Veröffentliche auch du deine Arbeit – es ist ganz einfach!
Mehr InfosBachelorarbeit, 2011, 63 Seiten
Bachelorarbeit
1,3
Cremers et al. (2010) stellen fest, dass es einen ausgeprägten Wunsch nach mehr männlichen Erziehern sowohl bei Kitateams, in Ausbildungsklassen als auch bei Eltern gibt (vgl. Cremers et al. 2010:46). So gibt in einer Befragung mehr als die Hälfte der Eltern (56%) an, dass es wichtig sei, eine Kinderbetreuung durch Männer und Frauen zu realisieren. Knapp die Hälfte, nämlich 45 Prozent der befragten Eltern sind der Meinung, dass sich Träger und Kitas dafür einsetzen sollten, mehr männliche Erzieher zu gewinnen (vgl. a.a.O.:47f.). Und eine deutliche Mehrheit äußert, dass sie ihr Kind ohne Bedenken in die Obhut eines männlichen Erziehers geben würden. Für gut ein Drittel erhöht sich die Attraktivität einer Kita, wenn dort Männer im pädagogischen Fachpersonal arbeiten (vgl. ebd.). Dabei gibt es Unterschiede in der Bewertung des Themas „Männer in Kitas“ aus Elternsicht. So ist die Zustimmung in sozial besser gestellten Elternhäusern größer, wenngleich der Unterschied zu bildungsferneren und einkommensschwächeren Elternhäusern nur gering ist. Jüngere Eltern sind vergleichsweise zurückhaltend gegenüber der Thematik, ebenso ist eine Differenzierung zwischen westdeutschen und ostdeutschen Bundesländern feststellbar (vgl. a.a.O.:49). Jedoch sind auch hier die Unterschiede eher gering. Beachtenswert scheint, dass es in der Akzeptanz männlicher Erzieher keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt (vgl. a.a.O.:50). Mütter und Väter formulieren lediglich in Teilen unterschiedliche Erwartungen an männliche Erzieher. So beschreiben es Cremers et al. als auffällig, dass „42% der Mütter im Vergleich zu 29% der Väter von den männlichen Erziehern hohes Engagement fordern. 22% erwarten explizit, dass Männer Kinderlieb sein müssen. Von den Vätern nennen nur 11% diesen Aspekt im Rahmen der offenen Fragen“ (a.a.O.:54). In einer nicht repräsentativen Befragung von Eltern einer Kindertagesstätte im Rahmen des Projekts „juniorExperten – Kinder brauchen Männer“ wird ein weiterer bemerkenswerter Aspekt deutlich. Hier geben nur etwa ein Drittel (10 von 26) der befragten Eltern an, es sei wichtig, dass männliche Erzieher für die Väter zur Verfügung stünden. Nur elf der befragten Eltern meinen, männliche Erzieher würden eine stärkere Beteiligung der Väter in Kitas bewirken.
Elterliche Erwartungen korrespondieren dabei nicht immer mit denen der Kitateams bzw. der weiblichen Mitglieder dieser Teams. Gandor/Langen (2008) stellen eine dafür bezeichnende Situation wie folgt dar: „Zivi Klaus hat offensichtlich ins Schwarze getroffen. Instinktiv hat er die Bedürfnisse der Kinder nach Spannung und Abenteuer erspürt und aufgegriffen. Von den Eltern kommt die positive Rückmeldung, dass ihre Kinder von Klaus begeistert sind […]. Erste Reaktion der Erzieherinnen war, dass sie sich über das ungewohnte Tohuwabohu massiv beschwerten: Klaus hatte die ganze Ordnung durcheinander gewirbelt“ (Gandor / Lange 2008:117). Während die Eltern die positive Reaktion ihrer Kinder als Grundlage ihrer Zustimmung nehmen, braucht es aus Sicht der Erzieherinnen offenkundig teilweise anderer Bewertungsmaßstäbe. So ist für sie nachvollziehbar die Funktionabilität des Gesamtsystems Kita von Bedeutung. In der oben beschriebenen konkreten Situation brauchte es der Vereinbarung klarer Regeln, die die Freiräume beispielsweise für das Toben einräumten, darüber hinaus aber den geregelten Ablauf des Kita-Alltags sicherstellten (vgl. ebd.).
Auch wenn die positive Resonanz von Eltern und Kitateams auf männliche Erzieher ähnlich hoch ist, sind erkennbar die Motivationen hierfür zumindest in Teilen verschieden.
Vorbehalte gegen männliche Erzieher ergeben sich unter anderem in der Frage körperlicher Nähe zu Kindern in der Berufsausübung. Frühkindliche Bildung ist Beziehungsarbeit, „und das kann man nicht auf drei Meter Distanz machen. Beziehungsarbeit hat auch mit körperlicher Nähe zu tun, je kleiner die Kinder sind, desto mehr“ (Schneider 2011:o.S.). Die gedankliche Nähe zum Missbrauch wirkt für junge Männer als Ausbildungshindernis (vgl. ebd. & Cremers et al. 2010:63).
Schwer greifbar ist der Generalverdacht des sexuellen Missbrauchs gegen männliche Erzieher, da er selten konkret formuliert wird, sondern eher beiläufig als Thema mitschwingt, wenn über die Präsenz von Männern in Kindertagesstätten gesprochen wird. Die Koordinationsstelle Männer in Kitas an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin schreibt in einer Stellungsnahme zum Thema Generalverdacht: „Derzeit gehen Expert/innen davon aus, dass sexualisierte Gewalt durch männliche Erzieher in Kitas sehr selten ist. Jedoch führen einzelne Fälle sexualisierter Gewalt immer wieder zu einem generellen Verdacht gegenüber männlichen Fachkräften. Männliche Erzieher werden manchmal angewiesen, nie allein in einem Raum mit Kindern zu sein oder körperlichen Kontakt zu Kindern möglichst zu vermeiden. Dies führt, bereits in der Ausbildung, zur Verunsicherung der Erzieher und beeinträchtigt das Verhältnis von Kindern zu männlichen Fachkräften insgesamt“ (Koordinationsstelle Männer in Kitas 2011:o.S.). Gefordert werden der differenzierte Umgang mit der Thematik und die Etablierung von Konzepten und Instrumenten zum Schutz der Kinder vor möglichen Übergriffen. Die Experten/innen der Koordinationsstelle lehnen ein Verbot des körperlichen Kontakts zwischen männlichen Erziehern und Kindern mit der Begründung ab, dass dies sowohl die männlichen Fachkräfte als auch die Kinder verunsichern würde (vgl. ebd.).
Der Verein Zartbitter e.V. setzt sich seit Jahren intensiv mit der Thematik des sexuellen Missbrauchs an Kindern auseinander und hat sich unter anderem auch mit institutionellen Rahmenbedingungen beschäftigt. Enders (2004) beschreibt, dass die Reaktion auf sexuellen Missbrauch in Institutionen ähnlich wie bei Bekanntwerden von innerfamilialem Missbrauch „maßgeblich durch Verleugnung, Abstumpfung und Vermeidung von Begegnung bestimmt“ werden (Enders 2004:2). In einer Pressemitteilung zur Kultur der Grenzachtung stellt der Verein Zartbitter fest: „Die Erfahrungen von Zartbitter in der Beratung von Betroffenen, der Begleitung von Institutionen bei der Aufarbeitung von Missbrauch in den eigenen Reihen und der Supervision von Fachkräften bestätigen immer wieder, dass Täter und Täterinnen sich gezielt für eine Mitarbeit in Institutionen entscheiden, in denen aufgrund struktureller Defizite für sie ein geringes Risiko besteht, dass ihre Taten aufgedeckt werden“ (Zartbitter e.V. 2010:o.S.). Verwiesen wird darauf, dass ein besonders hohes Risiko des sexuellen Missbrauchs durch mitarbeitende Täter/innen in solchen Einrichtungen besteht, die autoritär geleitet werden, da hier Entscheidungen weniger aus fachlichen Erwägungen sondern eher im Interesse der eigenen Machtposition getroffen werden (vgl. ebd.). „Weniger Möglichkeiten der sexuellen Ausbeutung von Kindern bestehen in klar strukturierten Einrichtungen mit niedriger Hierarchie und transparenten Leitungsstrukturen. In diesen Einrichtungen werden Entscheidungen in der Regel auf der Basis eines fachlichen Dialogs getroffen und der Umgang mit Nähe und Distanz im Team reflektiert. Somit bieten sie die Voraussetzungen, um eine „Kultur der Grenzachtung zu etablieren“ (ebd.). Nicht nur im Zusammenhang mit der Einbindung von Männern in das Fachpersonal von Kindertagesstätten ist also die Forderung aufzustellen, dass im Sinne bestmöglicher Prävention von Missbrauchshandlungen Leitungsstrukturen transparent gestaltet werden und Mitarbeiter/innen in Kindertagesstätten die Möglichkeit zur inhaltlichen und strukturellen Mitgestaltung erhalten. Auch vor dem Hintergrund eventueller Konfliktpotenziale, die sich durch das „Eindringen“ von Männern in die vormals weiblich dominierte Teamkultur ergeben können, sind solche Strukturen wohl die geeigneten, um schnell und im Sinne aller Beteiligten Problemlösungen zu entwickeln und umzusetzen.
Neben dem Generalverdacht des sexuellen Missbrauchs führt Rohrmann (2001) weitere mögliche Vorbehalte gegenüber männlichen Erziehern in Kindertagesstätten auf. So seien beispielsweise Klagen darüber zu hören, dass ein gleichberechtigtes Miteinander von Mann und Frau in der Gruppenarbeit nicht möglich sei, männliche Praktikanten die höhere Kompetenz und Weisungsbefugnis weiblicher Erzieherinnen nicht anerkennen oder Männer ihre Gruppen nicht im Griff hätten (vgl. Rohrmann 2001:3f.). Hier wird im Erleben der Schwierigkeiten in der gemeinsamen Arbeit offensichtlich sehr schnell auf das unterschiedliche Geschlecht als Begründungs abgestellt. Rohrmann verweist auf den Aspekt der Infragestellung weiblicher Fachkompetenz im Erzieher/innen-Beruf, wenn – wie aktuell zu verfolgen – immer wieder darauf hingewiesen wird, dass es der Ergänzung von Kita-Teams durch Männer bräuchte, um im weitesten Sinne erfolgreich pädagogisch zu arbeiten (vgl. a.a.O.:4). Und nicht zuletzt führen berufspolitische Argumente zu Vorbehalten gegen männliche Erzieher, wenn etwa davor gewarnt wird, dass eines der wenigen von Frauen gestalteten und auch auf allen Ebenen verantworteten Berufsfelder nunmehr auch von Männern besetzt wird (vgl. ebd.).
Deutlich wird aus diesen Vorbehalten, dass es der ausführlichen Diskussion um die Notwendigkeit und der Wirkungen von Männern in Kindertagesstätten braucht. Nicht zuletzt die Einordnung der Bemühungen um eine höhere männliche Präsenz im pädagogischen Fachpersonal der Kindertagesstätten in den allgemeinen Diskurs um die Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit sollte geeignet sein, Vorbehalte auszuräumen. Ziel muss das Erreichen eines Verständnisses für die Normalität der Präsenz von Männern in Berufen der Sozialen Arbeit sein. Ebenso sollte die Normalität der Beschäftigung von Frauen in den Berufen der Naturwissenschaft und Technik und in den Führungsebenen von Wirtschaft und Verwaltung anerkannt werden.
Neben der Gewinnung von Jungen und Männern für eine Ausbildung und Tätigkeit im Erzieherberuf muss für die nachhaltige Erhöhung des Anteils von Männern im pädagogischen Fachpersonal der Kindertagesstätten auch nach deren späterem Verbleib im Berufsfeld geschaut werden.
Die Studie „Männliche Fachkräfte in Kindertagesstätten“ weist darauf hin, dass die wenigsten männlichen Erzieher sich vorstellen können, auf lange Sicht in der Kita zu bleiben, trotzdem sie ihre Arbeit dort gern ausüben (Cremers et al. 2010:40). Die Mehrheit der für die Studie befragten Männer knüpft einen Verbleib in der Kita an Karrieremöglichkeiten, also etwa die Übernahme der Kitaleitung. Daneben stehen ein weiterführendes Studium oder ein Wechsel in andere Bereiche der Erziehertätigkeit bei vielen männlichen Erziehern auf der Agenda (vgl. ebd.). Durch die Übernahme einer Leitungsposition oder die Option hierauf wird das Berufsfeld Kindertagesstätte für Männer attraktiver (vgl. a.a.O.:41).
Neben dem beruflichen Aufstieg bietet sich Männern im Erzieherberuf die Möglichkeit der Fort- und Weiterbildung, um dem Interesse nach Veränderung nachzugehen. Wird auf die besonderen Qualitäten verwiesen, die Männer in die Arbeit als Erzieher einbringen sollen, so müssen diese Qualitäten auch in der Ausübung des Berufs weiterentwickelt und gestärkt werden (vgl. Rohrmann 2001:4). Die Forderung nach speziellen Aus- und Fortbildungsangeboten für männliche Erzieher wird auch von Experten aus verschiedenen europäischen Ländern getragen (vgl. Netzwerk der EK 1993 zit. nach Rohrmann 2001:3). Neben der Stärkung besonderer Qualitäten sollen diese auch der Gefahr einer Isolation der oft als einziger Mann in einer Einrichtung arbeitenden Erzieher entgegenwirken (vgl. ebd.).
Die Realisierung von besonderen Angeboten, die beispielsweise explizit Väter oder die Jungen einer Einrichtung ansprechen, können weitere besondere Herausforderungen darstellen. Die Darstellung solcher Aktivitäten nach außen hin bringt neben dem Imagegewinn für die Kindertagesstätte auch eine Anerkennung für diese besondere Form des Engagements von Erziehern. „Einen Tag und für diejenigen die sich trauen, auch eine Nacht lang, dreht sich alles um Väter, Großväter und ihre Kinder. Begleitet werden sie von den männlichen Kita-Fachkräften des Rabennestes. Die Mütter und auch alle weiblichen Erzieherinnen haben somit geschlossen frei“ (AWO-Kita Rabennest 2011:o.S.). In der hier in Auszügen zitierten Meldung – formuliert und herausgegeben vom männlichen Leiter einer Kindertagesstätte in Erfurt – wird besonders darauf hingewiesen, dass alle weiblichen Erzieherinnen „geschlossen frei“ haben, die männlichen Fachkräfte der Einrichtung das vorgestellte Angebot, einen Väter-Kind-Tag mit Übernachtung im Zelt, allein realisieren. In einem weiterführenden Presseartikel (vgl. meinAnzeiger.de vom 06.07.2011 – Anlage 1) wird durch denselben Verfasser die Tätigkeit eines der Erzieher, die das Vater-Kind-Angebot mit gestalteten, in der Öffentlichkeit vorgestellt. Neben vielen anderen Wirkungen, wie etwa der Bekanntmachung dazu, dass es in Kitas männliche Erzieher gibt oder dass Väter sich in der Kita engagieren können, erfolgt hier auch eine besondere Herausstellung der Leistungen und Qualitäten männlicher Erzieher. In einer Kindertagesstätte mit fünf männlichen Erziehern kann dies Teil eines möglichen Weges sein, dem nach Cremers et al. (2010:40) bestehenden männlichen Wunsch nach Anerkennung durch Karriereaufstieg gelingend eine andere Form der Anerkennung entgegenzusetzen.
In der Betrachtung der Bemühungen um den Verbleib ausgebildeter männlicher Erzieher im Beruf soll schließlich auf die Notwendigkeit des Austauschs der Männer untereinander hingewiesen sein. Hierfür bieten neben den oben schon erwähnten Fortbildungen auch trägerübergreifende Männerarbeitskreise gute Möglichkeiten. Solche Arbeitskreise existieren beispielsweise schon in den Bundesländern Bayern, Berlin, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen (vgl. Koordinationsstelle Männer in Kitas 2011b:o.S.).
Abschließend sei noch auf verschiedene Rahmenbedingungen hingewiesen, deren Umgestaltung unter Umständen zu längeren Verbleibszeiten von Männern im Erzieherberuf an Kindertagesstätten beitragen könnten. So würde eine deutliche Verbesserung der Einkommenssituation von Erzieherinnen und Erziehern unter anderem auch als deutliche Wertschätzung der professionellen Arbeit wahrgenommen werden. Männliche Erzieher in Kitas nicht allein einzustellen, sondern ihnen jeweils mindestens einen weiteren Kollegen zur Seite zu stellen, würde der Gefahr der Isolation entgegen wirken.
Anlässlich des ersten bundesweit stattfindenden Boys‘ Day – Jungenzukunftstages forderten die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP im Deutschen Bundestag in einem gemeinsamen Antrag am 14. April 2011 die Regierung dazu auf, „durch geeignete Maßnahmen dazu beizutragen, das Berufswahlspektrum von Jungen und jungen Männern zu erweitern und gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit Berufsinformationsmaterial und Qualifizierungsmaßnahmen so zu gestalten, dass sich mehr Jungen und junge Männer für Berufsfelder interessieren, in denen sie bisher unterrepräsentiert sind“ (Deutscher Bundestag 2011:3).
Nun kann dazu diskutiert werden, inwieweit es in den Möglichkeiten der Bundesregierung liegt, auf die Erweiterung des Berufswahlspektrums von Jungen Einfluss zu nehmen. Erkannt ist bei den Antragstellerinnen und Antragstellern aber, dass es der Einflussnahme auf den Prozess der Studien- und Berufswahlorientierung bedarf, um Jungen den Zugang zu Berufen der Sozialen Arbeit allgemein und zum Erzieherberuf im Besonderen zu erschließen.
Traditionelle Wege für Jungs sind durch eine „traditionelle Berufswahl, der Orientierung an dem Modell des männlichen Haupternährers und häufig auch durch Homophobie, negative Abgrenzung von Weiblichkeit und weiblich konnotierten Lebensentwürfen und Tätigkeitsfeldern gekennzeichnet“ (Kompetenzzentrum Technik, Diversity, Chancengleichheit e.V. 2008:35). Es gilt in der Begleitung von Jungen in diesem wichtigen Prozess des „Zurechtfindens“ im Leben eingeengte Perspektiven auszuweiten, neue Perspektiven zu eröffnen.
Der Versuch der Sensibilisierung von Jungen für die Berücksichtigung der Sozialen Arbeit als Teil des in Frage kommenden Berufswahlspektrums ist als Einflussnahme auf den individuellen Berufswahlprozess zu sehen. Er ordnet sich damit in die Summe der Einflüsse und Beeinflussungen des Berufswahlprozesses ein. Diese Beeinflussung sowohl des Berufswahlprozesses als auch der letztlich stattfindenden Berufswahlentscheidung erfolgt einerseits spezifisch und absichtsvoll durch Dritte, etwa durch die Angebote der Berufswahlorientierung im schulischen Kontext (vgl. Kahlert / Mansel 2007:7f.), durch die Informations- und Beratungsangebote der Agentur für Arbeit oder durch den Versuch der Einflussnahme auf eine Entscheidungsfindung des/der Berufswählenden seitens der Eltern. Andererseits wirken unspezifische Einflüsse, wie etwa die eher beiläufige Zuschreibung von vermeintlichen Fähigkeiten oder Beschränkungen in der Berufswahl durch geschlechterstereotype Alltagskommunikation in der Schule, dem familialen Umfeld oder der Peergroup.
Je weniger offensichtlich die Beeinflussung des Berufswahlprozesses durch äußere Faktoren und dritte Personen und Institutionen für den/die Berufswählende/n ist, desto intensiver muss die Auseinandersetzung mit solchen Einflussfaktoren sein, sollen sie in ihrer Wirkung an Bedeutung verlieren.
Über die gesamte Kindheit erlebte Zuschreibungen von Fähigkeiten, Interessen und Grenzen, die auf dem Geschlecht des/der Berufswählenden beruhen, werden so zwar in ihrer Wirkung auf das Berufswahlverhalten große (einschränkende) Bedeutung haben, als beeinflussend aber wahrscheinlich nicht wahrgenommen. Entsprechend wird hier nicht die einfache Information der Berufswählenden über diese Einflussgröße genügen, um ihre Bedeutung im Berufswahlprozess zu minimieren. Vielmehr wird umfangreich an Alternativen zum vertieft existenten Rollenklischee gearbeitet werden müssen, um eine Erweiterung des Berufswahlspektrums auch auf vermeintlich geschlechtsuntypische Berufsbilder zu erreichen.
Verschiedene Berufswahltheorien bewerten die Wirkung der außerhalb der Person des/der Berufswählenden liegenden Faktoren (neben der Geschlechter-stereotypisierung wirken ebenso die Aspekte sozialer Absicherung, gesellschaftlichen Ansehens von Berufsbildern, Wirkungen des eigenen familialen Hintergrundes, etc.) als unterschiedlich bedeutsam für die Berufswahlentscheidung. Um Bemühungen zur Gewinnung von Jungen und Männern für einen beruflichen Werdegang in der Sozialen Arbeit aus der Perspektive der Nachhaltigkeit zu betrachten, sollen an dieser Stelle die wissenschaftlichen Theorien zum Berufswahlverhalten eingeführt werden.
Wissenschaftliche Berufswahltheorien betrachten den Prozess der Berufswahlorientierung aus verschiedenen Perspektiven und berücksichtigen jeweils unterschiedliche Aspekte im komplexen Prozess der Entscheidungsfindung zur individuellen Verortung in der Arbeitswelt. Aus der Vielzahl denkbarer Perspektiven ergibt sich nahezu zwangsläufig eine ebenso große Zahl verschiedener Theorieansätze. So gehen verschiedene Theorien eher von der Person des/der Berufswählers/-in aus, andere eher von Einflussfaktoren aus dessen/deren Umwelt. Betrachten einige Theorien eher den Gesamtprozess beruflicher Verortung, so stellen andere tendenziell auf den Moment der eigentlichen Entscheidung für einen Berufsweg ab. Fragen der Rollenzuschreibung spielen je nach Berufswahltheorie mehr oder weniger umfangreich eine Rolle.
Im Folgenden soll versucht werden, verschiedene Berufswahltheorien auf ihre Anwendbarkeit für die schulische Berufswahlorientierung hin zu beleuchten. Im Rahmen dieser Ausarbeitung und aufgrund der oben beschriebenen Vielfalt im Bereich der Berufswahltheorien ist es dabei nicht möglich, alle bislang veröffentlichten Theorien zu diskutieren. Es sollen daher jene mit weiterer Aufmerksamkeit betrachtet werden, die im Kontext der Bemühungen um die Gewinnung von Jungen und Männern für das Berufsfeld Kindertagesstätte bedeutsam erscheinen.
Theoretische Ansätze zum Umgang mit Berufswahlproblemen sind entsprechend der oben beschriebenen verschiedenen Perspektiven häufig disparat. Als Indiz dafür kann gewertet werden, dass es – zumindest bislang – trotz mehrfacher Versuche noch keine schlüssige Theorie zum komplexen Phänomen des Berufswahlverhaltens gibt (vgl. Helsper / Böhme 2004:571). Die überwiegende Zahl der Forschungsarbeiten, die sich mit Berufswahlverhalten bzw. dem Berufswahlprozess beschäftigen, stammt aus den USA, wo sich im Gegensatz zu Europa die Berufswahlforschung seit den 1950er Jahren geradezu zu einer Paradedisziplin innerhalb der Sozialwissenschaften entwickeln konnte (vgl. Nowack 2002:8f.).
Als Begründer der Berufswahlforschung wird in der aktuellen Literatur Frank Parsons benannt, der 1908 in Boston die erste Berufsberatungsstelle eröffnete, das Bureau of Vocational Guidance und mit Choosing a vocation (1909) den ersten Berufswahlansatz (den sog. trait-and-factor - Ansatz) begründete (vgl. ebd.). Parsons ging davon aus, dass Menschen, die einer ausgemachten Berufung bei der Berufswahl folgten, insgesamt zufriedener seien, als jene, die nur irgendeinen Job ausübten (vgl. ebd.).
Diese Anfänge der Berufswahlforschung bezogen sich vor allem auf die Eignung für einen Beruf und das Erfassen von Arbeitszufriedenheit. Ziel war es, durch die Kenntnis möglichst vieler Bedingungsfaktoren einen Einblick in das Bedingungsgefüge des Wahlverhaltens zu gewinnen, und hieraus Ansätze für mögliche Eingriffe in der Berufsberatung zu finden (vgl. ebd.). Die Erkenntnis, dass Berufswahl als langjähriger Prozess zu verstehen und beschreiben ist, setzte sich erst deutlich später durch.
Insbesondere in der Zeit der Hochkonjunktur in den 1970er Jahren änderte sich die Perspektive der Berufswahlforschung weg vom Fokus auf den eigentlichen Wahlvorgang hin zu einer komplexen Betrachtung verschiedenster soziologischer Einflussfaktoren. Die sich daraus ergebende Vielfalt an Konzepten begründete bald die ersten Versuche einer zusammenfassenden Interpretation und Systematisierung. Bußhoff (1998) stellte fest, dass es bis dato nicht gelungen sei, „den komplexen Vorgang der Berufswahl von einem Ansatz her zu erklären“ (Bußhoff 1998:77) und schließt damit an die Kritik von Seifert an, der bemerkte, die fast hundertjährige Forschungstradition sei immer noch „unfertig“: die Erklärungsansätze seien „entweder zu breit und umfassend oder zu eng konzipiert“ (Seifert 1977:263). In der Folge versuchte u.a. Bußhoff die Entwicklung eines Ordnungsschemas, das vorhandene Berufswahltheorien miteinander in Beziehung stellt und die Notwendigkeit der Verknüpfung verschiedener Theorien begründet.
Wie oben beschrieben, stellen Berufswahltheorien auf verschiedenste Perspektiven zum Prozess der Berufswahl bzw. der Berufswahlentscheidung ab. Unterscheidungsmerkmale sind beispielsweise Exogenität oder Endogenität von Einflussfaktoren, Prozess- oder Momentorientierung des Theorieansatzes, Milieu- oder Systembezug. In die folgende vergleichende Betrachtung verschiedener berufswahltheoretischer Ansätze sollen vor allem solche Ansätze einbezogen werden, die im aktuellen Diskurs zur Berufswahlvorbereitung bzw. Berufswahlorientierung an Schule eine Rolle spielen.
Der person-job-fit-Ansatz lässt sich im Ansatz zurückführen auf Frank Parsons, der 1909 ein Drei-Stufen-Modell zur Berufsberatung entwickelte. Parsons ging davon aus, dass die Berufswahl auf einer Persönlichkeitsanalyse, einer Arbeitsplatzanalyse und einer optimalen Zuordnung durch professionelle Beratung beruhen sollte. Dieser Ansatz verfolgt das Ziel der Erreichung einer größtmöglichen Kongruenz zwischen Mensch und Arbeitsumgebung zur Optimierung vor allem der persönlichen Zufriedenheit und damit auch der Leistungsfähigkeit des/der Berufstätigen (vgl. Winterhoff-Spurk 2002:52). Aus der Unterstellung einer möglichen Passgenauigkeit zwischen Persönlichkeit und Anforderungen eines Berufsbildes ließe sich aufgrund definierbarer Kriterien für jeden Menschen „der passende“ Beruf finden.
Die Herausforderung bestünde letztlich also darin, ein möglichst genaues System zur Erhebung von Kriterien zu Persönlichkeit und Anforderungen des Berufsbildes zu entwickeln. Dem Ansatz konsequent folgend dürfte bei entsprechender frühzeitiger Testung vor dem Treffen einer Berufswahlentscheidung nahezu in jedem Fall die passende Berufswahl-entscheidung zu treffen sein. Betrachtet man die Realität beruflicher Biografien insbesondere in den Industriestaaten, so steht dem die Tatsache entgegen, dass diese hier zunehmend durch grundlegende Wechsel bzw. Veränderungen in der Ausübung von Berufen gekennzeichnet sind. Der Terminus des lebenslangen Lernens impliziert schließlich auch die Notwendigkeit lebenslanger Anpassungsbemühungen im Beruf, die nicht allein auf die Veränderungen im jeweiligen Beruf zielen, sondern den Wechsel im Berufsfeld oder gar zwischen verschiedenen Berufsfeldern mit in Betracht ziehen. In der Schlussfolgerung ist also Vorsicht bei einem möglichen Versuch einer absoluten Zuordnung von Persönlichkeits- und Berufsmerkmalen geboten. Als weit gefasste Orientierungshilfe für bestimmte Berufsfelder ausgelegt, ist der person-job-fit-Ansatz sicherlich geeignet, notwendige Unterstützung in der beruflichen Grundorientierung zu bieten. So wäre etwa die grundsätzliche Nähe einer Persönlichkeit zu Berufsbildern der Sozialen Arbeit darstellbar, wenn die entsprechende Person beispielsweise über die im Berufsfeld erwarteten Eigenschaften und Interessen verfügt.
Berufswahltheorie von Holland (1985, 1997)
Die in der aktuellen Berufsberatung von Schülerinnen und Schülern insbesondere durch die Arbeitsagentur häufig zugrunde gelegte Berufswahltheorie ist jene von Holland (1985, 1997). Die Berufswahltheorie von Holland ist dem Differentialpsychologischen und dem person-job-fit-Ansatz zuzuordnen.
Wie Parsons vertritt auch Holland die Annahme, dass die Berufswahl auf einer Persönlichkeitsanalyse, einer Arbeitsplatzanalyse und einer optimalen Zuordnung durch professionelle Beratung beruhen sollte. Die empirische Grundlage der Berufswahltheorie von Holland bildet eine Studie von Guilford aus dem Jahr 1954. Holland leitete aus der darin erhobenen Faktorenanalyse seine Typologie ab. Sowohl für die Zuordnung von Menschen zu einem Interessentypen, als auch für die Bezeichnung von beruflichen Umwelten benennt er 6 Typen: (1) realistic – praktisch-technische Orientierung, (2) investigative – intellektuell-forschende Orientierung, (3) artistic – künstlerisch-sprachliche Orientierung, (4) social – soziale Orientierung, (5) enterprising – unternehmerische Orientierung, (6) conventional – konventionelle Orientierung. (RIASEC) (vgl. Holland 1985:3). Die sechs Interessentypen sind jeweils durch berufliche Interessen, Fähigkeiten und Einstellungen gekennzeichnet. Durch Vergleich der Merkmale einer Person mit jedem der sechs Modelltypen kann relativ zuverlässig bestimmt werden zu welchem die größte Ähnlichkeit besteht.
Holland geht davon aus, dass Menschen nach Umwelten suchen, die es ihnen erlauben, ihre Fähigkeiten, Fertigkeiten und Interessen bestmöglich umzusetzen. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass mit einer möglichst hohen Übereinstimmung von Interessen- und Umwelttypus eine hohe Arbeitszufriedenheit und damit Leistungsfähigkeit im Beruf einhergeht (vgl. Holland 1985:4). Eine hexagonale Anordnung der 6 Interessentypen (hexagonales Modell) erlaubt nach Holland zudem die Feststellung eines bestimmten Maßes an Stabilität in der Zuordnung zu einem Interessentyp. Menschen mit näher beieinander liegenden Interessen weisen stabilere Interessen und stabilere berufliche Aktivitäten auf. Dies bedeutet eine höhere Arbeitszufriedenheit, ihr Verbleib in einer Unternehmung ist wahrscheinlicher, die berufliche Leistung der betreffenden Person ist voraussichtlich besser (vgl. ebd.).
In der Studien- und Berufsberatung der Agentur für Arbeit wird zur Sensibilisierung für eine weiterführende Berufswahlorientierung der sog. EXPLORIX-Test verwandt. Dieser beruht auf der Berufswahltheorie nach Holland und nutzt die 6 von Holland bezeichneten Interessen- und Umwelttypen. Im Ergebnis der Testung erhalten Schüler/-innen zum einen eine Auswahl möglicher Berufe, die zu ihrem Interessentypus passen, genannt. Zum anderen erhalten sie eine Rückmeldung dazu, inwiefern die aktuell selbst vorgenommene Interessenverortung auf eine stabile Studien-/Berufswahlentscheidung schließen lässt (vgl. Hexagonalmodell oben). Die Berufsberatung der Arbeitsagentur legt jedoch Wert auf die Feststellung, dass die Testergebnisse lediglich als Denkanstoß und grobe Orientierungshilfe geeignet seien und keine abschließende Empfehlung für einen bestimmten Beruf darstellten.
Unberücksichtigt bleibt bei Holland, woher die Prägung eines bestimmten Interesses stammt und als wie nachhaltig der jeweils festgestellte Interessentypus angenommen werden kann.
[...]
Kommentare