Faktoren, wie beispielsweise eine psychische Erkrankung eines Elternteils, werden vom Kind häufig nicht unmittelbar erfahren, sondern eher durch proximale Faktoren wie beispielsweise häufiger elterlicher Streit, Ablehnung oder Gleichgültigkeit vermittelt (Lenz 2008, S. 63).
Schneider verweist darauf, dass die Entwicklung von Kindern von guten und schlechten Erfahrungen gleichermaßen beeinflusst wird. So können sich zunächst negativ erscheinende Erfahrungen im weiteren Verlauf zu Schutzfaktoren entwickeln (Schneider 1998, S. 165).
Es gibt noch keine Modelle, die die vielfältigen dynamischen Prozesse zwischen Schutzfaktoren und Risikokonstellationen beschreiben können. Zu Resilienzprozessen ist noch gezielte Grundlagenforschung nötig (Julius, Prater 1996, S. 307).
Trotz der genannten Einschränkungen konnten nach aktuellem Forschungsstand bei einer Vielzahl an Resilienzstudien relativ übereinstimmende Ergebnisse zu den schützenden Faktoren gefunden werden, die Resilienz fördern (Julius, Prater 1996, S. 230).
Auch Bender und Lösel verzeichneten bei der Auswertung zahlreicher Resilienzstudien ziemlich konsistente Befunde (Bender, Lösel 1998, S. 126).
Es kann von relativ breit wirksamen Schutzfaktoren ausgegangen werden, die allgemein zu einer gesunden psychischen Entwicklung beitragen.
Einen fundierten Forschungsüberblick über internationale Längsschnittstudien zur Resilienz, die sich mit der Risikogruppe von Kindern psychisch kranker Eltern beschäftigen[2], findet man bei Bender & Lösel (1998) und bei Werner (2008b).[3]
Die wichtigsten empirischen Forschungsergebnisse hieraus sollen nun überblicksartig zusammengefasst werden, um Ansatzpunkte schulischer Resilienzförderung zu erarbeiten.
Die identifizierten Resilienzfaktoren werden dabei häufig in kindzentrierte, familienzentrierte und umweltzentrierte Faktoren unterteilt. Diese Kategorisierung soll auch in dieser Arbeit vorgenommen werden.
Die Einteilung ist jedoch noch umstritten. Einige Kritiker fordern, dass für Resilienz im engeren Sinne ausschließlich kindzentrierte Faktoren berücksichtigt werden sollten (Grünke 2003, S. 43ff.).
(1) Temperamentsmerkmale
Resiliente Kinder und Jugendliche haben häufig ein einfaches emotional gewinnendes Temperament, das die Interaktion mit den Bezugspersonen erleichtert und die Wahrscheinlichkeit von negativen Reaktionen verringert. Sie sind beispielsweise gegenüber neuen Situationen flexibel und annäherungsbereit, emotional ausgeglichener und in sozialen Situationen verträglich. Auch ein kompetenter Umgang mit eigenen Gefühlen wie die Impulskontrolle ist ein identifizierter Resilienzfaktor.
(2) soziale Kompetenzen
Kompetente Kinder aus Familien mit psychisch krankem Elternteil haben häufig eine realistischere Einschätzung von sozialen Zusammenhängen und zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie haben höhere Sozialkompetenz und werden als aktiv, lebhaft und humorvoll beschrieben, zeigen ein niedrigeres allgemeines Stressniveau und eine niedrigere Emotionalität.
Besonders bei den letztgenannten Punkten werden m.E. Probleme der Resilienzforschung deutlich. So ist es mitunter problematisch zu unterscheiden, ob die genannten Eigenschaften Faktoren für Resilienz darstellen oder bereits Folgen der erfolgreichen Bewältigung sind.
Die resilienten Kinder besitzen die Fähigkeit auf soziale Ressourcen zurückzugreifen und aktiv Hilfe einzufordern.
(3) Kognitive Kompetenzen
Bei der Intelligenz sind die Ergebnisse nicht völlig konsistent. Hinsichtlich externalisierenden Verhaltens fand man eine schützende Funktion. Eine überdurchschnittliche Intelligenz kann jedoch ein Risikofaktor für Störungen im internalisierenden Bereich wie Ängste oder Depressionen sein, was oftmals damit erklärt wird, dass diese Kinder ihre Umwelt differenzierter wahrnehmen und dadurch sensibler auf Belastungen reagieren.
Auch besondere Talente haben eine schützende Funktion.
Eine schützende Funktion kognitiver Kompetenzen wird oftmals in engem Zusammenhang mit motivationalen Faktoren gesehen. So hatten eine hohe Leistungsmotivation und positive Schulleistungen eine schützende Funktion auch wenn sie nicht mit überdurchschnittlicher Intelligenz zusammenhingen.
Gute Schulleistungen können Quelle der Selbstbestätigung sein. Sie können dabei helfen, negative Erfahrungen in der Familie zu kompensieren. Ein übersteigertes Leistungsstreben kann aber auch zu Versagensängsten und psychosomatischen Störungen beitragen (Bender, Lösel 1998, S. 130).
Baumann betont, dass positive Lebensereignisse wie z. B. schulischer Erfolg die Psyche eines Kindes stabilisieren und es gegen psychische Störungen widerstandsfähiger machen können (Baumann 2000, S. 41).
Es ist m.E. nach jedoch kritisch zu betrachten, wenn gute Schulleistungen als primäre Quelle zur Selbstbestätigung genutzt werden. Ebenso können schulische Misserfolge darüber hinaus auch zu einem zusätzlichen Risikofaktor werden.
Im Zusammenhang mit schulischen Kompetenzen wurden auch gute Problemlösefähigkeiten und Ausdauer bei der Problemlösung als schützende Faktoren identifiziert.
(4) Selbst- und umweltbezogene Kognitionen
In vielen Studien fand man bei resilienten Kindern und Jugendlichen stärker ausgeprägte internale Kontrollüberzeugungen, selbstwertschützende Attributionsstile und positive Zukunftserwartungen. Auch damit in Beziehung stehende Überzeugungen der Selbstwirksamkeit und der damit verbundenen geringer ausgeprägten Hilflosigkeit stellen Resilienzfaktoren dar.
Rigide internale Kontrollüberzeugungen und Attributionsstile können aber angesichts unkontrollierbarer Ereignisse auch einen Risikofaktor darstellen, wie dies bei Kindern der Zielgruppe bezüglich der Erkrankung eines Elternteils bereits dargestellt worden ist.
Ebenso bedeutsam sind ein positives Selbstkonzept und ein gut ausgeprägtes Selbstwertgefühl.
Die Schutzfunktion wird häufig damit erklärt, dass das Erleben von Selbstwert und Selbstwirksamkeit aktive Problembewältigungen in Gang setzt, die bei Gefühlen der Hilflosigkeit und der damit einhergehenden Passivität unterbleiben. Wahrscheinlich werden auch Wahrnehmungsprozesse dahin gehend verändert, dass man Ereignisse als weniger belastend einstuft und deshalb aktive Bewältigungsstrategien wählt.[4]
[...]
[1] Weitere Informationen hierzu findet man bei Baumann (2000) und bei Sollberger (2008).
[2] Darunter auch die Rochester Longitudinal Study, eine Studie zu Kindern psychisch kranker Eltern mit großem Stichprobenumfang
[3] Detaillierte Literaturhinweise zu den einzelnen ausgewerteten Studien finden sich in den angegebenen Quellen.
[4] Die Bedeutung von Stresserleben und Einsatz effektiver Bewältigungsstrategien für die Problembewältigung wurde bereits im Kapitel 2.2.2 dargestellt.
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