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Mehr InfosBachelorarbeit, 2013, 131 Seiten
Bachelorarbeit
1,8
Bei der Tiergestützten Intervention werden Mensch und Tier zusammengeführt und es kommt zu einem Kontakt. Dieser, in der Regel direkte Kontakt, wird je nach dem erwünschten Ergebnis mehr oder weniger zielgerichtet ausgeführt. Wichtige allgemeine Rahmenbedingungen für diesen Kontakt sind:
- der Kontakt mit dem Tier ist vom Klienten gewünscht
- ein geschützter Rahmen mit einer angenehmen Atmosphäre ist gegeben
- ein artgerechter Umgang mit dem Tier
- die Sicherheit aller Beteiligten
- das Tier ist soweit geschult, dass es mit seiner Aufmerksamkeit bei seinem Besitzer bzw. Trainer bleibt und in Stresssituationen ihm ausreichend vertraut
- Verantwortungsbewusstes und geschultes Fachpersonal bzw. einen Tierhalter mit Klarheit, Souveränität und Entschlossenheit[1]
Allgemein geht von Tieren eine positive, fördernde und heilsame Wirkung aus.[2] Der Kontakt mit dem Tier löst Impulse aus, die dem Menschen auf körperlicher, seelischer, geistiger und sozialer Ebene helfen. Auch können die Impulse heilende Prozesse in Gang setzten. Voraussetzung dafür ist, dass der Klient zu einer Begegnung mit dem Tier bereit ist.[3]
Im anglo-amerikanischen Raum haben die Tiergestützten Interventionen verstärkter Forschung erfahren als im deutschsprachigen Raum. Es gibt zwei offiziell anerkannte Formen. Zum einen die Animal-Assisted-Activities (AAA) und zum anderen die Animal-Assisted-Therapy (AAT). Die Unterscheidung liegt in der Ausrichtung. Die AAA ist eine unterstützende Intervention mit Hilfe des Tieres und die AAT eine Behandlung mit dem Tier als integraler Bestandteil der Therapie.[4] In Deutschland gibt es leider keine einheitliche Nutzung der Begrifflichkeiten. Vernooij schlägt folgende Begrifflichkeiten für tiergestützte Interventionen vor:
1. Tiergestützte Aktivität
2. Tiergestützte Förderung
3. Tiergestützte Pädagogik
4. Tiergestützte Therapie
Die Zielsetzungen, der zeitliche Rahmen, die Dokumentations- und Kontrollpflicht sowie die Qualifikation der Durchführenden steigen von der Aktivität bis zur Therapie an.[5]
Zu 1.: Tiergestützte Aktivitäten sprechen Menschen jeden Alters an. Die Zielsetzung ist in erster Linie die Steigerung des allgemeinen Wohlbefindens und der Lebensqualität. In der Regel führen diese Arbeit Laien oder Ehrenamtliche aus. Dokumentationen finden keine statt. Es handelt sich eher um sporadische Arbeit, wie zum Bespiel bei Tierbesuchsdiensten im Krankenhaus oder im Altenheim.
Zu 2.: Tiergestützte Förderung ist für junge Kinder, Kinder mit Beeinträchtigungen und für Menschen in der Rehabilitation geeignet. Allgemeine Entwicklungsfortschritte, wie die Förderung der eigenen Ressourcen, sind hierbei die Zielsetzungen. Der Durchführende[6] ist eine Person mit unterschiedlichen Qualifikationen. Die Tiere sollten in dem Aufgabenbereich bereits trainiert sein. Eine Dokumentation ist ratsam, denn es handelt sich um ein mehrmals durchgeführtes Angebot.
Zu 3.: Tiergestützte Pädagogik ist ausgelegt für Kinder und Jugendliche mit Auffälligkeiten im emotionalen und sozialen Bereich. Es wird ein Lernfortschritt im sozio-emotionalen Bereich angestrebt. In dieser Angebotsform werden zu Beginn Ziele formuliert, dieses macht eine Dokumentation unabdingbar. Das Angebot sollte regelmäßig über einen längeren Zeitraum stattfinden. Die eingesetzten Tiere sind speziell ausgebildet. Der Durchführende ist eine Fachkraft aus dem (sonder-) pädagogischen Bereich.
Zu 4.: Tiergestützte Therapie ist geeignet für Menschen mit psycho-physischer Störung und oder mit Erkrankungen die therapeutische Behandlung benötigen. Die Tiergestützte Therapie ist immer zielgerichtet, die Zielsetzung ist in der Regel eine Verbesserung sowie Stärkung der Lebensgestaltungskompetenz. Es finden regelmäßige Sitzungen über einen längeren Zeitraum statt. Die Zielformulierung macht eine Dokumentation unerlässlich, um den Fortschritt zu protokollieren sowie für den Austausch mit anderen involvierten Institutionen oder Ärzten. Die durchführenden Personen sind ausgebildete Therapeuten und die eingesetzten Tiere sind entsprechend trainiert.[7]
Tiere haben verschiedene Rollen in der Tiergestützten Intervention. In erster Instanz kann es als „Eisbrecher“ und als „Motivator“ fungieren.
„Eisbrecher-Funktion“: Wichtiger Faktor in der Tiergestützten Intervention ist die Brückenfunktion des Tieres zwischen Klient und Ausführenden. Kupper-Heilmann nennt diesen Faktor die „Eisbrecher - Funktion“.[8] Gerade bei der Arbeit mit Kindern kommt dieser Faktor zum Tragen, denn Kinder werden durch den Erwachsenen in die Einrichtung geschickt und tun sich aufgrund dessen schwer mit der Kontaktaufnahme zum Ausführenden. Hinzu kommt oft eine Scheu gegenüber dem Fremden. Beides wird durch die bloße Anwesenheit eines Tieres aufgelockert. Sei es über die Ausstrahlung eines schlafenden Hundes im Raum oder ein schnaubendes Pferd, beides kann beruhigend wirken. Für ein Kind bedeutsame Dinge, die es in seinem Umfeld wahrnimmt und sein Interesse wecken, können das Kind animieren sich in die jeweilige Situation einzubringen.[9] Da der Wunsch nach Kontakt zum Tier natürlich ist, kann davon ausgegangen werden, dass ein Kind ein natürliches Interesse am Tier hat. Die menschliche Sehnsucht nach Wärme, Zärtlichkeit und Nähe unterstützt den Prozess der Kontaktaufnahme. Es kann sein, dass das Kind direkt Kontakt zu dem Tier aufnimmt, oder das Tier eignet sich schnell als Gesprächseinstieg, was ein Gefühl von Gleichgesinnten vermittelt, aufgrund gleicher Interessen. Nimmt das Kind erst Kontakt zum Tier auf, kann die Kontaktaufnahme vom Kind zum Anbietenden überwiegend indirekt bleiben. Es entsteht eine Annährung durch gemeinsames Spiel oder Pflegen des Tieres. Der Anbietende dient als Mittler zwischen Kind und Tier, da dieser mehr Erfahrungen im Umgang mit dem Tier hat, sucht das Kind in ihm Hilfestellung im Umgang mit dem Tier. Die weitere Entwicklung geht dann zu einem direkten Kontakt mit dem Anbietenden über. Das ist nicht gleichbedeutend damit, dass das Tier im Verlauf „entfernt“ werden muss. Vielmehr erhält es, im Verlauf der Stunden über einen längeren Zeitraum unterschiedliche Rollen.[10]
„Motivationsobjekt“: Das Tier wirkt in der Mehrzahl aller Fälle als Motivationsobjekt auf den Klienten, da es einen hohen Aufforderungscharakter hat. Das kann den Einstieg in die Intervention erleichtern und die Motivation durchzuhalten stärken. Tiere können auch gezielt für das Erlernen bestimmter Verhaltensweisen oder der Aktivierung von individuellen Ressourcen des Klienten eingesetzt werden.[11] Zum Beispiel bei der Delfintherapie von David Nathanson wird das Tier als positiver „Verstärker“ eingesetzt. Das bedeutet, wenn das Kind etwas positiv gelöst hat, kommt es zu einer Belohnung durch spielen, schmusen oder schwimmen mit dem Delfin.[12]
Diese beiden Rollen sind meiner Ansicht nach die, die klar als Rolle identifiziert werden können. Schwammiger wird es bei den Funktionen als Katalysator und als Identifikation- bzw. Projektionsobjekt, da diese beiden Funktionen ebenfalls in den Bereich der Wirkweisen finden, daher werden sie dort besprochen.
Die Wirkweisen der Tiergestützten Intervention sind vielschichtig. Vernooij unternimmt die verschiedenen Erklärungsansätze aus tiefenpsychologischer Sich, auf Basis der Resilienz Forschung, der Bindungstheorie, der Entwicklungspsychologie und der Pädagogik. Im Allgemeinen kann man sagen, dass die möglichen Interventionsbereiche die Sprache (Kommunikation), die Lernen (Kognition), die Wahrnehmung, Emotionalität, Körpergefühl (Motorik) sowie Soziabilität ist. Aus der Psychoanalyse nach Freud sind es die Befriedigung unbewusster Bedürfnisse aus dem „ES“, Stärkung des „ICH“ sowie das Anrühren des Verdrängten auf die Tiergestützte Intervention einwirken kann. Bei der Individualpsychologie nach Adler kann die Wirkweise durch die Stärkung des Selbstwertgefühls, Beeinflussung von Lebensstielelementen und der Verbesserung der Soziabilität des Sozialverhaltens erklärt werden. Und bei der Betrachtung der Komplexen Psychologie von Jung sind die Erklärungsansätze die Nutzung der Intuition, das Anrühren von Archetypen und Unterstützung der Individuation.
Kurz gesagt wirkt Tiergestützte Intervention zum einen auf seelische und körperliche Aktivierung ein und zum anderen beeinflusst sie die mentale Ebene und fördert damit soziale und psychologische Prozesse. Damit einhergehend kann eine Aktivierung von Heilungskräften und Resilienz sein.[13]
Dabei ist es nicht allein das Tier, welches Prozesse in Gang setzt, sondern der Dialog und die Begegnung mit ihm.[14] Levinson sieht das Tier als einen Katalysator für menschliche Beziehungen. Er begründet dieses damit, dass auf Haustiere unbewusste seelische Anteile übertragen werden können, die eigentlich Menschen gelten. Das Tier wird zum Projektionsobjekt. Die Tiere reagieren darauf nicht menschlich. Ihre Rückmeldung ist nicht wertend und wird vom Mensch besser angenommen so kann dann spielerisch menschliche Beziehungen wiederholt, aufgearbeitet und transformiert werden, da Kinder mit weniger Angst ihre eigene Authentizität leben und zeigen können.[15] Die Begegnung zwischen Mensch und Tier ist die, die insbesondere bei Kindern neue Bindungserfahrungen hervorrufen kann. Ein vertrauensvoller Kontakt zu einem Tier kann emotionale Blockaden lösen. Auch hier liegt die Chance, dass positive Beziehungserfahrungen mit dem Tier auf menschliche Beziehungen übertragen werden können.[16]
Durch die Begegnung und dem Dialog mit dem Tier entwickelt sich eine Beziehung zu ihm. Dadurch wird das ES (Tier) zum DU. Dieser Dialog kann sehr schlicht sein, zum Beispiel einfach durch Imitation. Kinder und Tiere haben verwandte Triebe und Neugierde, z.B. neugieriges Erkunden der Umwelt, Liebesbedürftigkeit und das Leben in einer relativen Abhängigkeit. Daher können Kinder Tiere und umgekehrt einander imitieren, insbesondere Kinder und Hunde.[17] Durch die Bestätigung der Imitation wird das Gefühl des ‚Angenommen-sein‘ hervorgerufen. Aus der Situation heraus ergibt sich die Möglichkeit für weitere Kommunikation. Durch diese Öffnung zum Dialog, kommt es zu einem kognitiven Prozess, der bei dem Kind dazu führen kann, dass es sich von seinen negativen „ICH-Vorstellungen“ lösen kann, zum Beispiel von Selbstzweifel und Ängsten. Das Gefühl von Angenommen werden ist dabei entscheidend, da das Kind sich aus dem Gefühl sich selbst mehr zutraut.[18] Die Kinder können diese Erfahrungen dann adaptieren und auf zwischenmenschliche Beziehungen übertragen.
Der anthropomorphe Umgang von jungen Menschen mit dem Tier unterstützt den Prozess des Beziehungsaufbaus, sowie die intuitive Nähe von Kindern zum Tier.[19] Rüdiger vermutet sogar, dass Kinder Tieren näher stehen als Erwachsene.[20] Nach Beetz spricht die Beziehung zu einem Tier tiefe Persönlichkeitsschichten an und es kommt zu einer Integration von intuitiven, emotionalen und reflexiven Prozessen.[21] Das macht den Einsatz von Tieren für mich im pädagogischen und therapeutischen Setting sehr wertvoll. Kommt es zu einem Dialog zwischen Tier und Mensch, kann das Tier in der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen sehr hilfreich sein. Die Tiere ermöglichen eine ehrliche Selbstwahrnehmung. Der Klient kann sich und sein Verhalten über das Tier besser reflektieren und seine Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken. Diese Rückmeldung kann zum Beispiel ein Anhalten des Pferdes, auf das Kommando des Klienten, sein. Eine positive Rückmeldung vom Tier wirkt authentisch auf den Menschen und kann das Selbstkonzept verbessern.[22]
Ein positives Selbstbild, Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein wird zum einen über das Gefühl des Angenommen werden gestärkt, zum anderen durch die eigenverantwortliche Auseinandersetzung mit dem Tier. Handlungsimpulse, die vom Kind an das Tier ausgehen, führen zur Interaktion. Dabei erlebt sich das Kind als Akteur seiner Umwelt. Das Kind freut sich über seine Erfolge was zu einem gesteigerten Selbstbild führt. Je mehr Handlungssequenzen desto handlungsmächtiger wird das Kind. Diese erfolgreichen Erlebnisse führen zu einer wachsenden Vertrautheit und es kommt zu einem inneren Halt. Umso mehr inneren Halt das Kind erfährt desto weniger benötigt es diesen von außen.[23]
Im Bereich der Kommunikation kommt es nach Olbrich zu einer Feinabstimmung von digitaler und analoger Kommunikation. Unter analoger Kommunikation ist gemeint, dass wir Worte und Zeichen nutzen um einen Sachverhalt zu vermitteln. Analoge Kommunikation meint dass der Mensch auch über die Körpersprache, Stimmlage, Augen und Berührung kommuniziert.[24] Das führt wiederrum zu einer verbesserten Psychomotorik, da das Kind lernt besser seine Mimik, Gestik und Sprache einzusetzen.[25] Durch eine verbesserte Abstimmung zwischen inneren Erlebten, Bewusstsein und der Kommunikation nach außen kann das Kind zu einer erhöhten Authentizität kommen, was wiederum zu einer besseren Integration in Gruppen führt.
Spiegelungen des Klienten vom Tier sind eine andere Form der Rückmeldung. Tiere kommunizieren über Körpersprache und sind somit in der Lage nonverbale-analoge Signale des Menschen wahrzunehmen und darauf mit dem eigenen Verhalten zu reagieren.[26] So bald Mensch und Tier sich begegnen findet Kommunikation über den Körper statt. Selbst die kleinsten und noch so unbewusstesten Signale des Klienten nimmt das Tier wahr.[27] Um diese Prozesse zu optimieren, unterstützen und effektiv einzusetzen, bedarf es einer professionellen Reflexion und Begleitung durch Therapeuten oder Pädagogen, die die eingesetzten Tiere mit ihrem Charakter sowie Verhaltensweisen sehr gut kennen.[28]
Bei der Pflege und Versorgung eines Tieres wird die Kontrolle über sich selbst und über die Umwelt verbessert. Verstärkt wird dieses durch den Umgang mit einem Tier, welches immer wieder Selbstkontrolle und Sensibilisierung für die eigenen Ressourcen verlangt, wie zum Bespiel das Pferd, welches immer wieder die Führungsrolle überprüft und hinterfragt, darauf gehe ich später noch näher ein. Emotionale Selbststeuerung kann ebenso unmittelbar im Umgang mit dem Tier gefördert werden, aufgrund der Reaktion eines Tieres auf affekthaftes Handeln.[29] Als Beispiel ist hier eine schreckhafte Reaktion eines Tieres auf lautes Schreien oder auf hektische Bewegungen. Der Klient erfährt eine weitere Kompetenzerfahrung über gelungene Aktivitäten und erlernt Bewältigungsstrategien. Damit wird das Zutrauen in sich selbst und in die eigenen Ressourcen weiter gestärkt. Einhergehend kann dieses Gefühl auch eine Stärkung des eigenen Ichs bedeuten, was zu einer weiteren Stärkung des eigenen Selbstwertes führt.
Tiere bedienen den Wunsch nach Zusammensein, Nähe und Geborgenheit, was dadurch ein Gefühl von sozialer Integration entstehen lassen kann. Die Beziehung mit dem Tier kann ein Gefühl von Verbundenheit erzeugen. Das Gefühl der Isolation kann aufgehoben werden, was eine große soziale Wirkung hat und Kontaktfähigkeit fördert. Das Tier vermittelt positive Attribute, wie zum Beispiel Sympathie und Offenheit.[30] Soziometrische Tests haben ergeben, dass Kinder, die ein Heimtier halten, häufiger als Vertrauenspersonen und Spielkameraden gewählt werden.[31]
Tiergestützte Interventionen wirken sich auch auf die menschlichen Hormone aus. Positive Auswirkungen wurden, unter anderem, auf den Cortisol- und Oxytocinspiegel nachgewiesen.[32] Durch diese biochemischen Veränderungen im Körper kommt es zu einer Stressreduktion, einem niedrigerem Blutdruck, einer verbesserten Immunabwehr im Allgemeinen, einer Schmerzreduktion, einer verbesserten Empathiefähigkeit sowie einer Angstreduktion. Die damit einhergehenden Veränderungen im Verhalten können verbesserte Laune, Verringerung von depressiven Verstimmungen, ein verbessertes Lernen, geringere Aggression und ein insgesamt freundlicheres Verhalten bei Kindern sein.[33] Nach Beetz können Kinder im Umgang mit Tieren zu einer verbesserten Empathiefähigkeit kommen. Zum einen erklärt sich dieses über die Bindungstheorie und zum anderen über den neurobiologischen Kontext. Ein sicheres Bindungsmuster begünstigt die eigene Regulationsfähigkeit und das Hineinfühlen in andere Menschen. Dabei kann eine Beziehung zu einem Tier den gleichen Einfluss haben, wie die zu einem Menschen. Neurobiologisch lässt sich die verbesserte Empathiefähigkeit über die Spiegelneuronen und Oxytocin erklären,[34] Im Allgemeinen wird zusätzlich das Gesundheitsverhalten durch motorische Aktivierung sowie Bewegung an der frischen Luft verbessert und die damit verbundene gesundheitsfördernde Wirkung.[35] Dadurch kann es auch zu einer Verbesserung der Motorik und des Körpergefühls kommen. Über Tiere ist auch eine kognitive Anregung und Aktivierung möglich, unter anderem über das Beobachten von Tieren, das Lernen über Tierhaltung und Aktivierung des Gedächtnisses z.B. Lernen von Tiernamen.
Ein weiterer interessanter Aspekt in der Tiergestützten Intervention sind die unbewussten Anteile der Psyche, die über das Tier zu Tage kommen können. Die Grundüberzeugungen der Tiefenpsychologie, sei es nach Freud, Jung oder Adler sind, dass jeder Mensch neben seinem Bewusstsein unbewusste Anteile in seiner Psyche hat. Diese nehmen Einfluss auf das Verhalten des Menschen. Eine Veränderung des Verhaltens ist nur über die Bewusstmachung dieser unbewussten Anteile möglich. Für die Persönlichkeitsentwicklung sind die ersten 5-6 Lebensjahre von entscheidender Bedeutung.[36] Interventionen, gerade im frühen Kindesalter, die bezogen auf Entwicklungsförderung, Korrektur und Aktivierung sind in hohem Masse wirkungsvoll. Gerade in diesem Altern kann man die unbewussten Anteile durch Bewusstmachung verändern, um stärkere Verinnerlichung dieser Muster zu verhindern. Die unbewussten Anteile sind demnach wichtig mit in die Arbeit einfließen zu lassen. Nach Vernooij ist ein Zugang zum individuellen Unbewussten über Tiere möglich.[37] Dadurch können psychische Prozesse, Entwicklung und soziales Verhalten angestoßen werden. Vorteil bei den Tieren ist, dass ihre Spiegelung ohne persönliche Verletzungen angenommen wird. Das ermöglicht einen schnelleren Zugang und Korrektur des Verhaltens.[38]
Das Tier kann sowohl als Identifikations- als auch als Projektionsobjekt fungieren. Bei dem Identifikationsobjekt wird das Tier als Abbild des eigenen Selbst betrachtet. Dem Tier wird das gegeben, was dem Klienten selber fehlt. Genauso werden am Umgang mit dem Identifikationsobjekt die eigenen Schwierigkeiten oder Konflikte sichtbar. Sie können am Tier ausgelebt und bewältigt werden.[39] Bei der Projektion von unbewussten Mustern und Verhaltensweisen des Klienten auf das Tier können diese auch außerhalb des Kindes bewältigt werden. Dabei handelt es sich meist um innere Bilder und Gefühle des Menschen. Die Studie von Bergler 1986 hat gezeigt, dass Kinder „die auf den Hund gekommen sind“ in dem Tier die Eigenschaften erleben, die sie an ihren Eltern vermissen. Unter diesem Punkt sind auch Tierquälereien von Kindern an Tieren zu betrachten. Sie gelten eher der Umwelt oder den Eltern als dem Tier selber.[40] Mit einem Beispiel möchte ich das Projektionsobjekt noch einmal verdeutlichen. Im Fall von Hyperaktivität sieht das Kind an einem lebhaften Hund sein eigenes Verhalten. Durch die Konzentration auf den Hund und das Geben von Kommandos an ihn kann das Kind seine eigene Unruhe in dieser Phase zügeln. Er hat die Chance das Erfahrene modellhaft seine eigene Unruhe zu übertragen und daraus für sich eine Lösung zu adaptieren.[41]
Insgesamt kann die Tiergestützte Intervention zu einer Verbesserung der Lebensqualität und des Wohlbefindens führen. Sie kann Entwicklungs- und Lernfortschritte aktivieren sowie eine Erhöhung der Lebensgestaltungskompetenz.[42] Entscheidend für eine gelungene Intervention ist die Qualität und die passende Form der Interaktion für jedes Individuum. Es bedarf einer hohen Beobachtungsgabe und einem guten Einfühlungsvermögen des Ausführenden, um effektiv zu arbeiten und die nächsten Schritte in der Förderung des Klienten zu sehen und für die folgenden Stunden einzuplanen.[43]
Innerhalb der Tiergestützten Intervention gibt es verschiedene Möglichkeiten die Tiere mit einzubinden:
- Die freie Interaktion
- Die gelenkte Interaktion
- Die ritualisierte Interaktion
Freie Interaktion: Der Durchführende ist anwesend, dennoch aber nicht aktiv. Die Interaktion zwischen Klienten und Tier soll möglichst frei in einem geschützten Rahmen stattfinden. „Frei“ bedeutet: ohne Einfluss und Anweisung von außen. Diese Begegnungsform ist geeignet für beobachtendes Arbeiten. Zu sehen ist, wie Mensch und Tier aufeinander reagieren. Zum Bespiel kann sich zeigen, ob der Klient Nähe und Zuwendung zu dem Tier sucht oder ob er lieber mit ihm spielen möchte. Dabei können unbewusste Anteile der Psyche des Klienten zum Vorschein kommen. Das Tier kann frei agieren daher kann es das Verhalten und die Innenwelt des Klienten besser spiegeln als in gelenkten Interaktionen.[44]
Gelenkte Interaktion: Hier sind die Begegnungen vom Durchführenden eingeleitet und durchgeführt. Der Handlungsspielraum für Klient und Tier sind sehr gering. Auch hat der Klient weniger Einflussmöglichkeiten auf das Tier, da das Tier vom Durchführenden gelenkt wird. Diese Form der Arbeit bedarf viel Feingefühl, um sicherzustellen, dass der Klient sich wohlfühlt und keine Ängste oder andere negative Gefühle auftreten. Von dem Klienten wird viel Vertrauen in den Anleiter abverlangt.[45] Diese Form kann hilfreich für schüchterne und zurückhaltende Kinder sein, von denen wenig eigene Handlungsimpulse ausgehen.
Ritualisierte Interaktion: Diese kann sowohl in die freie als auch in die gelenkte Interaktion mit eingebunden werden. Es geht um Konstanz und ein immer wiederkehrendes Ereignis in dieser Form. Das kann gerade am Anfang der gemeinsamen Arbeit sowie bei schüchternen Klienten Sicherheit schenken. Rituale können zum Beispiel das Anlegen eines bestimmten Halsbandes beim Hund sein, bevor die Stunde losgeht oder das Füttern am Ende einer jeden Stunde. Neben dem Gefühl von Sicherheit vermitteln solche Rituale ein Gefühl von Kompetenz. Der Klient weiß genau was passiert und wird immer sicherer in den Abläufen und im Durchführen dieser Arbeiten. Durch das immer sichere Ausführen entsteht Freude am Tun und das Gefühl von Selbständigkeit.[46]
Eine Differenzierung zwischen Therapie und Pädagogik setzt voraus, es gäbe eine klare Trennung zwischen beiden. Aber bereits an dem Punkt stößt man auf allgemeine Definitionsschwierigkeiten: Ist Soziale Arbeit Therapie oder Pädagogik? Dies ist eine Grundsatzdiskussion. In der Sozialen Arbeit werden diese Begriffe häufig verwischt zum Beispiel durch Bezeichnungen wie „therapeutische Wohngruppe“.[47] Es scheint als seien die Grenzen zwischen Therapie und Pädagogik nicht immer eindeutig.[48]
Das Wort „Pädagoge“ ist aus dem Griechischen und bedeutet Kinder- bzw. Knabenführer. Es setzt sich aus den Worten Pais = Knabe und agogos = der Begleiter, der Führer zusammen.[49] Das Leitziel der Pädagogik ist nach Vernooij, einen jungen Menschen zu befähigen seine Ressourcen im sozialen Kontext selbständig und selbsttätig zu nutzen und sein Leben nach eigenen Interessen und Bedürfnissen zu gestalten.[50]
„Therapie“ stammt ebenso aus dem Griechischen. Therapeìa bedeutet „das Dienen“.[51] Es bezeichnet in der Medizin und Psychotherapie die Maßnahmen zur Behandlung von Krankheiten, Leiden und Verletzungen. Ziel des Therapeuten ist die Ermöglichung oder Beschleunigung einer Heilung, die Beseitigung oder Linderung der Symptome und die Wiederherstellung der körperlichen oder psychischen Funktion. Somit kann man Therapie als eine Kranken- bzw. Heilbehandlung bezeichnen.[52]
Interventionen, egal welcher Form (pädagogischer, psychologischer oder therapeutischer Art) haben im Allgemeinen zum Ziel Entwicklungsprozesse zu unterstützen, zu fördern, anzuregen sowie die Aktivierung von verzögerten und das Korrigieren von fehlgelaufenen Entwicklungsprozessen.[53] Mögliche Interventionsbereiche dabei sind die Sprache, die Kognition, die Motorik, das Körpergefühl, Emotionalität, Soziabilität und die Wahrnehmung.[54]
Demnach gibt es bei der Therapie und Pädagogik Gemeinsamkeiten in der Ausrichtung. Betrachtet man die Professionstheorie der Sozialen Arbeit stößt man auf Differenzen: Das sozialpädagogische Ziel ist eine soziale Integration des Klienten. Aus therapeutischer Sicht geht es um eine personale Integration.[55] Im Fokus der Therapie ist der psychische Leidenszustand mit Störung und Krankheitswert. Die soziale Arbeit ist gekennzeichnet durch Problemanalyse der Lebenswelt und Intervention und nicht durch Behandlung. Sie gibt Hilfestellung und Hilfe zur Selbsthilfe.[56] Die Schnittmenge von beiden sind allerdings ihre Wirkungsmechanismen. Diese sind nach Klaus Grawe motivationale Klärung, Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung und Problembewältigung. Dies ermöglicht die Verwendung des Begriffs Therapie in der Sozialen Arbeit.[57]
Bevor ich hier den Begriff Therapie verwende, möchte ich noch kritisch anmerken, dass die Soziale Arbeit vom Image in der Gesamtgesellschaft niedriger angelegt ist als bei Ärzten. Da der Begriff der Therapie der Medizin nahe liegt, läuft die Soziale Arbeit „Gefahr“ mit der Nutzung des Begriffs Therapie eine Aufwertung zu erfahren.[58] Und auf der Seite der Klienten eine andere Erwartungshaltung in Bezug auf Heilung zu wecken. Eine naive Verwendung des Begriffs der Therapie im Bereich der Pädagogik kann zu folgeschweren Denk- und Handlungsproblemen führen. Daher bedarf es meiner Meinung nach einem achtsamen Umgang mit dem Begriff und einer kritischen Selbstreflexion warum man den Begriff verwendet.
Betrachtet man die Literatur der Tiergestützten Therapien fällt auf, dass eine kritische Reflexion in der Regel ausbleibt. Häufig findet man überwiegend positive Wirkweisen und wundersame Erfahrungsberichte. Es scheint als würde eine Theoriegrundlage fehlen.[59] Sucht man nach Evidenz basierten Studien findet man diese häufig im Bereich der Diplom- oder Masterarbeiten von Hochschulen. Oft sind diese Studien nicht aussagekräftig, da aufgrund fehlender finanzieller Mittel es immer eine sehr begrenzte Teilnehmerzahl an der Studie gibt, die Test Zeiträume meist zu kurz sind und manchmal fehlen sogar die Kontrollgruppen. Die Methode ist eher eine erfahrungsbasierte Therapieform[60] deren Effektivitätsnachweis auf Beobachtungen beruht. Beobachtungen sind immer subjektiv und daher nicht wissenschaftlich messbar. Nach Rose entzieht sich die Methode einer wissenschaftlichen Messmethode und nimmt „naturalisierende, esoterische und mystische“ Züge an.[61]
Dagegen stehen eine kleine Fallzahl von methodisch einwandfreier Wirksamkeitsstudien[62] Zurzeit gibt es 100 publizierte Studien von denen 70 als Aussagekräftig gelten aufgrund eingehaltener wissenschaftlicher Standards.[63] Unter anderem die Forschungsstudie der Universität Rostock „Gesund durch Hund“, die aufgezeigt hat, dass durch den Kontakt mit dem Hund die Stresshormone beim Menschen gesenkt werden und ein prosoziales Verhalten gefördert wird. Das Besondere an dem Ergebnis dieser Studie ist, dass dieses auch geschieht, wenn zwischenmenschliche Beziehungsstörungen vorliegen. Das macht die therapeutische und pädagogische Arbeit mit Tieren zu einem unschätzbaren Wert für Menschen mit Störungen im Sozialverhalten.
Eine weitere empirische Studie der Universität Rostock fand heraus, dass positive Effekte im Sozialverhalten im Zusammenhang mit einem erhöhten Oxytocin Spiegel stehen, der durch den Kontakt mit Tieren hervorgerufen wird.[64] Nach Gomalla ist die Problematik der Studien, dass die Methodik nicht gut durchdacht ist. Sie plädiert dafür ein gutes Konzept für Studien zu erarbeiten um aussagekräftigere Ergebnisse zu erhalten. Ebenso plädiert sie auch für Qualitätsüberprüfung bei der Ausbildung der Fachkräfte, da bereits hier eklatante Unterschiede zu verzeichnen sind sowie bei den Methoden, da diese sich auch auf die Ergebnisse auswirken.[65] Zu einem ähnlichen Ergebnis kam Antje Meyer 1998, die in ihrer Diplomarbeit über Therapeutisches Reiten herausfand, dass in vielen Einrichtungen, in denen Therapeutisches Reiten angeboten wird, keine ausgebildete Fachkraft vorhanden ist. Dadurch kommt es zu Missständen bezüglich Wirksamkeit, Evaluation und Reflexion. Die Einstellung bei einem Drittel der Einrichtungen war, dass das Therapeutische Reiten eine Freizeitbeschäftigung sei. Dieses sind Gründe, warum leider noch viel zu oft Therapeutisches Reiten nicht ernstgenommen wird.[66]
Ein weiterer Grund dafür ist auch, dass es noch an entsprechenden Studiengängen an Hochschulen und Universitäten fehlt um wissenschaftlichen Nachwuchs auszubilden.[67] Es bedarf meiner Meinung nach viel mehr Professionalisierung in diesem Bereich. Insbesondere meine ich Qualitätsstandards und Schutz vor Anbietern ohne Qualifikationen. Abhilfe der oben genannten Problematik kann durch eine gute Planung und eine bessere Transparenz durch Verschriftlichung des Verlaufes erfolgen.[68] Auch wäre eine geschützte Berufsbezeichnung ein wichtiger Schritt zur Professionalisierung.
Ebenso sehe ich noch einen sehr hohen Forschungsbedarf um die Wirksamkeit der Tiergestützten Interventionen im Allgemeinen und der Pferdegestützten Therapie im Speziellen zu belegen, um bestimmte Kritik mit wissenschaftlichen Ergebnissen ausschalten zu können. Eine positive Entwicklung zeichnet sich im Bereich der Forschung und der Professionalisierung des Berufsbildes dennoch ab. Vorreiter scheinen mir derzeit die Uni Rostock mit den Forschungsarbeiten von Andrea Beetz, die Stiftung Bündnis Mensch & Tier mit ihren Mitarbeitern, sowie durch das German Research Center for Equine Assiste Therapy gUG (Great) ab. Das Ziel sollte meiner Meinung nach sein evidenzbasierte Forschungsergebnisse zu erhalten um die Anerkennung dieser Methode zu erhalten damit es mehr Fördermöglichkeiten und Finanzierungen gibt, um die Therapie den Kindern zu kommen zu lassen, die davon profitieren können.
„Nichts tut dem Inneren eines Menschen so gut wie das Äußere eines Pferdes.“ Sprichwort, frühes 20. Jahrhundert
Im 5. Jh. v. Chr. begann der Mensch Pferde einzufangen, zu domestizieren und seit dem dritten Jh. v. Chr. zu züchten. So entstand das Hauspferd und ist seit dem Begleiter des Menschen in vielen Lebensbereichen. Sei es als Arbeits-, Last-, Zug- oder Reittier.
Dass das Pferd heute überwiegend in der Freizeit eingesetzt wird, ist in der Geschichte der Pferd-Mensch-Beziehung noch sehr kurz. Dies ist erst seit den 1960er Jahren so.[69] Auch als Arbeitstier findet das Pferd auch heute noch seinen Einsatz z.B. als Last- und Transporttier beim Bäumerücken in Bereichen, in denen man mit Maschinen nicht weiterkommt. In alten Lehren und Mythologien symbolisiert das Pferd allumfassende Liebe, Stolz, Kraft, Triumph, Freiheit, Ausdauer, Erhabenheit und Energie sowie überirdische Macht im Sinne von Intuition. Es wird als eine Art Archetyp verehrt.[70] Nach C.G. Jung ist ein Archetyp als Urbild im kollektiven Unterbewusstsein der Menschheit verankert. Dadurch bestimmen sie auf unbewusste Weise unser Denken und Handeln.[71]
Biologisch betrachtet ist das Pferd ein Herden-, Flucht- und ein Bewegungstier. Als Herdentier ist es ein soziales Wesen, welches enge soziale Kontakte zu Artgenossen braucht, wie der Mensch auch. Die Pferdeherde wird von einer Leitstute geführt und einem Leithengst bewacht. In dieser Gemeinschaft hat jedes Mitglied eine Rolle, es gibt eine klare Rangordnung. Pferde sind neugierig. Sie suchen engen Kontakt zu Artgenossen, wählen dabei aber auch genau aus zu welchem Mitglied sie engen Kontakt pflegen. Über Körpersprache können sie sich von anderen Mitgliedern abgrenzen und sorgen so für ein Distanz-Nähe-Verhältnis. Dies ist nur möglich durch ihre feine Wahrnehmung und ihre differenzierte Ausdrucksweise. Ihre Reaktionen sind unmittelbar und klar.[72] Trotz Größe und Kraft des Pferdes hat das Pferd einen Urinstinkt: Die Angst vor Raubtieren. Dies hat auch die Jahrhunderte lange Domestizierung des Pferdes nicht verändert. Daher ist sein Fluchtinstinkt nach wie vor aktiv. Dabei helfen die Sinnesorgane des Pferdes, die sehr gut ausgebildet sind. Durch die seitlich am Kopf liegenden Augen hat das Pferd ein 300 Grad Sichtfeld. Das Hör- und Riechvermögen ist fast so gut ausgebildet wie bei Hunden, somit kann ein Pferd Raubtiere sehr früh wittern. Das Pferd ist von seinem Wesen her nicht aggressiv, die Flucht ist die einzige Überlebenschance vor Raubtieren. Nur in Ausnahmefällen greift das Pferd an. Aufgrund dessen zählt es zu den Fluchttieren. Da das Pferd nur ein Drittel des Tages mit Ruhe und Schlaf verbringt, ist es ein Bewegungstier. Es ist zwei Drittel des Tages in Bewegung, im Schritt, auf der Suche nach Futter.[73] Pferde sind reine Pflanzenfresser. Pferde symbolisieren einen gewissen Status. Seit jeher galt ein Mensch, der ein Pferd besaß, als sozial herausgehoben.[74] Bis zu den 1960er Jahren waren Pferde und das Reiten ursprünglich eine Männerdomäne, auch bei Kindern.[75] Heute hat sich dieses grundlegend verändert und es herrscht ein Mangel an Männern im Reitsport.
Pferde sind in der Lage über ihre Körpersprache (analoge Kommunikation) artübergreifend zu kommunizieren. Das Pferd muss in dem Menschen ein ranghöheres Tier erkennen, damit es sich vom Menschen führen lässt. Dies geschieht über die richtige Dosierung von Kooperation und Dominanz. Damit lässt es gerade für Kinder ein wunderbares Lernfeld, bei der Suche nach der eigenen Identität, zu.[76]
„Da das Pferd als ein authentisches, unvoreingenommenes und bewertungsfreies Lebewesen wahrgenommen wird, sind insbesondere Kinder eher bereit, ihr Verhalten zu ändern, wenn das Tier ihnen Grenzen aufzeigt.“[77]
Pferde als Therapie sowie das Reiten als Therapie hat eine sehr alte Tradition. Bereits Hippokrates (460 – 377 v. Chr.) sprach von dem „‘heilsamen Rhythmus‘ des Reitens und das Wachsen des Selbstgefühls“ durch das Reiten. Aufgegriffen wurde dieses erst wieder nach dem zweiten Weltkrieg zur Rehabilitation von einseitig Beinamputierten in einer Klinik in Bad Malente-Gremersmühlen. Die Chance Reiten als Therapie einzusetzen manifestierte sich dann 1953 durch den Arzt Max Reichenbach. Er schrieb gemeinsam mit Prof. Dr. H. Bünte das Buch „Reiten als Therapie“. 1970 wurde dann das Deutsche Kuratorium für Therapeutisches Reiten gegründet. Damit war der erste Meilenstein gesetzt für die Professionalisierung.[78]
In der Therapie mit Pferden sind Erlebnisbereiche auf Sinnes- und Körperebene möglich. Diese sind taktil, akustisch, visuell, olfaktorisch, kinästhetisch und vestibulär. Aufgrund der feinen Körpersprache des Pferdes baut man eine emotionale Beziehung zu einem Pferd nur über die Körpersprache auf. Klienten, die sich auf diese Form einlassen können, erleben, dass der Mensch ebenfalls mehr wortlos kommuniziert als es uns bewusst ist.[79] Pferde haben sich durch die Domestizierung ihre Beziehungsfähigkeit auf Menschen erweitert. In den Bedürfnissen ähneln sich Mensch und Pferd. Es ist das Bedürfnis nach Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Individualität und Abgrenzung. Daher ist die Identifikation mit und eine Projektion auf das Pferd möglich. Aus den Ähnlichkeiten in den Bedürfnissen und der Körpersprache resultiert, dass das Pferd ein sehr guter Spiegel des Klienten, wie sie unter Punkt 3.2.2 beschrieben wurde, sein kann.
Der Klient hat im therapeutischen Setting die Möglichkeit sich selber besser wahrzunehmen wodurch er sich selbst besser kennen lernt. Dieser Prozess ist abhängig von einer kritischen Reflexion des Klienten und einer gut geschulten pädagogischen oder therapeutischen Fachkraft, die die Signale des Pferdes versteht und übersetzen kann. Es ist zwingend notwendig, dass die Beziehung zwischen Anbietendem und Pferd eine stabile ist, in der das Pferd seine unterlegende Rolle annimmt und sich führen lässt. Dies ist nur über die richtige Kommunikation mit dem Pferd sowie über Respekt und Vertrauen auf beiden Seiten möglich. Gleichzeitig ist ein gutes Einfühlungsvermögen in den Klienten notwendig. Es bedarf ebenso ein Gespür und ein Geschick für die richtige Reflexion. Insbesondere wenn die Gefühle und Verhaltensweisen dem Klienten nicht bewusst sind und unmittelbar vom Pferd gespiegelt werden.[80]
Wie bereits deutlich wird, sind die Wirkweisen der pferdegestützten Therapie im Allgemeinen ähnlich der der Tiergestützten Interventionen. Durch das Pferd werden, aufgrund seines Archetypten, Themen und Wünsche vermittelt wie: Kraft, Macht, Energie, Mut, Stolz, Freiheit, Treue, Fürsorge, Anmut, Sanftheit, Ruhe, Angst, Klarheit, Durchsetzungsvermögen, Kommunikation und Naturerleben.[81] Diese Wünsche können in Form von Identifikation- oder Projektionsobjekt am Pferd gezeigt werden. Eine Besonderheit beim Pferd kommt durch seine Größe hinzu, damit vermitteln es Stärke. Diese Stärke lädt ein bei ihm Halt zu finden. Durch einen vertrauensvollen Umgang mit einem größeren Lebewesen, welches dem Klienten folgt und vertraut, wird vermittelt, dass man einem Stärkeren vertrauen kann. Auf der anderen Seite kann diese Größe auch angsteinflößend sein, die überwindet werden kann.
Kommt es bei der Pferdegestützten Therapie auch zum Reiten kommt durch das Reiten noch weitere Wirkungsweisen auf körperlicher Ebene, die bei anderen Tieren nicht gegeben sind, hinzu. Zum Beispiel hat der Klient über das Reiten im Schritt die Chance seine eigene Mitte über das Gleichgewicht zu spüren und zu finden.[82] Auf weitere emotionale Wirkungen gehe ich später unter dem Punkt Pferdegestützte Therapie unter dem Gesichtspunkt des verstehenden Ansatzes ein.
Folgend werde ich nun die einzelnen Therapieformen mit dem Pferd und ihren speziellen Wirkweisen kurz beschreiben.
Therapeutisches Reiten wird nach dem Deutschen Kuratorium für Therapeutischen Reiten e.V. (DKTHR) in vier Fachbereiche eingeteilt:
1. Hippotherapie,
2. Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd,
3. Sport und Freizeit für Menschen mit Behinderung mit dem Pferd,
4. Ergotherapeutische Behandlung mit dem Pferd
An dieser Stelle werde ich nur die Formen beschreiben, die meiner Meinung nach für diese Arbeit relevant sind. Auf den Bereich „Sport und Freizeit für Menschen mit Behinderung mit dem Pferd“ gehe ich hier nicht weiter ein, da ich dieses mehr im Sport als in der Pädagogik oder Therapie angegliedert sehe.
Hippotherapie ist eine krankengymnastische Einzelbehandlung auf dem Pferd. Diese sollte in ein physiotherapeutisches Gesamtkonzept eingebunden sein und durch einen ausgebildeten Physiotherapeuten in Abstimmung mit Fachärzten durchgeführt werden. Der Klient sitzt während der Behandlung auf dem Pferd. Das Pferd wird im Schritt am Strick oder über den Langzügel[83] geführt. Der Schritt des Pferdes kommt dem menschlichen Bewegungsablauf sehr nahe. Das Pferd überträgt im Schritt 90-110 Schwingungsimpulse pro Minute. Dadurch entstehen Bewegungsreize bei dem Klienten. Diese Impulse ermöglichen ein gezieltes Training der Haltungs-, Gleichgewichts-, und Stützreaktion und eine Regulierung des Muskeltonus. Besonders förderlich ist diese Arbeit für Menschen mit neurologischen Bewegungsstörrungen.[84]
Heilpädagogik im Allgemeinen befasst sich mit der Erziehung von Kindern und Jugendlichen, dessen erschwerten Bedingungen eine spezielle pädagogische Maßnahme benötigen. Das Ziel ist es, diesen Menschen eine Eingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen.[85] Dabei richtet sich die Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd an Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten, Lernbeeinträchtigungen und Menschen mit geistiger und psychischer Erkrankung.[86] Bei der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd gibt es zwei bekannte Methoden: das Heilpädagogische Reiten (HPR) oder das Heilpädagogische Voltigieren (HPV). Im Vordergrund steht nicht die reit- oder voltigier sportliche Ausbildung, sondern die Beziehung zwischen Mensch und Tier, und damit ist die positive Beeinflussung auf Entwicklung im Vordergrund.[87] Die Ausführung findet meist in Gruppen statt, so dass ein soziales Miteinander eingeübt wird. Bei der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd können positive Effekte auf die Psychomotorik, auf das Sozial- und Kommunikationsverhalten sowie auf die Persönlichkeitsentwicklung erzielt werden. Im Fokus sind dabei immer die Ressourcen der Klienten. „Das Heilpädagogische Reiten und Voltigieren ist situationsbezogen und prozessorientiert und besonders geeignet für
- Den Umgang mit und den Abbau von Aggressivität, Angst und Apathie
- Die Stärkung der Frustrationstoleranz
- Die Förderung von (Selbst-)Vertrauen, Selbstsicherheit und kooperativem Verhalten
- Das Erfahren von Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit
- Das Erlernen der angemessenen Selbsteinschätzung
- Das Reagieren und Einstellen auf einen Partner in der Interaktion
- Das Training der sensorischen Integration und der Körperwahrnehmung
- Verbesserung von Aufmerksamkeit und Konzentration“[88]
Die Abgrenzung von der Heilpädagogischen Förderung (HPF) zur Hippotherapie ist der Schwerpunkt. Richtet sich dieser bei der Hippotherapie auf die körperliche-motorische Ebene durch das Reiten im Schritt, so geht es bei dem HPF viel mehr um die Beziehung zwischen Pferd und Mensch. Die Beziehung geschieht über das Pflegen und Versorgen des Pferdes. Bevor es zum Reiten geht, müssen komplexe Aufgaben bewältigt werden, die bereits als Herausforderung gelten und die Klienten an persönliche Grenzen und Emotionen bringen können. Mögliche Herausforderungen sind Ängste, Vertrauen, Respekt, Geduld und Geschicklichkeit.[89] Werden die persönlichen Grenzen bewältigt und mit der Wiederholung immer weiter verbessert, kommt es zu einem positiven Effekt auf das Selbstkonzept des Klienten. Beim Reiten bedarf es Eigeninitiative des Reiters und Selbsttätigkeit. Der Reiter erhält über das Pferd sofortige Rückmeldung über seine „Kommandos“. Die dabei bewältigten Herausforderungen und damit eingehende Entwicklung wirken sich auf das Selbstkonzept und auf die Identitätsbildung des Klienten aus.[90]
Beim HPV geht es ebenso vermehrt um die Beziehung zu dem Pferd und die Gruppenaktivität. Zusätzlich kommt durch das passive „Getragen werden“ auf dem ungesattelten Pferd noch die Effekte der Hippotherapie hinzu. Dabei sind die Übungen beim Heilpädagogischen Voltigieren weit anspruchsvoller. Was wiederrum mit einer Konfrontation mit Ängsten einhergehen kann. Unter Umständen können bei bestimmten Übungen Schamgefühle aufkommen oder Versagensängste. Werden diese bewältigt stellen sich Erfolgserlebnissen ein, die sich wiederrum auf ein positives Selbstkonzept auswirken. Klienten, die Probleme mit Körperkontakt zu andere Menschen haben, können ihre Bedürfnisse nach Nähe und Wärme über das Pferd erfahren. Im Idealfall können sie diese Erfahrungen mit dem Pferd auf zwischenmenschliche Beziehungen übertragen. Das HPV hat des Weiteren einen positiven Einfluss auf die Körperhaltung, Muskulatur, Gleichgewicht und Raumorientierung. Durch den direkten Kontakt mit dem Pferd kommt es zu besseren Wahrnehmungen des eigenen und des Körpers des Pferdes.[91] Heilpädagogisches Reiten und Voltigieren wird von Pädagogen oder Psychologen mit Zusatzqualifikation ausgeübt. Sie haben die Rolle eines Übersetzers und dolmetschen somit das Verhalten und die Reaktionen des Pferdes. Das Pferd kann zusätzlich die Rolle „der Brücke“ übernehmen, um die Beziehung zwischen Klient und Pädagoge/Therapeut einfacher zu gestalten.[92]
Die Ergotherapeutische Behandlung mit dem Pferd kann nur von ausgebildeten Ergotherapeuten ausgeführt werden. Hierbei handelt es sich also um eine Ergotherapeutische Behandlung, die durch das Pferd und seinen Bewegungsdialog erweitert und ergänzt wird. Ähnlich wie die Hippotherapie soll durch bestimmt Übungen im sensomotorischen-perzeptiven, motorisch-funktionellen und psychisch-funktionellen Bereich Verbesserung der Handlungsfähigkeit der Klienten erreicht werden.[93]
Vernooij merkt kritisch an, dass diese Einteilung irreführend ist, da zum Beispiel das Heilpädagogische Reiten oder der Sport für Menschen mit Behinderung mit dem Pferd keinen klaren therapeutischen Aspekt haben, vielmehr handelt es sich gerade beim Heilpädagogischen Reiten um ein pädagogisches Konzept. Sie kritisiert ebenso, dass das Therapeutische Reiten in der Psychotherapie keine eigene Bezeichnung hat. Sie fordert eine klarere Begrifflichkeit und eine stärkere Transparenz für den Klienten, damit er schneller erfassen kann, in welcher Sparte das Angebot zu finden ist: Therapie, Pädagogik oder Förderung.[94] Vernooij schlägt folgende Gliederung innerhalb des therapeutischen Reitens vor:
1. Hippotherapie,
2. Heilpädagogisches Reiten und Voltigieren
3. Hippo-Psychotherapie
4. Behindertenbreitensport
5. Pferdegestütztes Coaching.
Das Pferd wird in stationären und ambulanten psychotherapeutischen Einrichtungen immer stärker eingesetzt. Die Hippo-Psychotherapie nutzt die sensible Wahrnehmung des Pferdes und seine Reaktionen im Umgang mit dem Klienten um unbewusste Verhaltensweisen und Einstellungen zum Vorschein zu bringen. Im Therapeutischen Setting kann muss aber nicht geritten werden. Es handelt sich um Einzel- wie auch Gruppensitzungen. Ausführende dürfen nur Psychotherapeuten mit Zusatzqualifikation im Bereich der Hippo-Psychotherapie sein.[95]
Das Pferdegestützte Coaching ist in jüngster Zeit ein wachsender Bereich. Das Coaching wurde ursprünglich als professionelle Beratung von Führungskräften in der Wirtschaft eingesetzt. Heute wird Coaching in vielen Bereichen eingesetzt. Das Pferdegestüte Coaching hat zum Ziel die Aktivierung von individuellen Ressourcen und persönlichen Potential, Entwicklungs- und Veränderungsprozesse anzuregen sowie die Klärung von Problemen und Krisen. Pferde sind durch ihre Rangordnung besonders gut Einsetzbar bei der Entwicklung und Verbesserung der Führungsqualitäten. Wie deutlich wird handelt es sich hauptsächlich um berufsbezogene Themen aber auch persönlich Themen können dabei angestoßen werden, da das eine von dem anderen nicht klar trennbar ist.
Die Namensgebung in der Reittherapie wird viel diskutiert, ebenso die Grundausbildung der Ausführenden, da Reittherapie in welcher Form auch immer, als eine Fortbildung zu sehen ist. Es ist ein breites Spektrum an Grundberufen vorhanden, die zu diesem Bezeichnungswirrwarr führt. Durch die unterschiedlichen Berufssparten gibt es eine für mich schlüssige Unterteilung der Pferdegestützten Therapie:
1. Hippotherapie (Grundberufe z.B. Ergo- und Physiotherapeuten)
2. Reittherapie (Grundberufe z.B. Psychologen und Pädagogen)
3. Reitpädagogik (Grundberufe z.B. Erzieher und Pädagogen)
4. Pferdegestützte Psychotherapie (Grundberufe z.B. Psychologen).
Diese wird auch so vom German Research Center for Equine Assisted Therapie genutzt.[96] Ganz gleich welche Intervention mit Pferden ausgeführt ist, unabdingbar ist eine Therapeutische oder Pädagogische Grundausbildung mit einer Weiterqualifikation für den Einsatz mit Pferden.[97]
Bei allen Formen der Arbeit mit Tieren sind die Tierschutzbedingungen einzuhalten. Generell ist darauf zu achten, dass es dem Pferd psychisch und körperlich gut geht, dass es Spaß an der Arbeit hat und dass das Pferd gut versorgt und gepflegt wird und es ausreichend Auslauf mit Artgenossen hat. Darüber hinaus ist es eine Grundvoraussetzung, dass das Pferd gymnastiziert und ausgebildet ist.[98] Ebenso wichtig, wie beim Menschen auch, ist der ausreichende Ausgleich zu der physischen Belastung des Pferdes.
Pferdegestützte Interventionen sind für alle Altersklassen geeignet. Es gibt nur wenige Kontraindikationen, die von Fall zu Fall unterschiedlich sein können. Diese hängen zum einen vom Klienten ab, zum anderen vom Fachpersonal oder auch von den Pferden. Die klassischen Einsatzgebiete sind bei:
- geistiger und körperlicher Behinderung
- Verhaltensauffälligkeiten
- Aufmerksamkeitsstörungen
- motorischen Auffälligkeiten
- Wahrnehmungsstörungen
- Sprach- und Sprechstörungen
- Mutismus
- Autismus
- Angststörungen
- Depressionen
- Essstörungen
- Psychosen
- Persönlichkeitsstörungen
- Bindungsstörungen
- Multipler Sklerose
- Schlaganfall
- Suchterkrankungen
- Trauma Patienten[99]
„Wer wagt es zu entscheiden, ob ein Kind mehr lernt, wenn es ordentlich an einem Tisch sitzt und fleißig mit strukturiertem Material arbeitet, oder wenn es aus ein paar alten Kartons einen Vormittag lang alle erdenklichen Gebrauchsmöglichkeiten herauslockt? Ganz gleich, wo ein Kind in seiner Aktivität beginnt: das Wichtigste ist, dass es sich ganz in sie ‚hineinkniet‘, dass es in einer gegebenen Situation fühlt und aus diesem Gefühl heraus sich für eine Tätigkeit entschiedet, dass es seine Handlung mit voller Hingabe durchführt und sie dann auf eigenen Entschluss beendet. All dies dient der Befriedigung und dem Wachstum seiner Persönlichkeit.“[100]
Dieser Ansatz unterstreicht die Wichtigkeit vom eigenen Spüren, von eigenen Handlungsimpulsen und dem freien Experimentieren für die Persönlichkeitsentwicklung. Reittherapie im Allgemeinen verfolgt das Ziel der Persönlichkeitsentwicklung und der Kompetenzerweiterung der Klienten. Eine funktionsbestimmte Reittherapie ist für mich daher ein Wiederspruch in sich, da es immer um eine Bewegungskorrektur und keine ganzheitliche psychomotorische Vorgehensweise handelt.[101] Dadurch werden für die Klienten keine Lernräume und Selbsterfahrungsräume geschaffen.[102] Nach Motopädagogischen Prinzipien wird eine Persönlichkeitsentwicklung nur durch verschiedene Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen unterstützt.[103] Wahrnehmung kann nicht getrennt von der Sinnesebene geschult werden. Wahrnehmungsschulung ist multimodal und ist gebunden an die Erkundungsaktivität des Kindes.[104]
Bei offenen Angeboten kommt es bei Kindern zu einer viel höheren Motivation, Aktivität und Konzentration als bei Funktionsübungen.[105] Bei Kindern mit Auffälligkeiten können fremdbestimmte Übungselemente bewirken, dass diese Kinder unter Leistungsdruck kommen und an sich selber und der Bewältigung dieser Aufgabe zweifeln. Offene Angebote haben demnach einen höheren Erfolg.[106] Darüber hinaus können Einzelfunktionen, die eingeübt werden, sich nicht gut auf den Alltag, zur Bewältigung von neuen Aufgaben, übertragen.[107]
Der Klient kann sich bei gelenkten Interkationen und Funktionsübungen nicht eigenständig mit dem Pferd auseinander setzen. Meiner Ansicht nach geht dadurch auch die gewinnbringende Spiegelung von dem Tier verloren. Das freie Agieren mit dem Pferd und Begegnung mit dem Tier sehe ich als große Chance für Beziehungsformen, Wahrnehmungsschulung und Selbsterkennung. Dieses freie Interagieren bietet darüber hinaus eine Vielzahl von Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten. Wenn das Kind einen Dialog mit dem Pferd eingegangen ist, der geschützte Raum geschaffen ist und dadurch ein ungehemmtes „sein“ mit dem Pferd geschieht kann das Kind in diesem Setting seine eigene Authentizität leben und zeigen. Dadurch wird dann mit und durch das Tier eine Persönlichkeitsentwicklung möglich. Dabei sind nicht die Inhalte des Settings von Bedeutung, sondern die Art und Weise wie sie erlebt werden.
Gerade Kinder im Vorschulalter haben noch wenig kognitiven Zugang, bei ihnen sind funktionsbestimmte Übungen noch deplatzierter als allgemein schon beschrieben. Die Kinder befinden sich noch in einem Zustand der ganzheitlichen Wahrnehmung. Durch kognitive Funktionsübungen würde man sie aus ihrer Ganzheitlichkeit heraus befördern.[108] Mit Funktionsübungen erzielt man, dass die Kinder kognitiv werden, sich aber nicht ihrem Körper und ihren Bedürfnissen hingeben oder sich diesen bewusst werden. Darin sehe ich eine Behinderung von Wahrnehmung eines eigenen Körpergefühls, eine Einschränkung von selbständigem Handeln und keine Erweiterung von Handlungskompetenzen und damit einhergehend eine geringere Steigerung von Selbstwert und Selbstbewusstsein.
Sinnhaftigkeit in funktionsbestimmten Übungen ist im Fall von sehr schüchternen und ängstlichen Personen gegeben. Sie erhalten durch diese Form Halt und Sicherheit. Daraus können erst Schritt für Schritt freie Interaktionen entstehen. Ansonsten sehe ich weit höheres Potential für die Entwicklungsförderung in freien Interaktionen.
Das Spielen ist eine „Tätigkeit, die ohne bewussten Zweck zum Vergnügen, zur Entspannung, aus Freude an ihr selbst und an ihrem Resultat ausgeübt wird.“ [109] Dies scheint eine leichte und logische Definition. Beschäftigt man sich tiefer mit der Definition von Spiel fällt es schon schwerer eine Definition zu finden. Papousek sagte dazu: „Nichts scheint einfacher und selbstverständlicher zu sein als zu spielen. Spiel zu definieren ist dagegen eine kaum zu meisternde Aufgabe.“[110] Je nach pädagogischer oder psychologischer Ausrichtung, je nach Weltanschauung nach zeitlicher, kultureller, sozialer und räumlicher Gegebenheiten verändert sich Spiel. Spiel bleibt nie gleich. So kann man sagen, dass es keine übergreifende Definition für Spiel gibt. Eine Annährung kann, so scheint es mir, nur über beispielhafte Betrachtungen von Spiel geben, um die Tragweite und die Bedeutung von Spiel zu verdeutlichen.
Was heute für uns zwei untrennbare Begriffe sind, „Kindheit“ und „Spiel“, ist historisch gesehen noch nicht lange so. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit gab es kaum Spielzeug für Kinder ab 5 Jahren. Ab diesem Alter nahmen die Kinder am Leben und Spiel der Erwachsenen teil.[111] Erst mit der Entstehung der spezifischen Kindheitsphase zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert entwickelte sich eine eigene Spielkultur für Kinder. Zuerst fand diese Entwicklung in den oberen Bevölkerungsschichten statt. Kinder der Arbeiterschichten mussten frühzeitig mit Arbeiten beginnen. Ein Freiraum für Kindheit und für Spielphasen war in der Regel nicht gegeben. Es gab Ausnahmen, nach getaner Arbeit oder zur Belohnung. In den oberen Gesellschaftsschichten erkannte man die Bedeutung des Spiels für die Erziehung und funktionalisierte es. Spiel wurde zu einer Spielförderung unter bestimmten Gesichtspunkten eingesetzt.[112] Das Spiel der Arbeiterfamilien fand ungelenkt draußen auf der Straße statt in gemischten Altersgruppen.
Spielen heute hat sich grundlegend verändert. Es ist überwiegend gelenkt und überwacht. Freie traditionelle und selbstbestimmte Kinderspiele sind kaum noch bekannt. Computerspiele, Fernsehen oder Kurse wie Tischtennis, Gitarrenunterricht oder Tanzen sind häufiger bei den Kindern anzutreffen. Die räumliche Situation in den Städten ist der Grund dafür. Hierzu werde ich unter Lebensweltanalyse noch weiter eingehen. Die Frage die sich aufdrängt ist: kann man heute noch von Spiel sprechen? Denn Kinderspiel ist ein freies, selbstbestimmtes und ganzheitliches Handeln.[113] Nach Papousek ist Spiel ein selbstwirksames Lernen.[114] In unserer erwachsenen Gesellschaft hat Spiel einen geringen Wert, da es alles ist, was nicht Arbeit ist und damit nichts Produktives hervorbringt. Doch Kleinkinder trennen wertvoll und wertlos nicht voneinander. Beobachtet man kindliches Spiel, sieht man wie versunken und konzentriert Kinder in ihrem Spiel sein können.[115]
Kinder leben in der Welt der Erwachsenen immer in einer Anpassung. Sie leben in einer Unterordnung von Regeln und Verboten und erfahren täglich ihre Unzulänglichkeit. Dabei spüren sie deutlich ihre Abhängigkeit von „den Großen“. Ihre Bedürfnisse, Triebe und Affekte kommen dabei oft zu kurz. Doch warum bestreiten Kinder Tag täglich ihr Leben auf ein Neues? Hebenstreit beantwortet diese Frage damit, dass Kinder ihren Ausgleich im Spiel finden. Spiel fungiert dann als Kompensation.[116] Nach Winnicott (1896 – 1971), dem englischen Kinderarzt und Psychoanalytiker, hat spielen folgenden Wert:
„Halten Sie viel von der kindlichen Fähigkeit zu spielen! Wenn ein Kind spielt, machen ein oder zwei Symptome nichts aus und wenn ein Kind sein Spiel genießt, sowohl allein als auch mit anderen Kindern, ist keine besondere Schwierigkeit zu befürchten. Ist im Spiel eine reiche Phantasie am Werk, vergnügt sich aber das Kind auch beim Spielen, wo es auf eine exakte Wahrnehmung der äußeren Realität ankommt, dann können Sie glücklich sein, selbst wenn das betroffene Kind einnässt, stottert, Wutanfälle hat oder Leibschmerzen und Depressionen aufweist. Das Spiel zeigt die Fähigkeit des Kindes in einer Vernünftigen, stabilen und guten Umwelt seine persönliche Lebensform zu entwickeln und schließlich ein ganzer Mensch zu werden, der so, wie er ist akzeptiert und von der ganzen Welt angenommen wird.“[117]
Der Umkehrschluss von Winnicotts Aussage ist, dass Kinder, die nicht frei spielen können oder dürfen krank werden. Was Hebenstreit, in meinen Augen, mit etwas anderen Worten ähnlich sieht. Damit wird deutlich, wie wichtig und wertvoll Spiel für die kindliche gesunde Entwicklung ist. Spiel ist eine Art Gegenwelt in der sich das Kind selbstbewusst und selbstbestimmt erlebt. Es erlebt sich als handlungskompetent. Ebenso übt das Kind im Gruppenspiel Sozialbeziehungen ein. Das Kind macht sich seiner Umwelt vertraut, erforscht sie und sich selbst. Dabei eignet es sich seine Welt an. Beim Spiel entfremden Kinder Alltagsmaterialien der Erwachsenen und probieren andere Dinge mit ihnen aus als das, wofür sie eigentlich gemacht sind. Durch diese Handlungen eigenen sich die Kinder neue Fähigkeiten in allen Bereichen an. Je nach Welterfahrung entwickelt sich das Spiel immer weiter fort. Hans Mogel schreibt dazu: „Kind und Spiel gehören eben zusammen, und das gilt auch für die Entwicklung beider.“[118] Es scheint nur logisch, dass diese Entwicklung stark vom Freiraum und somit von den Erwachsenen und deren Haltung abhängt, wie viele Regeln und Verbote sowie soziale Kontrolle bestehen.
Spiel wird in verschiedene Kategorien eingeteilt. Es gibt die Gruppenspiele in dem soziales Verhalten eingeübt wird und es gibt Einzelspiel, welches auf der kindlichen Phantasie beruht und für die Ausbildung der Kreativität, Konzentration und Ausdauer sehr wertvoll ist. Erwachsene sollten in diese Spiele nicht eingreifen, da sie die kindliche Phantasie zerstören können. Als drittes gibt es auch noch das Spiel mit Erwachsenen, in dem das Kind sich als gleichwertig oder sogar überlegen, gegenüber des Erwachsenen fühlen kann.[119]
Innerhalb dieser Kategorien gibt es nach Hebenstreit wiederrum verschiedene Arten. Es gibt Bewegungsspiele bzw. Funktionsspiele, die zu einer verbesserten Körper- und Organkräftigung sowie Körperbeherrschung führen. Aus dem Funktionsspiel entwickelt sich meist ein Experimentierspiel. An Stelle von Nachahmung finden vermehrt Nachgestaltungen statt. Das Kind wird nach eigenem Belieben gestalterisch tätig. Es handelt sich dabei um zielorientierte Handlungen, die dem Erkenntnisgewinn dienen.[120] Als weitere Spielart gibt es Konstruktionsspiele bei denen Kinder nach eigenem Plan ein Werk erschaffen. Hierbei kann es die Erfahrungen aus dem Experimentierspiel einbringen. Diese Spiele fördern Intelligenz, Raumorientierung, Materialerfahrung und die Kinder lernen Zielverhalten, Durchhaltevermögen, Kreativität und lösungsorientiertes Denken. Durch die gewonnenen Material- und Objekterfahrungen im Spiel mit Gegenständen und die Entwicklung von Objektpermanenz ist das Kind in der Lage Spielformen mit Symbolfunktion zu spielen. Das heißt, es ist in der Lage einen Gegenstand oder ein Geschehen durch ein anderes zu ersetzen. So kann es einen Bauklotz nehmen und so tun als ob es eine Lokomotive ist.
Diese Symbolisierungsfunktion wird immer Differenzierter und das frühe Symbolspiel entwickelt sich.[121] Erfahrungen und Ereignisse aus der spielexternen Umwelt können im Symbolspiel reaktualisiert werden. Dies geschieht allerdings nur mit Ereignissen, die für das Kind von Bedeutung sind. Im Symbolspiel besteht die Möglichkeit zum aktiven Wiedererleben und eventuell sogar zur Bewältigung der Erfahrungen.[122]
Beim ausdifferenzierten Symbol- und Rollenspiel geht es ebenso um die Erlebnisbewältigung. Die Nachgestaltung und die erlebten Ereignisse werden bedeutender und der psychohygienische Wert ist von beachtlicher Bedeutung, da Wünsche und Bedürfnisse ohne Scham und Schuld umspielt werden können.[123] Bei Rollenspielen werden häufig Verhalten von Erwachsenen nachgeahmt. Dabei kann das Kind zum einen seine zukünftige Rolle einüben und Handlungsalternativen einüben zum anderen auch das Gefühl „groß-zu-sein“ leben. Bei Prinzessinnen- oder Indianer-Spielen geht es um das Ausleben von Phantasie. Rollenspiele haben einen hohen Erlebniswert.[124] Bei der letzten Spielart handelt es sich um Regelspiele in der Gruppe. Zumeist sind es Spiele mit einem Wettbewerbscharakter. Dabei bilden Kinder die Fähigkeit aus „auch einmal verlieren zu können“. Dabei kommt es zu einer Erhöhung der Frustrationstoleranz. Hinzu unterstützen diese Spiele die Sozialisierung.[125]
Spiel entwickelt sich in verschieden Phasen, wie bereits angedeutet wurde. Anfangs steht das Spiel mit sich und dem eigenen Körper. Gefolgt von Spielen mit den Dingen in unmittelbarer Umgebung und am Ende das Spiel mit anderen Personen.[126] Diese Entwicklungsphasen scheinen auf einander aufzubauen. Unstrittig ist diese Theorie allerdings nicht. Es ist dennoch davon auszugehen, dass „die Komplexität des Spiels mit zunehmenden Spielerfahrungen zunimmt.“[127] Die Entwicklung des Spiels kann nur gesehen und verstanden werden in Bezug auf die Entwicklung des Kindes.[128] Dennoch ist eine Betrachtung der kindlichen Entwicklung nicht vollständig, ohne die Berücksichtigung des Spiels.
Ein Drittel der Weltbevölkerung lebte 1950 in Städten. Schaut man sich die Statistik an, so lebten 2009 bereits die Hälfte aller Menschen in Ballungsräumen mit einer steigenden Tendenz. In Deutschland leben heute schon über zwei Drittel aller Bürger in Städten bzw. Ballungsräumen.[129] Dabei werden Naturerlebnisse immer seltener. Die lebensweltlichen Veränderungen haben großen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder. Die Nahwelt ist Lern- und Lebensraum für Kinder. Damit ist das räumliche Umfeld gemeint. Zu dem gehört auch „die Straße“, die auch Sozial- und Kulturraum des Kindes ist.[130] Seit 1960 werden Kinder aber zunehmend von den Straßen verdrängt durch die Gefahren im Straßenverkehr. Doch schaut man auf die Statistiken der Unfälle im Straßenverkehr sind die Unfälle an denen Kinder beteiligt sind zurückgegangen in den letzten 10 Jahren.[131] Auch die Misshandlungen und Entführungen sind statistisch gesehen rückläufig.[132] Hier bleibt die Frage leider offen, warum es zur Verdrängung der Kinder aus der adultisierten, leistungsorientierten Umwelt kommt.
Bereits in den 60ern mahnte Alexander Mitcherlich an, dass Kinder sich von der Natur entfremden und das zu sozialen sowie psychischen Defiziten führt.[133] Das hat heute ein sehr starkes Ausmaß erlangt, Kinder leben verhäuslicht und Naturerlebnisse sind selten geworden und haben den Medien Platz gemacht.[134] Dieses Phänomen durchzieht alle Schichten der Gesellschaft. Das ungezwungene und ungeplante Spiel auf der Straße, wie es zum Beispiel in der 1940er Generation gab, findet nicht mehr statt. Die Kinder haben in der Nachbarschaft nicht ausreichend Gleichaltrige zum Spielen. Es sind nicht nur Folgen der Funktionsentmischung des Wohnraumes, sondern auch der teilweise regionalen Kinderlosigkeit. Heute werden erheblich weniger Kinder geboren als 1900.[135] Verabredungen müssen daher geplant werden. Spiel findet heute nicht mehr in großen Gruppen statt, sondern in Paarverabredungen, aufgrund der Terminkoordination zwischen den Kindern selbst und in Absprache mit den Eltern, die die Kinder fahren müssen. Damit geht das Lernen in und mit einer Gruppe von gleichaltrigen verloren. Kinder sind angewiesen von Insel zu Insel transportiert zu werden, um Freunde zu besuchen, die oft in anderen Stadtteilen leben.[136]
Dabei kommt es auch zur Segregation von Kindern aus der Welt der Erwachsenen. Kinder werden verstärkt in bestimmten Einrichtungen altersklassenspezifisch und kindgerecht beschäftigt und bewacht. Aufgrund des Wandels der Familie, unter anderem die häufige Berufstätigkeit beider Eltern, kommt es zu stärkerer Betreuungszeit in diesen pädagogischen Einrichtungen von Kindern und damit zu weniger freiem Spiel ohne Aufsicht von Erwachsenen. Nicht selten gehen die Kinder nach der Schule in den Hort und von dort aus zum Sport-, Musik- oder Nachhilfeunterricht, was Auswirkungen auf die Sozialisation des Kindes hat. Kinder sind unter einer ständigen sozialen Kontrolle und in Gruppen von gleichaltrigen. Dabei sind Kontakt und Spielen in heterogenen Altersgruppen für Kinder sehr wichtig für das Lernen von Kindern.[137]
Kinder eignen sich heute weniger eigenständig den Nahraum an. Sie sind abhängiger von Erwachsenen und erleben mehr Arrangements, die für sie in Institutionen angeboten werden, wo weniger Eigeninitiative und Phantasie verlangt wird. Einhergehend mit der Verhäuslichung ist ein vermehrter Medienkonsum. Heute ist Fernsehen, MP3 hören, DVDs gucken, Zuhause entspannen und am PC spielen oft die Lieblingsfreizeitbeschäftigung bei Kindern und Jugendlichen.[138] Bei der Umfrage 1932 von M. und H.M. Muchow standen noch „Tobespiele“ und „Straßenkämpfe“ an oberster Stelle, gefolgt von Ballspielen und Streifzüge durch den Stadtteil.[139]
Durch die Aufteilung von Lebensraum kommt es gleichzeitig zu einer Partikulasierung von sozialen Beziehungen. Konflikten kann schneller aus dem Weg gegangen werden, in dem man sich neue Wirkungskreise sucht. Dadurch haben Beziehungen einen weniger verbindlichen Charakter.[140] Desweitern ist unsere heutige Gesellschaft geprägt von Entstandardisierung. Alte Traditionen lösen sich auf. Bindungen haben dadurch nicht mehr die Verbindlichkeit. Hinzu kommt auch eine stärkere Flexibilität was Wohnort- und Arbeitsplatzwahl angeht. Durch häufigen Wohnungswechsel können Freundschaften nicht mehr so wachsen wie früher.
Auch Religionen haben ebenso nicht mehr die Bedeutung wie einst, heute gibt es ausreichende Alternativen. Damit geht ein Wertewandel einher. Zum einen kann darin als Chance ein Aussteigen aus alten Konventionen gesehen werden, zum anderen geht es mit dem Risiko der Entwurzelung einher.[141] Diese Entstandardisierung hat die Pluralisierung zur Folge. Es gibt eine Vervielfältigung der Lebens-, Arbeits-, Freizeit und Konsumformen.[142] Identitätsforscher sprechen davon, dass dies so weit geht, dass die eigene Identität zunehmend als Bastel- und Patchworkidentität zu sehen ist, die aus der Identitätsofferte zusammengestellt wird. Dies ermöglicht große Entfaltungsräume auf der einen Seite. Auf der anderen Seite, und das gerade bei Kindern, eine Überforderung.[143]
Durch Entstandardisierung und Pluralisierung kommt es zu einer Individualisierung der Gesellschaft. Soziale Netze, die einst tragend waren, wie zum Beispiel die Familie, lockern sich. Das Modell der Kleinstfamilie ist gängig und das Konzept der Großfamilie ist eher die Ausnahme geworden. Das bietet ein deutliches Maß an Freiheit hat aber in vielen Lebensabschnitten, zum Beispiel Alter, die Folge von Vereinsamung. Aber selbst die klassische Kleinstfamilie „Vater-Mutter-zwei Kinder“ ist nicht mehr Standard, sie ist erweitert worden durch viele alternative Lebensformen. 17% aller minderjährigen Kinder leben bei Alleinerziehenden und 8% aller Kinder bei Eltern in Lebensgemeinschaften. Patchwork Familien und Vollzeitarbeitende Eltern sind die gängigen Lebensmodelle unserer Zeit.[144]
Aus psychomotorischer Sicht ist auch der gesellschaftliche Wandel bezüglich unseres Körpers wichtig zu betrachten. Mehr denn je sind wir heute von der Industrialisierung und Technisierung geprägt. Der Mensch distanziert sich immer weiter von seiner eigenen Natürlichkeit sowie seinem Körper und immer stärker von der Natur oder Naturerfahrungen.[145] Dabei hat die Entfremdung von der Natur Auswirkungen auf Psyche und Somatik des Menschen. Bei Kindern spricht man bereits vom „Nature Deficit Syndrom“ (NDS)[146] Natur und Naturerfahrungen liefern einen wichtigen Beitrag zur Gesunderhaltung.[147] Der Verlust an Naturerfahrungen und das freie Spiel in ihr führt einem Defizit in der Entfaltung von seelischen, körperlichen und geistigen Potenzialen von Heranwachsenden. Verbunden sind damit weniger emotionale Bindungsfähigkeit, schwindende Empathie, geringere Fantasie, Kreativität und Lebensfreude.[148]
Unsere heutige Gesellschaft instrumentalisiert ihren Körper stark. Selbstbeherrschung, Selbstdistanzierung, Selbstkontrolle, Selbstbeobachtungen sind gesellschaftliche Verhaltensvorschriften unserer heutigen Zeit. Die vermehrte Bedeutung des Computers lässt den Körper immer mehr an Bedeutung verlieren. Die Folge davon ist, dass der menschliche Körper unterfordert ist und vermehrt unter Krankheiten im Herz- und Kreislaufsystem leidet. Dazu kommen verstärkt psycho-emotionale Problemlagen. Der Grund dafür ist das hohe Erfordernis der Körperbeherrschung und Körperkontrolle aufgrund verstärkter sitzender Tätigkeit. Nach Kiphard gibt es einen Zusammenhang zwischen motorischen, emotional-sozialen und schulischen Problemen. Ungeschickte Kinder erdulden, beziehungsweise erleiden eine Vielzahl von Demütigungen und Enttäuschungen die zu Clown Verhalten, Störverhalten oder Aggressionen führen können, es ist ihr Ausdruck von seelischem Konflikt.[149]
Körpererfahrungen und Körpererleben sind vollkommen in den privaten Raum verdrängt worden, bei gleichzeitigem hohem Druck des Körperkultes unserer Zeit. Die Anzahl der Fitnessstudios und der Boom der Freizeit- und Sportartikelindustrie verdeutlichen diesen Kult. Einen schönen, sportlichen und gepflegten Körper zu haben bedeutet ein besseres Ansehen in der Gesellschaft. Der aktuelle Zeitgeist ist auf der einen Seite eine Körperdistanzierung bei gleichzeitigem Glaube an Selbstverwirklichung über den Körper. Gerade Kinder und Jugendliche nutzen die Körperinszenierung, um Achtung bei Gleichaltrigen zu erlagen. Zum einen wirft diese Entwicklung das Risiko der personalen Distanzierung mit Verlust der Leib-Seele-Einheit auf, zum anderen kann der Kult eine identitätsstiftend und sozialintegrative Wirkung haben.[150] Doch sind es nicht die künstlich gefertigten Räume, die den Raum für Körpererleben und Primärerfahrungen schaffen, sondern die Natur.[151]
Deutlich geworden ist, wie stark die Lebenswelt auf die Entwicklung der Kinder Einfluss nimmt. Will man Kinder verstehen in ihren Themen verstehen, schafft man dies nur in Einbezug ihrer individuellen Lebenswelt. Jede Zeit hat ihre Kindheit mit den individuellen Herausforderungen und Anforderungen. Damit ist weder die eine Zeit besser oder schlechter sondern einfach nur anders. Meines Verständnisses nach sollte man so die jeweilige Zeit sehen und kreative Lösungen finden mit den Herausforderungen bestmöglich umzugehen.
[...]
[1] vgl. Vernooij 2010 S. 99
[2] vgl. Heydecke 2012, S. 20f
[3] vgl. Otterstedt 2003, S.61
[4] vgl. Vernooij 2010, S. 33
[5] vgl. Vernooij 2010, S. 26 ff
[6] In der gesamten Arbeit wird die männliche Form verwendet, um einen angenehmeren Lesefluss zu gewährleisten. Gemeint ist aber immer die weibliche, wie auch die männliche Form.
[7] vgl. Vernooij 2010 S. 46f
[8] vgl. Kupper-Heilmann 1999, S.11
[9] vgl. Kiphardt 2001, S. 255
[10] vgl. Vernooij 2010, S. 148
[11] vgl. Vernooij 2010, S. 148
[12] vgl. Schmidl 2012, S. 32
[13] vgl. Gebhard 2009 S. 164
[14] vgl. Otterstedt 2003, S.61
[15] vgl. Gebhard 2009 S. 165 und Olbrich 2012, S. 30
[16] vgl. Vernooij 2010 S. 56f
[17] vgl. Gebhardt 2009, S. 130
[18] vgl. Otterstedt 2003, S. 64f.
[19] vgl. Gebhard 2009, S. 130f
[20] vgl. Rüdiger 1956
[21] vgl. Beetz 2003, S. 77
[22] vgl. Vernooij, 2010, S.23f
[23] vgl. Breitenbach 2006, S. 11ff
[24] vgl. Olbrich 2003, S. 84ff
[25] vgl. Vernooij 2010 S. 111
[26] vgl. Vernooij 2010, S. 23ff
[27] vgl. Truckenbrodt, 2004, S. 20ff
[28] vgl. Ottersted 2003, S. 61
[29] vgl. Vernooij 2010, S. 115
[30] vgl. Ottersted 2003, S.66ff
[31] vgl. Gebhard 2009, S. 137
[32] vgl. Beetz et al, 2012b, S. 4ff
[33] vgl. Beetz et al, 2012a, S. 7ff
[34] vgl. Beetz et al 2013, S.62ff, vgl. Bauer 2006, S.8
[35] vgl. Otterstedt 2003, S.66ff
[36] vgl. Vernooij 2010, S. 59
[37] vgl. Vernooij 2010, S. 65
[38] vgl. Vernooij 2010, S. 59ff
[39] vgl. Vernooij 2010, S.149
[40] vgl. Gebhard 2009, S. 137
[41] vgl. Vernooij 2010, S.149
[42] vgl. Vernooij 2010, S. 109
[43] vgl. Vernooij 2010, S. 149
[44] vgl. Vernooij 2010, S. 146
[45] vgl. Vernooij 2010, S. 147
[46] vgl. Vernooij 2010, S. 147f
[47] vgl. Schneider, Heidenreich 2011, S.1661
[48] Hölscher-Regener 2010, S.126
[49] vgl. Michl, 2009, S.17
[50] vgl. Vernooij 2010, S, 75ff
[51] vgl. www.duden.de/rechtschreibung/Therapie
[52] vgl. www.duden.de/rechschreibung/Therapie
[53] vgl. Vernooij 2010, S.71
[54] vgl. Vernooij 2010, S. 73
[55] vgl. Schneider, Heidenreich 2011, S.1661
[56] vgl. Schneider, Heidenreich 2011, S.1661
[57] vgl. Schneider, Heidenreich 2011, S.1665
[58] vgl. Galluske 2009, S. 122f
[59] vgl. Knapp 2012, S. 26
[60] vgl. Opgen-Rhein 2011, S.14
[61] vgl. Rose 2011, S. 1673
[62] vgl. Opgen-Rhein 2011, S.14
[63] vgl. Mars Heimtier-Studie 2013, S. 49
[64] vgl.. Beetz et al 2012a, S. 1ff
[65] vgl. Gomolla 2009, S. 8
[66] vgl. Meyer 1998
[67] vgl. Mars Heimtier-Studie 2013, S. 51
[68] vgl. Gäng 2010, S. 36ff
[69] vgl. Truckenbrodt, Fiegler 2004, S. 18f
[70] vgl. Pietrzak 2001, S. 22ff
[71] vgl. Pietrzak 2001, S. 24
[72] vgl. Vernooij 2010, S. 195
[73] vgl. Truckenbrodt, Fiegler 2004, S. 17
[74] vgl. Greiffenhagen 2011, S. 141
[75] vgl. Gebhard 2009, S.148
[76] vgl. Deppisch 2000, S. 171
[77] Zitiert nach Kupper-Heilmann/Kleemann in Vernooij 2010, S. 204
[78] vgl. http://www.dkthr.de/dkthrfakten.php?n2=historie
[79] vgl. Vernooij 2010, S. 195
[80] vgl. Vernooij 2010, S. 196f
[81] vgl. Greiffenhagen 2011, S. 142 und Vernooij 2010, S. 195
[82] vgl. Vernooij 2010, S. 197
[83] Langzügelarbeit versteht man eine Form der Boden- und Handarbeit mit dem Pferd. Das Pferd wird mit längeren Zügeln geführt. Dabei ist der Pferdeführer kurz hinter dem Pferd und lenkt es von dort aus. Der Therapeut steigt damit aus dem Beziehungsdreieck aus, was eine besondere Beziehungsform zwischen Klient und Pferd ermöglicht. (vgl. Häuser 2009, S.249)
[84] vgl. http://www.dkthr.de/downloads/was_ist_hippotherapie.pdf
[85] vgl. Vernooij 2010, S. 201
[86] vgl. Vernooij 2010, S.202
[87] vgl. http://www.dkthr.de/therapie.php?n2=heilpaedreitenvoltigieren
[88] Zitiert nach Otterstedt in Vernooij 2010, S. 202
[89] vgl. Vernooij 2010, S. 202
[90] vgl. Vernooij 2010, S.203
[91] vgl. Vernooij 2010, S. 203
[92] vgl. Vernooij 2010, S. 204
[93] vgl. https://www.dkthr.de/de/therapeutisches-reiten/ergotherapeutische-behandlung/
[94] vgl. Vernooij 2010, S. 199
[95] vgl. Vernooij 2010, S. 204
[96] vgl. Great 2013, S. 6
[97] vgl. Great 2013, S. 7
[98] vgl. Vernooij 2010, S. 197
[99] vgl. Great 2013, S. 7
[100] vgl. Wild 1992, S. 48
[101] vgl. Kiphard 2001, S.254
[102] vgl. Deppisch 2001, S. 183
[103] vgl. Deppisch 2001, S. 188
[104] vgl. Kiphard 2001, S. 255
[105] vgl. Kiphard 2001, S. 254
[106] vgl. Kiphard 2001, S. 256
[107] vgl. Kiphard 2001, S. 254
[108] vgl. Deppisch 2001, S. 188
[109] vgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/Spiel
[110] vgl. Papousek 2003, S. 17
[111] vgl. Bund der Jugendfarmen und Aktivspielplätze 1997, S. 21
[112] vgl. Flecken 1981, S. 150
[113] vgl. Bund der Jugendfarmen und Aktivspielplätze 1997, S. 25
[114] vgl. Papousek 2006
[115] vgl. Bund der Jugendfarmen und Aktivspielplätze 1997, S. 24f
[116] vgl. Hebenstreit 1979, S. 10
[117] Winnicott zitiert nach Davis/Wallbridge 1983, S. 101
[118] vgl. Mogel 2008, S. 104
[119] vgl. Bund der Jugendfarmen und Aktivspielplätze 1997, S. 28
[120] vgl. Mogel 2008, S. 50
[121] vgl. Mogel 2008, S. 107
[122] vgl. Mogel 2008, S. 50
[123] vgl. Mogel 2008, S. 51
[124] vgl. Mogel 2008, S. 51
[125] vgl. Bund der Jugendfarmen und Aktivspielplätze 1997, S. 28
[126] vgl. Bund der Jugendfarmen und Aktivspielplätze 1997, S. 29
[127] vgl. Bund der Jugendfarmen und Aktivspielplätze 1997, S. 29
[128] vgl. Mogel 2008, S. 104
[129] vgl. Mars Heimtier-Studie 2012, S. 30f
[130] vgl. Zinnecker 2001, S. 10
[131] vgl. Destatis 2010
[132] vgl. Gebhard 2009, S. 173
[133] vgl. Gebhard 2004, S. 74
[134] vgl. Mars Heimtier-Studie 2013, S. 96
[135] vgl. Hurrelmann 2006, S.1
[136] vgl. Zeiher 1994: 362
[137] vgl. Hüther, Renz-Polster 2013, S.14f
[138] vgl. Borgstedt 2010: S.21
[139] vgl. Muchow 1998: S. 91
[140] vgl. Zeiher 1994: S. 365
[141] vgl. Seewald 2007, S. 88
[142] vgl. Seewald 2007, S. 89
[143] vgl. Seewald 2007, S.89
[144] vgl. Mars Heimtier-Studie 2013, S.96
[145] vgl. Gebhard 2009, S. 108
[146] vgl. Gebhard 2009, S. 108
[147] vgl. Gebhard 2009, S. 108
[148] vgl. Weber 2010, S.93
[149] vgl. Kiphard 2001, S. 256
[150] vgl. Fischer 2004, S. 57ff
[151] vgl. Weber 2010, S. 93
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