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Mehr InfosBachelorarbeit, 2012, 64 Seiten
Bachelorarbeit
1,7
Im Gegensatz zu den in Punkt 3.1 und 3.2 vorgestellten Modellvorstellungen ist das Münchener Hochbegabungsmodell etwas komplexer. Es steht im Kontrast zu den eindimensionalen, nur auf die Intelligenz schauenden, Definitionen von Hochbegabung, die dazu noch „bestimmte Begabungsbereiche ausschließen“.[1] Hier kommt es zur Unterscheidung der einzelnen möglichen Leistungsbereiche, in denen Hochleistungen erbracht werden können und zu einer Untergliederung der Begabungsfaktoren (siehe Abbildung 3). Die genetischen Begabungsfaktoren werden im Münchener Hochbegabungsmodell in Verbindung mit günstigen nicht-kognitiven Persönlichkeitsmerkmalen und einem guten sozialen Umfeld gebracht. Hochbegabung ist demnach ein „Ergebnis des Zusammenspiels zwischen kognitiven und nichtkognitiven Persönlichkeitsmerkmalen sowie Umweltfaktoren“.[2]
Es kommt erstmals zu einer Berücksichtigung von allen Faktoren, die einen Menschen beeinflussen und seine Leistung demnach auch modifizieren können. Außerdem versucht dieses Modell zu verdeutlichen, dass Begabung nicht gleich gute Leistung entspricht, da diese verfälscht werden könnte und noch andere „nichtintellektuelle Bereiche“ besonders ausgeprägt sein könnten.[3]
Abb. 3: Münchener Hochbegabungsmodell von Heller, Perleth & Hany (Stumpf 2012, S. 22)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Als Kritik kann man anmerken, dass die unterschiedlichen Bereiche allesamt unter dem Begriff Begabung zusammengefasst werden, was es in der Praxis schwer macht Hochbegabung zu erkennen. Dazu kommt der Punkt, dass bestimmte Faktoren, wie zum Beispiel Kreativität oder Aufgabenmotivation, nicht messbar sind. Da das Modell zu komplex ist gibt es keine deutliche Erklärung, was unter Hochbegabung konkret zu verstehen ist.
Neben diesen drei beschriebenen Modellvorstellungen gibt es noch weitere Modelle, wie das Komponentenmodell der Talententwicklung von Wieczerkowski und Wagner (1985), das mehrdimensionale Begabungskonzept von Urban (1990) oder das differenzierte Begabungs- und Talentmodell von Gagné (1993), welche hier nicht genauer beschrieben werden sollen. Es ist festzuhalten, dass alle Modellvorstellungen in einer allgemeinen Entwicklungslinie stehen und aufeinander aufbauen.
Alle entwickelten Modellvorstellungen dienen dazu, mögliche Definitionen von Hochbegabung zu geben und diese zu erklären. Wie schon erwähnt stellen die Modellvorstellungen eine Basis für die Diagnostik von Hochbegabten dar, über die im nächsten Abschnitt ein kurzer Einblick gegeben wird.
Nachdem die unterschiedlichen Modellvorstellungen eine mögliche Antwort auf die Frage „Was versteht man unter Hochbegabung?“, geben, ist immer noch nicht klar geworden, wann Hochbegabung überhaupt anfängt, warum es bestimmten Hochbegabten nicht gelingt, ihr Leistungspotential auszuschöpfen und welche Möglichkeit für diese Individuen besteht, Hochleistung bzw. Leistungsexzellenz zu erreichen.[4]
Zur Klärung dieser Fragen gibt es die psychologische Diagnostik mit dafür ausgebildeten Psychologen, die eine evtl. Hochbegabung mittels klarer, messbarer Kriterien erkennen können (siehe Abbildung 4).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 4: Häufigkeit verwendeter Identifikationskriterien (Ziegler 2008, S.60)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bei einer Betrachtung des validen Prozentsatzes, ohne die fehlenden und unklaren Aussagen, die das Ergebnis verfälschen könnten, lässt sich erkennen, dass die Leistungskriterien (Intelligenz und Leistung) mit über 50% stark im Vordergrund stehen. Den Leistungen der Kinder in der Schule und/oder einem Eignungstest wird dabei am meisten Gewicht zugesprochen. Einen Hochbegabten zu identifizieren ist allerdings weitaus schwieriger, da viele Faktoren berücksichtigt werden müssen. Der Fokus liegt jedoch meist nur auf einer Variablen.
Da es nicht nur den Intelligenzquotient als entscheidenden Indikator für eine mögliche Hochbegabung gibt, sondern auch überdurchschnittliche Leistungen in Musik, Sport oder Kunst als Kennzeichen für besonderes Talent oder Hochbegabung gelten, ist es schwer eine auftretende Hochbegabung zu erkennen und eine geeignete Diagnostik zu finden. Zu Beginn müssen bestimmte Symptome (z.B. Langeweile im Unterricht) auftreten, die erst einmal erkennen lassen, dass eventuell eine Begabung vorliegen könnte. Den ausgebildeten Fachkräften steht dann eine „breite Palette an Messinstrumenten, die neben Intelligenztests auch Leistungstests und Beurteilungsbögen für Dritte beinhalten“ zur Verfügung. Diese beschränken sich nicht nur auf die intellektuellen Fähigkeiten.[5]
Einige mögliche Diagnoseverfahren werden im Folgenden kurz beschrieben.
Die Münchener Hochbegabungstheorie ist für die Primar- und Sekundarstufe geeignet und erfasst „vorwiegend die Intelligenzdimension der Verarbeitungskapazität“ vom verbalen, quantitativ-mathematischen und nonverbal-technischen Denken der Kinder. Der Berliner Intelligenzstrukturtest für Jugendliche erfasst „neben der Verarbeitungskapazität auch die Verarbeitungsgeschwindigkeit, den Einfallsreichtum und die Merkfähigkeit“. Die Advanced Progressive Matrices (APM) ist ein „Sprachfreier Matrizentest, der zur Messung der allgemeinen Intelligenz unter ausschließlicher Verwendung figuraler Testaufgaben in ansteigender Schwierigkeit dient“.[6] Jedes anerkannte Diagnostikverfahren hat seine Vor- und Nachteile. Es sollte vorher immer geklärt werden, welches dieser Diagnoseverfahren sinnvoll ist, um dann zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt zu werden.
Die Hochbegabtendiagnostik beschäftigt sich neben einer Feststellung der Intelligenz auch mit den Stärken und Schwächen des Kindes, mit den Schwierigkeiten, die bei der Entfaltung des individuellen Leistungspotentials auftreten können und versucht bei auftretenden Problemen eine Lösung zu finden. Zusätzlich beinhaltet sie Beobachtungen in Bezug auf die biografische Entwicklung eines Kindes, auf sein Verhalten im Unterricht und auf das soziale Miteinander. Diese Beobachtungen legen ihren Fokus auf Eigenschaften, die einen hochbegabten Schüler als solchen identifizieren könnten oder auf Verhaltensweisen, die von ihm erwartet werden. Hier ist nun das Problem, dass es Schüler gibt, die dieses Muster nicht erfüllen und dadurch nicht erkannt werden. Es gehört zu einer schwierigen und komplexen Aufgabe ein hochbegabtes Kind als solches zu identifizieren, da Randgruppen eine Diagnose sehr schwer machen. Zu den Randgruppen gehören neben den Underachiever (siehe Punkt 2.3) auch die sogenannten Overachiever. Hier handelt es sich um Kinder, deren erzielten Leistungen besser sind, als aufgrund ihrer intellektuellen Fähigkeiten von ihnen zu erwarten sind. Dieses Phänomen lässt sich anhand des Einflusses der sozialen Umwelt erklären, da die Ausprägung und Entwicklung der Intelligenz sehr von „sozialer Privilegien“ abhängig ist. Kinder werden im Verhalten, in ihren Aktivitäten und in ihrer Ausbildung häufig von ihren Eltern beeinflusst. Aus diesem Grund ist gerade im Kindergarten- und Grundschulalter eine Fehldiagnose von Hochbegabung nicht selten. Viele Kinder weisen in dieser Zeit, bedingt durch die gute Förderung der Eltern, eine höhere intellektuelle Fähigkeiten auf, trotzdem ist nicht zwangsläufig von einer Hochbegabung auszugehen. Da im „Kindesalter noch nicht von einer stabilen Entwicklung der Intelligenz“ ausgegangen werden kann, ist es möglich, dass der Entwicklungsvorsprung, den die Kinder anfangs noch besitzen, schnell wieder verschwindet.[7] Durch eine mögliche Fehldiagnose kann es dann in der Folgezeit zu psychischen Störungen beim Kind kommen, da es die, an seine angebliche Begabung gestellten Erwartungen nicht mehr erfüllen kann. Neben einer möglichen Fehldiagnose als hochbegabt, kommt es sehr häufig vor, dass hochbegabte Kinder nicht als solche identifiziert werden. Auch wenn die überwiegende Mehrheit der hochbegabten Kinder Erfolg in der Schule und im späteren Leben hat, ist die Diagnose Hochbegabung nicht unbedingt immer positiv für ein Kind. Die dadurch auftretenden Probleme werden im folgenden Abschnitt beschrieben.
„Selbst Einstein hatte nur `ne vier in Mathe und war später mal total genial!“
Dieses Zitat einer bekannten Kinderserie zeigt deutlich den Zusammenhang zwischen Begabung und den tatsächlichen Leistungen in der Schule, welche keine Garantie für das weitere Leben sein müssen.
Nun stellt sich aber die Frage, warum begabte Kinder, trotz hohen intellektuellen Fähigkeiten, in der Schule versagen? Zu diesem Thema finden sich zahlreiche Studien, die zeigen, dass dieser Umstand von vielen äußeren und inneren Faktoren abhängt. Wenn das Umfeld, in dem ein Kind aufwächst, ihm nicht die erforderliche Erziehung bieten kann oder die Motivation zum Lernen bzw. Arbeiten fehlt, kann es schon außerhalb der Schule zu frühzeitigen Entwicklungsstörungen kommen. Ein mögliches Scheitern von hochbegabten Kindern kann also darauf zurückgeführt werden, dass „die Umwelt, sich nicht genügend auf die besonderen Bedürfnisse begabter Kinder und Jugendlicher einstellt.“[8]
Hochbegabte Kinder können meistens schon vor Beginn der Schullaufbahn sowohl lesen, als auch rechnen und warten fast sehnsüchtig auf den Eintritt in die Schule. Wenn sie dann eingeschult werden, entsprechen die in der Schule herrschenden Anforderungen meist nicht dem Leistungsniveau, sondern liegen weit darunter. Dies kann im weiteren Unterrichtsverlauf schnell zu Langeweile führen. Durch das Nichtausschöpfen des Leistungsvermögens der Kinder können außerdem „Fehlentwicklungen, wie Leistungsversagen und Leistungsängsten“ auftreten.[9]
Schon zu Beginn ihrer Schulzeit werden die Kinder enttäuscht, da ihre Erwartung, etwas Neues zu lernen erst einmal nicht erfüllt wird. Bei ständiger Unterforderung der Kinder, oder wenn diese alle schulischen Aufgaben mit Leichtigkeit erfüllen können, besteht für sie keine Notwendigkeit „sich intensiv anzustrengen, sich Lerntechniken anzueignen, oder schwierige Lernsituationen durchzustehen“.[10] Dies führt dazu, dass die Kinder „gar nicht erlernen, strukturiert zu arbeiten, und die Anlagen dazu verkümmern“. Auch die Motivation, Dinge für die Schule zu erledigen ist bei solchen Schülern nicht vorhanden. Dieses Wissen und diese Erfahrung fehlen ihnen dann in den weiterführenden Schulen, was trotz ihres hohen Leistungspotentials zu einem Abfall der schulischen Leistungen führen kann.[11]
Die Schüler, die unter ihrer Leistungsexzellenz bleiben, werden als Underachiever bezeichnet. Sie haben kein Interesse am Lernen oder an anderen schulischen Aktivitäten, sondern sich oft vom schulischen Geschehen ab und konzentrieren sich kaum noch auf den Unterricht. Sie legen weniger Wert auf Erfolg und haben im Gesamtbild keine Lust auf Schule, was sie zu „Problemkindern“ macht. Dieser Punkt wirkt sich nicht nur auf die schulischen Leistungen aus, sondern verschlechtert auch das Verhältnis zu den Lehrern. Die Schüler werden oft als störend und frech betitelt, worunter dann die Anerkennung bei den Mitschülern leidet. Leistungsversagen von begabten Schülern und mögliche „Auffälligkeiten in ihrer Persönlichkeit und ihrem Sozialverhalten“ lassen sich also oftmals auf eine schulische Unterforderung zurückführen.[12]
Neben dem Underachievment kann es bei besonders begabten Schülern auch zu Versagensängsten kommen. Durch mögliche negative Erfahrungen kann es passieren, dass Kinder nicht das nötige Selbstvertrauen aufbringen können und sie dann an ihren Fähigkeiten zweifeln. Die Kinder üben selbst Druck auf sich aus, da sie der Überzeugung sind, sie können die geforderten Aufgaben nicht bewältigen. Auch dieser Fakt kann zu einem Abfall der möglichen Leistung führen. Studien haben gezeigt, dass Schüler mit einem größeren Selbstvertrauen und Glauben an ihre Fähigkeiten weniger Störungen aufweisen, als die Schüler, die sich nichts zutrauen.
Das fehlende Selbstwertgefühl kann außerdem dazu beitragen, dass es zu Problemen im Umgang mit den Mitmenschen kommt, was wiederum eine soziale Ausgrenzung zur Folge haben kann. Ein weiteres, bei Hochbegabten häufig auftretendes Problem, ist die Angst „bei guten Leistungen sozial ausgegrenzt zu werden“. Studien haben einen „negativen Stereotypen über Hochbegabte und Hochleistende“ gezeigt, welcher aussagt, dass je begabter ein Schüler ist und je besser seine Leistungen sind, desto schlechter ist auch seine Stellung in der Klassengemeinschaft.[13] Anhand solcher Studien lässt sich erkennen, dass kognitive Fähigkeiten einen Einfluss auf soziales und emotionales Verhalten der Kinder haben können.
Auch der Fakt, dass sich Kinder ihre Freunde meist nach gleichen Interessen aussuchen, kann bei hochbegabten Kindern zu Problemen in Bezug auf ihre Freundschaftsbeziehungen führen. Sie haben andere Interessen als die Kinder ihres Alters und aus ihrer Klassengemeinschaft, da sie in intellektueller Hinsicht ein anderes Niveau aufweisen. Hinzu kommen noch der hohe Wissensdrang und die Begierde neue Dinge zu lernen und zu verstehen, was wiederum zu weiteren Diskrepanzen mit der sozialen Umwelt führt. Zudem besteht ein Zusammenhang zwischen der kognitiven Intelligenz und der sozialen Intelligenz, da begabte Kinder oft Eigenschaften aufweisen, die sie in einer Gruppe von Gleichaltrigen auffallen lassen. Meist übernehmen sie hier eine führende oder dominante Rolle. Diese aufgezählten sozialen Faktoren können bei hochbegabten Kindern dazu führen, dass „die soziale und emotionale Entwicklung hinter dem biologischen Alter“ zurückbleibt. Durch diese „Asynchronität in der Entwicklung“ kann es zu weiteren Störungen und Problemen kommen.[14]
Es wurde deutlich gezeigt, dass es viele Gründe haben kann, warum hochbegabte Kinder unter ihrem möglichen Leistungsniveau bleiben und nicht die Leistungen erreichen können, die eigentlich möglich wären. Dies kann zu schwerwiegenden Verhaltensproblemen, wie Störungen der Konzentration und Daueraufmerksamkeit, ADHS, Wahrnehmungsstörungen, Störungen des Antriebs, des Arbeitstempo und der Eigenmotivation oder auch zur Störung der Merkfähigkeit führen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Probleme bei hochbegabten Kindern, egal in welcher Form sie sich bemerkbar machen, verschiedene intrinsische und extrinsische Ursachen haben. Dazu gehören unter anderem eine ungenügende Motivation, motorische Defizite, Milieufaktoren oder auch mangelnde Förderung und ungenügende Lernressourcen. Das Scheitern von hochbegabten Kinder lässt sich also teilweise darauf zurückführen, dass „die Umwelt, sich nicht genügend auf die besonderen Bedürfnisse begabter Kinder und Jugendlicher einstellt“[15] Aus diesem Grund sollte am besten schon vor Eingang in die Grundschule versuchen, Entwicklungsstörungen aufgrund Unterforderung zu vermeiden oder sie bewusst vermindern. Denn gerade in den frühen Lebensjahren lernen Kinder, bedingt durch das Eigeninteresse und dem Zutun der Eltern, am schnellsten und intensivsten. In der Schule sollte sich das Lernangebot am Niveau der einzelnen Schüler orientieren, um die Persönlichkeitsentwicklung nicht zu stören, da Regeln und Normen zu einer Einengung des Hochbegabten führen können.
Sämtliche Fehlentwicklungen können durch gezielte Fördermaßnahmen vermieden werden, von denen im folgenden Kapitel einige Möglichkeiten beschrieben werden.
Schon in der Antike war man sich der Existenz von Hochbegabung bewusst und die Menschen vermuteten dahinter „das Wirken einer göttlichen Fügung“.[16] Heutzutage ist die Hochbegabtenforschung und Förderung besonders in Amerika schon seit vielen Jahrzehnten stark ausgedehnt. Den Beginn der Hochbegabtenforschung lässt sich schon 1869 durch Galton datieren. Ab diesem Zeitpunkt beschäftigte man sich auch schon mit der Frage, ob spezifische Begabung allein auf genetische Faktoren zurückzuführen ist. Bei den meisten Erklärungen von Hochbegabung wird die Intelligenz als Kerngröße herangezogen. Ein wichtiges Ereignis in der Hochbegabtenforschung ist daher auch die Konzeption des Intelligenzquotienten (IQ) im Jahre 1911, da dieser nun als „standardisiertes Maß für intellektuelle Leistung“ genommen wurde.[17]
1975 fand der erste Weltkongress zum Thema Hochbegabung in London statt, bei dem man forderte, die eindimensionalen Konzeption hinsichtlich der Intelligenz durch eine multidimensionale Konzeption der Hochbegabung zu ersetzen, um andere Bereiche nicht auszuschließen. Denn wenn Hochbegabung eine feste Konstante ist, die mit den Erbanlagen weitergegeben wird und sich nicht von äußeren Faktoren beeinflussen lässt, ist eine Förderung überflüssig. Nur durch eine Einflussnahme der Umwelt hat eine Förderung die Möglichkeit auch positiv zu wirken.
Hochbegabtenförderung in Deutschland hat sich erst seit den 80er Jahren deutlich entwickelt. „Seit Mitte der 1990er Jahre“ wurde sich in Deutschland erst richtig mit der Entwicklung von immer besseren Fördermaßnahmen beschäftigt und das Thema „Hochbegabung“ hat auch zunehmend die Aufmerksamkeit in bildungspolitischen Diskussionen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen auf sich gezogen.[18] Es wurden Beratungsstellen eröffnet, die sich auf die „Beratung bei (vermuteter) Hochbegabung spezialisiert haben“ und auch die Fortbildungsmöglichkeiten der Lehrer haben sich verbessert.[19] So kam es, dass sich in den letzten Jahren immer weiter die Meinung verbreitet hat, dass nicht nur Kinder mit einer Lernschwäche oder schlechten Noten ein Recht auf Förderung haben. Auch die Schüler, die als besonders intelligent identifiziert und als „Musterschüler“ betitelt werden, müssen eine zielgerechte und angemessene Förderung erhalten. Diese dient dazu, die diagnostizierten Stärken anzuregen, zu stärken und dem Hochbegabten zu helfen, mit seiner Begabung besser umgehen zu können. Außerdem kann man durch eine gezielte Förderung die „guten intellektuellen Voraussetzungen“ steigern und bei den Schülern eine Leistungssteigerung erzielen.
Die eingesetzten „Fördermaßnahmen können helfen, Unterforderung zu vermeiden oder zu reduzieren und Probleme gar nicht entstehen zu lassen“. Sie dienen gleichzeitig dazu, die „guten intellektuellen Voraussetzungen“ zu steigern und bei den Schülern eine Leistungssteigerung zu erzielen.[20] Wichtig ist, dass die einzelnen Fördermaßnahmen eine genaue Zielgruppe erfassen, ihre Förderziele beschreiben und sich auf die Förderung der Gesamtpersönlichkeit beziehen. Durch eine frühe Förderung und frühes Begleiten der Kinder können auftretende Verhaltensstörungen ausgeschlossen werden.
Aufgrund der unterschiedlichen Begabungsformen und Typen von Kindern muss die Art der Förderung auf den Begabten und dessen individuelle Merkmalen abgestimmt werden und kann nicht altersspezifisch entschieden werden. In den nächsten Kapiteln werden einige mögliche Förderungsmaßnahmen vorgestellt, die für eine individuelle Förderung der Kinder zur Verfügung stehen.
Unter Akzeleration wird das „schnellere Durchlaufen eines Curriculums verstanden.“[21] Das bedeutet, dass die Ausbildung der Kinder früher begonnen, schneller durchlaufen oder der Unterrichtsstoff für sie schneller durchgearbeitet wird. Die komplette Schullaufbahn wird dadurch verkürzt und es wird versucht den Lehrplan flexibler zu gestalten, damit sich dieser an den Fähigkeiten und nicht am Alter der begabten Schüler orientieren kann. Man versucht dadurch den Schülern auf einer höheren Ebene, die der Begabung und Motivation entsprechen, zu unterrichten und so eine schulische Unterforderung vorzubeugen.
Es gibt verschiedene Akzelerationsformen, die individuell oder als Gruppe vollzogen werden können. Klassenstufenbezogene Formen der Akzeleration sind die vorzeitige Einschulung, Überspringen von Schulklassen oder auch die Akzeleration ganzer Schulklassen. Bei der fachspezifischen Akzeleration nehmen begabte Schüler nur in einem oder mehreren Fächern am Unterricht einer höheren Klasse teil.
„Akzelerationsmaßnahmen zählen häufig zu denjenigen Förderangeboten, die die größten positiven Effekte erzielen“ allerdings wird der Unterschied zwischen „der eigenen körperlichen und geistigen Entwicklung“ noch verschärft.[22] Dies liegt daran, dass es oft zu einer Diskrepanz kommt zwischen dem, was hochbegabte Kinder leisten könnten und dem was sie auch wirklich ausführen können. Als Beispiel sind Jungs feinmotorisch nicht ganz so geschickt und versuchen Tätigkeiten, wie Basteln und Malen lange aus dem Weg zu gehen. Werden diese Kinder dann auf Grund eines kognitiven Entwicklungsvorsprungs früher als eigentlich geplant eingeschult erweitert sich diese Diskrepanz noch weiter.
Frühzeitige Einschulung
Unter einer frühzeitigen Einschulung versteht man den Eintritt eines Kindes in die Schule, „das zum Einschulungstermin das reguläre Einschulungsalter noch nicht erreicht hat.“ In Deutschland wird der Eintritt in die Schule durch das „Hamburger Abkommen“ geregelt. Dieses besagt, dass „alle Kinder, die bis zum 30. Juni des gleichen Kalenderjahres das sechste Lebensjahr vollendeten“ schulpflichtig sind23.Durch neue Erkenntnisse wird die Einschulung anhand des chronologischen Alters immer mehr in Frage gestellt, da man bei der Einschulung zwar auf altershomogene Schüler trifft, allerdings nicht auf entwicklungshomogene, denn jedes Kind entwickelt sich unterschiedlich. Da Kinder oftmals unterschiedliche Niveaus hinsichtlich der körperlichen und geistigen Entwicklung aufweisen, sollte sich der Zeitpunkt der Einschulung besser nach dem „körperlichen und geistigen Entwicklungsstand des Kindes“ richten.[24] Durch eine reine Orientierung am chronologischen Alter kann die erste Phase in die Schule für viele begabte Kinder etwas Negatives sein, da sie sich im Unterricht langweilen, sich unwohl fühlen und sie deshalb eine negativere Einstellung gegenüber Schule erhalten.
Durch eine frühzeitige Einschulung erzielt man höhere Anforderungen für die Kinder und versucht so die Lernmotivation besonders hoch zu halten. Den hochbegabten Kindern wird so ein, für sein Leistungs- und Interessensniveau passendes Umfeld geschaffen. Diese Form der Akzeleration kann nur einmal genutzt werden. Als wichtigstes Kriterium gilt hier die kognitive Leistungsfähigkeit des Kindes, vor allem sollte es selbstständig lesen lernen und rechnen können. Die „soziale, emotionale und körperliche Entwicklung sollte zumindest altersgerecht, also nicht verzögert sein.“ Nach einer frühzeitigen Einschulung sollten weitere Möglichkeiten der Förderung in Betracht gezogen werden, da das Leistungsniveau durch das schnelle Lerntempo bald wieder erreicht ist. Des Weiteren besteht die Möglichkeit direkt in die 2. Klasse eingeschult zu werden. Allerdings sollten bei dieser Aktion „begleitende Maßnahmen“ eingesetzt werden, um dem Kind den Einstieg ins Schulleben zu erleichtern.25
Bei einem früheren Beginn der Schullaufbahn stellt sich die Frage, ob die Schüler einen psychischen Schaden davontragen, wenn sie mit älteren und gleichzeitig biologisch, emotional und sozial reiferen Kindern unterrichtet werden. Auch verkürzt man so die wichtige Zeit im Kindergarten, in der Kinder erst einmal den korrekten Umgang mit ihren Mitmenschen lernen und sich spielerisch frei entfalten können. Allerdings wird diese Argumentation mit der Begründung widerlegt, dass sich besonders begabte Kinder oftmals sowieso älteren Kindern anschließen, da sie hier die Möglichkeit haben, sich über für sie interessantere Themen auszutauschen.
Wird im Kindergarten den Fähigkeiten und Interessen der begabten Kinder nicht mehr ausreichend Angebot geliefert, kann man durch eine frühzeitige Einschulung einer Unterforderung entgegen wirken und erspart dem Kind möglicherweise ein späteres Überspringen einer Klassenstufe, was mehr Belastung für das Kind bedeuten würde.
Es wird vermutet, dass eine frühzeitige Einschulung „emotionale, soziale oder Leistungsprobleme“ mit sich bringt. Allerdings sind diese Thesen wissenschaftlich noch nicht bewiesen worden. Die Entscheidung, ob ein Kind früher eingeschult werden sollte ist von großer Wichtigkeit, da es beträchtliche Folgen haben kann, einem Kind den Früheintritt in die Schule zu verweigern oder gar ein weniger begabtes Kind zu früh einzuschulen.
Von der Möglichkeit der frühzeitigen Einschulung wird nur selten Gebrauch gemacht, da das Kind nicht nur in seiner intellektuellen Entwicklung fortgeschritten sein muss, sondern ebenfalls auf körperlicher und sozial- emotionaler Ebene akzeleriert oder zumindest nicht verzögert sein sollte.
Überspringen von Klassen
Beim Überspringen von Klassen gibt es keine einheitlichen Regelungen in den Bundesländern. Oftmals werden einige Klassen vom Überspringen ausgeschlossen, in der Grundschule darf nur einmalig und in der Regel insgesamt nur zweimal in der Schullaufbahn übersprungen werden.
Mit dem Überspringen in die nächsthöhere Klasse wird einer Unterforderung entgegengewirkt und damit auch die Lernmotivation der begabten Schüler hochgehalten. Bei Untersuchungen der Leistungen von Schülern, die eine Klassenstufe übersprungen haben, kam heraus, dass anfängliche Verschlechterungen in den Noten entstehen können. Diese werden durch die davon vorangetriebene Motivation und dem schnellen Lerntempo schnell wieder verbessert, es kommt demnach zu keiner Verschlechterung bezüglich der Schulleistungen. Oftmals sind die Schüler sogar so hochbegabt, dass sie sich schon nach „wenigen Monaten wieder an der Leistungsspitze der neuen Klasse befinden.“[26]
Auf emotionaler Ebene ist das Überspringen schwieriger zu beurteilen, denn das Überspringen ist zwar hauptsächlich bedingt durch konstante Leistungen in allen Bereichen, hohes Durchhaltevermögen und hohe Motivation, erfordert aber auch ausgereifte soziale Kompetenzen, um sich in einen neuen Klassenverband besser integrieren zu können. Bei einem stabilen sozialen und emotionalen Umfeld kommt es in diesem Bereich jedoch seltener zu Problemen.
Beim Überspringen von Klassen hat man den Vorteil, dass die Lehrkräfte die begabten Schüler schon im Vorfeld gründlich prüfen und beobachten können, ob diese den Voraussetzungen und Anforderungen einer höheren Klassenstufe gewachsen sind. Trotzdem können nach dem Überspringen „Leistungsprobleme im Sinne der Überforderung“ oder auch „negative emotionale und soziale Auswirkungen„ entstehen.[27] Allerdings weist ein Zurückhalten mehr negative Konsequenzen auf, als das Überspringen selbst und die dadurch entstandenen Verhaltensauffälligkeiten, wie zum Beispiel aggressives, demonstratives, resignatives Verhalten, lassen sich nicht mehr rückgängig machen. Auch im sozial-emotionalen Bereich kann ein Zurückhalten der begabten Schüler durch eine Unterforderung zu unbefriedigenden sozialen Kontakten und einem geringen Selbstwertgefühl kommen. Außerdem kann es zu einer Verringerung der Arbeitsmotivation kommen und ineffektive Lerngewohnheiten entstehen.[28] (S. 71)
Eine Unterform des Überspringens von ganzen Klassen ist der Teilunterricht in höheren Klassen. Bei dieser fachspezifischen Fördermaßnahme werden begabte Schülern für eine bestimmte Zeit/ Unterrichtseinheit aus dem Klassenverband separiert und in einzelnen Stunden in einer höheren Klasse unterrichtet.
Um eine mögliche individuelle Belastung im sozial-emotionalen Bezug geringer zu halten gibt es noch das Gruppenspringen, bei dem mehrere besonders begabte Schüler zusammengefasst werden und gemeinsam ein Klasse überspringen. Hier wird dann der „Unterrichtsstoff von zwei Schuljahren in einem Jahr absolviert.“[29]
Es ist wichtig, dass die Lehrer dem Überspringen nicht negativ gegenüber stehen, da es sonst zu einer erschwerten Interaktion zwischen dem begabten Schüler und der Lehrperson kommen kann.
D-Zug Klassen
Hier werden „separate Klassen oder Zweige gebildet, in denen leistungsstarke Schülerinnen und Schüler die Mittel- bzw. teilweise auch die Unterstufe gemeinsam in kürzerer Zeit durchlaufen.“[30] Der gesamte Lehrstoff wird gemeinschaftlich in kürzerer Zeit durchgenommen, was zu einer Verkürzung der Gesamtschulzeit führt. So gibt es beispielsweise Klassen, bei denen das Gymnasium statt in acht bereits in sieben Jahren absolviert wird. In diesen sogenannten D-Zug Klassen benötigen die Schüler weniger Übungs- und Wiederholungsphasen und können daher das Lehrpensum beschleunigen. Da alle Schüler den Stoff der Klasse schneller durchgehen, kann sich der Lehrer gezielt auf die höheren kognitiven Bedürfnisse seiner Schüler vorbereiten und hat die Möglichkeit den gesamten Unterricht für die komplette Klasse intensiver und anspruchsvoller zu gestalten
Durch das Umgehen eines Wechsels des sozialen Umfeldes kommt es zu weniger Belastung im emotionalen Bereich. Außerdem wirkt sich diese Form der Akzeleration durch das gemeinschaftliche schnellere Durchlaufen positiv auf die sozial-emotionale und intellektuelle Entwicklung aus. Leistungsschwache Schüler werden durch diese Form der Akzeleration allerdings entmutigt, da sie von den oberen Leistungsgruppen ausgeschlossen werden. D-Zug-Klassen werden zwar dem hohen Lerntempo von hochbegabten Kindern gerecht, legen aber keinen besonderen Fokus auf deren Interessenvielfalt.
Die Auswirkungen auf die hochbegabten Kinder sind insgesamt sehr positiv, da es zu keinem Schaden im intellektuellen, sozialen oder emotionalen Bereich kommt.[31]
[...]
[1] Holling/ Kanning 1999, S. 18
[2] rohrmann/ Rohrmann 2010, S. 50
[3] Stumpf 2012, S. 21
[4] Ziegler 2008, S. 62f
[5] Stumpf 2012, S. 34
[6] Stumpf 2012, S. 35
[7] rohrmann/ Rohrmann 2010, S. 72
[8] rohrmann/ Rohrmann 2010, S. 13
[9] Reichle 2004, S. 17
[10] Reichle 2004, S. 43
[11] Simchen 2005, S. 35
[12] Reichle 2004, S. 30
[13] Reichle 2004, S. 32f
[14] Reinitzhuber 2000, S. 70
[15] rohrmann/ Rohrmann 2010, S. 13
[16] Holling/ Kanning 1999, S. 3
[17] Holling/ Kanning 1999, S. 3
[18] Stumpf 2012, S. 89
[19] Stumpf 2012, S. 12
[20] Reichle 2004, S. 34f
[21] Ziegler 2008, S. 78
[22] Stumpf 2012, S. 108
[23] Holling/ Preckel/ Vock 2007, S. 58f
[24] Stumpf 2012, S. 91
[25] Reichle 2004, S. 39f
[26] Holling/ Kanning 1999, S. 71
[27] Reichle 2004, S. 42
[28] Holling/ Preckel/ Vock 2007, S. 71
[29] Reichle 2004, S. 45
[30] Holling/ Preckel/ Vock 2007, S. 81
[31] Holling/ Preckel/ Vock 2007, S. 90
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