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Mehr InfosMasterarbeit, 2013, 66 Seiten
Politik - Internationale Politik - Thema: Globalisierung, pol. Ökonomie
Masterarbeit
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Zu den betrachteten Phänomenen „Globalisierung“ und „Transformation“ im Zusammenhang mit „Staatlichkeit“ gibt es eine unüberschaubare Menge an Forschungen und Publikationen, die eine Vielzahl an kontroversen Ansätzen hervorgebracht hat. An dieser Stelle soll versucht werden, historisch-deskriptiv einen kleinen Überblick zu schaffen und das Fundament für die weitere Betrachtung zu legen.
Faktisch waren die Kapitalmärkte vor dem Ersten Weltkrieg und unter der Herrschaft des Goldstandards vollständig internationalisiert und von jeder nationalen Kontrolle befreit – und dementsprechend gering war der steuernde Einfluss der Politik auf die Krisenzyklen der kapitalistischen Ökonomie.[1]
Durch die Depression und die Massenarbeitslosigkeit Anfang des 20. Jahrhunderts zerbrach die internationale Verflechtung und es kam zur Rückorientierung zur autarken Nationalwirtschaft. Dadurch fand keine internationale Arbeitsteilung mehr statt und eine Senkung des Wohlstandsniveaus war die Folge. Aus diesem Prozess erwuchs die „Great Transformation“, die im Hinblick auf die Transformationsforschung im weiteren Verlauf noch erläutert wird. Im Ergebnis konnten die nationalen Wirtschaften bewusst gesteuert werden und auch die erneute Integration einer Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg nahm vorerst keinen negativen Einfluss.
Anders als der unkontrollierte internationale Kapitalismus der Vorkriegszeit erlaubte der „embedded liberalism“ der weltwirtschaftlichen Regelungssysteme in den Nachkriegsjahrzehnten die Nutzung der Vorteile der internationalen Arbeitsteilung, ohne die Fähigkeit der Nationalstaaten zur politischen Gestaltung ihrer internen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung zu beseitigen […].[2]
Durch die Währungsdominanz des Dollars verlor die Politik in den siebziger Jahren den entscheidenden Einfluss auf die Kapitalmärkte. Die Staaten wurden auf Grund dessen gezwungen, sich wirtschaftlich zu öffnen. Durch den Kalten Krieg wurden in den Modernisierungsprozessen mit der neuen Konstellation der internationalen Beziehungen das erste Mal auch wirtschaftliche Prozesse durch die aufkommenden Konflikte ausgelöst. Auf die Staatenkonstellation wirkte ab sofort ein großer wirtschaftlicher Anpassungsdruck, der sie in ihrer Souveränität einzuschränken begann auf Grund der entstehenden Abhängigkeiten und Verflechtungen. Die Nationalstaaten entwickelten durch die neu aufkommende globale Interdependenz ein ebenso neues Kollektivbewusstsein. Auf Grund dieser Entwicklung im Zusammenhang mit den ersten Ansätzen kollektiven Friedenssicherung kam es zur Entstehung von außerstaatlichen Strukturen – die Europäische Union war 1992 eine Folge dieser Entwicklung.[3] Angesichts der fortschreitenden Verflechtung der globalen Wirtschaft konnten transnationale Unternehmen immer mehr Gestaltungsmacht erringen. Sie erlangten Zugriff auf materielle Lebensadern wie Arbeitsplätze und sorgten durch die Möglichkeiten, sich der Steuerpflicht zu entziehen, für starke Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten. Die Nationalstaaten gerieten in eine direkte Abhängigkeit von den Unternehmen.
Es entstand eine Paradoxie innerhalb der Globalisierung: Auf der einen Seite beschnitt sie den Nationalstaaten die Souveränität und auf der anderen Seite ergab sie Sicherheit und Frieden im Kollektiv. Aber schuf nicht erst die Globalisierung diese Dinge, vor denen sich die Nationalstaaten nun nur noch im Kollektiv schützen können?[4]
Die politischen und gesellschaftlichen Paradoxien einer transnationalen Wirtschaft, die mit Abbau von Investitionshindernissen (sprich: Abbau von ökologischen, gewerkschaftlichen, sozialstaatlichen, steuerlichen Regelungen) gelockt und belohnt werden muss, damit sie immer mehr Arbeit abschafft und auf diese Weise zugleich immer weiter die Produktion und Gewinne steigert, müssen noch wissenschaftlich aufgedeckt und politisch verkraftet werden.[5]
Beck betont in dieser Betrachtung die Entstehung einer Subpolitik, die Politisierung der Wirtschaft ohne die Notwendigkeit, legitimiert zu werden. Die politisch umworbenen Unternehmen weichen den Staat und seine Autorität auf, in dem sie zwar seine Leistungen beanspruchen, aber ihm die Steuern durch Vermeidungsstrategien entziehen. Die Steuern auf Unternehmensgewinne sinken immer weiter und während die Gewinne der Unternehmer stetig wachsen, sind die Löhne kaum gestiegen. Zusätzlich steigt die Lohnsteuer immer mehr, aber die Körperschaftsteuer sinkt. Der Konfliktpegel wächst und weil transnationale Unternehmen sich dem nationalen Steuerzugriff entziehen, zahlen kleine nationale Unternehmen dafür umso mehr, obwohl sie die Arbeitsplätze sichern.[6] Weiterführend erläutert Beck, dass auch der soziale Integrationsgrad durch die wirtschaftliche Entwicklung sinkt:
Der Sog nach unten, in den der Sozialstaat gerät, ergibt sich nicht nur aus schwindenden Ressourcen bei explosionsartig steigenden Ausgaben, sondern auch daraus, dass ihm die Befriedungsmittel fehlen, während sich gleichzeitig die Schere zwischen Armen und Reichen immer weiter öffnet.[7]
Die angestoßene Individualisierung erschafft kein kollektives Bewusstsein innerhalb der Nationalstaaten mehr. Die Marktwirtschaft, der Sozialstaat und die Demokratie scheinen auseinanderzubrechen. Die Ökonomie befindet sich im globalen Verflechtungsprozess, während der Staat sich an der territorialen Beschränkung festhält. Ist die wirtschaftliche Globalisierung somit „die Wurzel allen Übels“?
Entscheidender Prozess der globalen Erweiterung war die Entwicklung des Freihandels. Durch den kaum eingeschränkten Handel im Gleichzug mit kommunikativem Austausch und Wettkampf steigerte sich das wirtschaftliche Wachstum enorm. Dies hatte multilaterale Verträge und eine zunehmende Verflechtung zur Folge, nach wie vor basierend auf einer nationalen Orientierung. Durch die wirtschaftliche Konkurrenz wurde auch die Modernität der Gesellschaft vorangetrieben – aus Patriotismus wurde Nationalismus. Dieser führte nachhaltig zum Aufrüstungswettlauf und folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen. Nach den zwei Weltkriegen bildeten sich mehr souveräne Staaten denn je. Der Staat etablierte sich als politische Organisationsform in den internationalen Beziehungen. Die Forschung sieht dabei ein gleichbleibendes Fundament – begrenzter staatlicher Raum und alle politischen Strukturen – und die Fähigkeit, sich ständig anzupassen, sodass Institutionen und Legitimität flexibel sind. Der Staat in seiner holistischen Betrachtung bildet damit das Fundament seines Erfolgs und seiner Existenz. Ist die Globalisierung also überhaupt als eine Gefahr für den emergenten Nationalstaat zu bewerten? Und kann man von poststaatlichen Systemen als nahendes Zukunftsmodell ablassen?
Die internationalen Beziehungen in der globalisierten Welt basieren momentan auf dem Sicherheitsbedürfnis, der gegenseitigen Abhängigkeit, der europäischen Integration, der demokratischen Friedfertigkeit und der medialen Weltöffentlichkeit.[8]
Trotz des Einstiegs in die […] Supranationalität, trotz eines sich ständig verdichtenden und erweiternden Netzes bi- und multilateraler Verträge, trotz der faktischen Abhängigkeit der meisten Staaten und trotz gewisser Vorrechte der Großmächte hat die Souveränität der Staaten bislang noch nicht ihre grundsätzliche Bedeutung für die zwischenstaatliche Ordnung eingebüßt.[9]
Laut Dieter Freiburghaus sind zwei Entwicklungen möglich: Wenn sich starke globale Organisationsstrukturen entwickeln können, kommt es zur Beschränkung der souveränen Staaten. Wenn sich schwache globale Organisationsstrukturen entwickeln, hat das die egoistische Abschottung der Staaten zur Folge. Auch Martin Albrow sieht den Wandel der Institutionen durch die Globalisierung kritisch. Es entstehen neue Organisationsstrukturen, die aber nicht in einem Gesamtsystem zu vereinbaren sind, da die transnationalen Beziehungen sich nicht einfach in globale Beziehungen umwandeln lassen. So entsteht kein universeller Bezug, sondern jeder Akteur und jede Institution haben ihren eigenen Bezug zum globalen Handeln.[10] Ist der sogenannte „Weltstaat“ somit eine Utopie?
Die Wirkung der Globalisierung auf den Nationalstaat ist ein vielfach erforschtes Feld. Behandelte Punkte sind vor allem die Beschleunigung der Internationalisierung, das riesige sowie flexibel bewegliche Finanzkapital, die Entstehung von Global Playern und neue Informationstechnologien. Es gibt real und virtuell kaum noch Grenzen; Raum und Entfernung verlieren an Bedeutung. Zu den negativen Prozessen gehören globale Notzustände, Umweltprobleme und steigende Kriminalität.
Michael Felder nimmt bezüglich der Staatlichkeit im Wandel, aufbauend auf Jürgen Habermas, die Position ein, dass Staatlichkeit durch globale Prozesse nicht verschwindet, sondern dass lediglich unübersichtlich wird, insbesondere da es viele Ansätze und Thesen über die Zukunft des Nationalstaates gibt. Die zwei für die weitere Betrachtung am wichtigsten Ansätze seien an dieser Stelle kurz genannt:[11] Bezugnehmend auf Claus Offe benennt er als erstes die gesellschaftszentrierten Ansätze. Hierbei geht es vordergründig um gesellschaftliche Veränderungsprozesse:
Aus einer funktionalen Sichtweise werden Probleme der gesellschaftlichen Ordnungsbildung als Ausgangspunkt gewählt, um den Wandel von Staatsaufgaben zu erklären.[12]
Dieser Wandel wird an Hand von Systemtheorie und Sozialintegration empirisch festgestellt. Gesellschaftliche Entwicklungen stehen demzufolge in einem direkten Verhältnis zur Veränderung staatlicher Aufgaben.
Umfang und Inhalt des Staatsbegriffs sind Ergebnis des Konflikts soziopolitischer und politisch-kultureller Deutungen, die von Bürgern und ihren Assoziationen als den Trägern politischer Willensbildung vertreten und durchgesetzt werden.[13]
Diese pluralistische Betrachtungsweise benennt das Kollektiv als wichtigsten Akteur und die Veränderungen an den Schnittstellen zwischen Gesellschaft und Staat als entscheidende Faktoren für den Wandel. Durch die Globalisierung findet eine Desorganisation dieser Schnittstellen statt, sodass der Nationalstaat möglicherweise Attribute seiner Staatlichkeit einbüßt bzw. sie sich verändern. Felder sieht in dieser empirischen Herangehensweise das Problem, dass sich diese Ansätze nur mit dem Verlust, aber nicht mit der Erneuerung und der zukünftigen Konstellation beschäftigen. Das Ergebnis sieht damit nur die negative Einschränkung der Handlungsfähigkeit und die dadurch entstehenden Risiken, denn es fehlt der Blick auf die Gesamtsituation.
Die staatszentrierten Ansätze beschäftigen sich in der Forschung mit institutionellen und materialistischen Strukturen. Diese ergeben sich aus institutionellen Arrangements, die die staatlichen Handlungsmöglichkeiten erweitern und beschränken können. Die Institutionen werden als strategischer Rahmen erfasst, deren organisatorische Strukturen die Gesellschaft lenken. Der Wandel selbst wird aber nicht empirisch erfasst. Die staatszentrierten Ansätze, die sich mit den materialistischen Prozessen beschäftigen, thematisieren die Staatsableitungsdebatte und den Kapitalismusprozess, sowie der Reproduktion der Gesellschaft. Im Ergebnis steht hier das Materialisieren der Institutionen, der Gesellschaft, der Politik und der Medien.
Michael Felder betont abschließend, dass die Staatlichkeit im Wandel vor allem eine Entwicklung von der Hierarchie zum Dialog sei. Die wichtigsten Prozesse sind die Kooperation von Staat und Gesellschaft sowie die Vergesellschaftung:
Die neuen Governance-Mechanismen sind […] eine Reaktion auf eine durch Globalisierungsprozesse gesteigerte gesellschaftliche Komplexität, die flexiblere und umfassendere Formen der Kooperation erfordert.[14]
Für ihn liegt der Fokus auf Europa, gleichwohl räumt er ein, dass auch hier zu wenig Erfassung des eigentlichen Veränderungsprozesses möglich ist. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft muss deutlicher geklärt sowie Mikro-, Makro- und Mesoebene im Verhältnis betrachtet werden. Der Erfassung des Wandels kann nur gelingen, wenn er Institutionell, akteursbezogen und strukturell gleichermaßen erfasst wird. Ist eine Erfassung des möglichen staatlichen Wandels also immer verfälscht durch die theoretische Perspektivwahl? Gibt es einen real zu erfassenden staatlichen Wandel durch die Globalisierung und welche ist seine Perspektive?
Seit den siebziger Jahren besteht die Debatte, ob der Nationalstaat im Zuge der Globalisierung ausgedient hat beziehungsweise wo seine Grenzen und Möglichkeiten liegen. Zusätzlicher Anstoß dieser Entwicklung ist der Prozess der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung, der den Staat als Handelnden immer mehr unter Druck setzt. Der Staat kann der Gesellschaft immer weniger gerecht werden. Durch den Verlust der Steuerungsfähigkeit begann der Staat Risse zu bekommen und es ergaben sich erste Entwicklungsprozesse hin zum kooperativen Staat; das Regieren wurde zum politischen Problemmanagement. Neben dieser innerstaatlichen Ausbildung kooperativer Strukturen bewegten sich international die Zeiger immer mehr in Richtung kollektiv-kooperativer Konstellationen. Die internationalen Beziehungen beruhten seit 1989/90 nicht mehr nur auf der kollektiven Friedenssicherung, sondern ebenfalls auf einer aktiven Gestaltung internationaler Politik.
Befeuert wurden diese politischen Aktivitäten […] durch eine immer schneller und weiter ausgreifende Globalisierung beziehungsweise Denationalisierung von Handlungszusammenhängen in allen gesellschaftlichen Bereichen, von Wirtschaft über die Kultur bis hin zu Sicherheitsproblemen und Umweltanliegen […].[15]
Die Probleme bekamen mehr und mehr transnationalen Charakter und waren mittels innerstaatlicher Regelungen nicht mehr zu lösen. Diese aufbrechenden Regelungslücken füllten sich mit privaten Akteuren und bildeten so das Fundament für weitere Privatisierungen. Die Frage nach Verantwortung und Legitimität internationalen Regierens wurde vor allem im Hinblick auf globale Problematiken immer lauter und zog globale Protestbewegungen nach sich.
Diese Form der Politisierung des Regierens jenseits des Nationalstaates war […] eine Folge der zunehmenden Eingriffstiefe und -breite internationaler Normen und Institutionen in einer nunmehr als ‚postnational‘ zu beschreibenden Konstellation.[16]
Fehlende demokratische Strukturen brachten immer wieder neuen Zündstoff in die Debatte über eine globale Demokratie. Kann es eine globale Demokratie geben und gibt es ein globales Gemeinwohl?[17] Sind wir auf dem Weg zu einem postdemokratischen System?
Dieter Freiburghaus konstatiert, dass das Volk sich selbst Institutionen schaffe, die den Staat legitimieren. Diese müssten aber immer wieder aktualisiert werden. Zusätzlich begründet sich der moderne Staat auf Sprache, Kultur und Emotionen:
Der moderne Staat, der in historisch noch nie da gewesener Weise seinen Bürgern Wohlstand, Freiheit und Einfluss gewährt, ist darauf angewiesen, die Gesamtheit der politischen Fragen von ein und demselben Volk im Rahmen von durch Erfahrung stabilisierten und legitimierten Institutionen entscheiden zu lassen.[18]
Fritz Scharpf sieht in Bezug auf die globale Entwicklung genau in diesem Punkt die schwerwiegendste Problematik:
Die gegenwärtige Malaise der westlichen Demokratien […] hat ihre wichtigste Ursache darin, dass autonome Willensbildung bisher nur in Gemeinwesen auf der lokalen, regionalen und nationalen Ebene institutionalisiert werden konnte, während die realen Problemzusammenhänge in immer mehr Bereichen die nationalen Grenzen überschreiten und sich dadurch der effektiven Selbstbestimmung in diesen Gemeinwesen entziehen.[19]
Was geschieht mit der Legitimation des Nationalstaates, wenn das Volk nicht mehr in der Lage ist oder den Willen verliert, diese zu gewährleisten?
Der Nationalstaat findet sich nicht nur im internationalen Geflecht wieder, sondern auch innerstaatlich wird er durch die Globalisierung stark beeinflusst.
Alle Nationalstaaten sind mit diesem Globalisierungsdilemma konfrontiert, einerseits internationale Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Standorts zu verbessern, andererseits bei der nationalen Politik soziale Verantwortung zu praktizieren.[20]
Finanzprobleme ergeben sich oft angesichts schwindender Steuern aus dem privatwirtschaftlichen Bereich. Organisierte Kriminalität und rechtsfreie Räume ermöglichen zudem eine Unantastbarkeit der Gewinne. Dies bringt den Staat und die Politik in eine defensive Position, da das Kartellrecht und die Legalität in der globalwirtschaftlichen Entwicklung immer mehr an Boden verlieren. Die Politik kann die Gesellschaft und die Wirtschaft nicht mehr steuern.
Da es jedoch keine globale Verantwortung gibt, weder räumlich, geistig noch politisch-institutionell, bleibt der Nationalstaat verantwortungspolitisch gefordert.[21]
Christian Hacke betont in der Betrachtung der Bedeutung des Nationalstaates im Zeitalter der Globalisierung, dass diese dem Nationalstaat ebenso neue Möglichkeiten biete:
Nur der Staat sorgt für inneren Frieden und Wohlfahrt, macht aus Besitz Eigentum, garantiert Sicherheit für Produktion und Investition und vollbringt Gemeinschaftsleistungen.[22]
Die Geschichte zeigt, dass Chaos entsteht, sobald der Nationalstaat als Akteur und Struktur verschwindet. Auch Jürgen Habermas appelliert an die Wertschätzung des Nationalstaats:
Die Herausforderung besteht nicht so sehr darin, irgendetwas Neues zu erfinden, sondern darin die großen Errungenschaften des europäischen Nationalstaates über dessen nationalen Grenzen hinaus in einem anderen Format zu bewahren; neu ist nur die Entität, die auf diesem Wege entstehen wird. Bewahrt werden müssen die materiellen Lebensbedingungen, die Chancen zur Bildung und Muße, die sozialen Gestaltungsspielräume, die der privaten Autonomie erst ihren Gebrauchswert verleihen und dadurch demokratische Partizipation möglich machen.[23]
Ist der Nationalstaat somit trotz der globalen Entwicklung ein unverzichtbarer Akteur?
Die Transformationsforschung ist ein ähnlich komplexes Forschungsfeld. Wolfgang Merkel gibt in seiner Betrachtung der Systemtransformationen einen Überblick über diverse Transformationstheorien, die im Folgenden zum Verständnis kurz erläutert werden sollen.[24] Er benennt vier relevante Entwicklungsstränge: System, Struktur, Kultur und Akteur.
Diese unterschiedlichen Ansätze suchen die Ursachen, Erfolge und Misserfolge (von) […] Systemwechsel(n) in unterschiedlichen sozialen Teilsystemen: […] in Wirtschaft und Gesellschaft, […] im Staat und in den sozialen Klassen, […] in Religion und Kultur sowie den daraus erwachsenden sozialen Interaktionsbeziehungen und […] in der genuin politischen Handlungssphäre.[25]
Als Beispiele für die Systemtheorie benennt er „The Great Transformation“ von Karl Polanyi und die Modernisierungstheorie von Wolfgang Zapf. Im Vordergrund steht hier der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wandel und der politischen sowie sozialen Reaktion darauf. Im Fokus liegen dabei die Dysfunktion im System und ihre Bedingungen. Polanyi thematisiert in seiner Theorie den Übergang von „integrierten“ Gesellschaften zur nicht integrierten Gesellschaft vom Typ der freien Marktwirtschaft. Er geht von der These aus, dass erst die Herausbildung einer liberalen Marktwirtschaft mit ihrem „freien Spiel der Kräfte“ zu jener charakteristischen „Herauslösung“ und Verselbständigung der Ökonomie gegenüber der Gesellschaft geführt hat.[26]
Die Modernisierungstheorie nach Wolfgang Zapf erfasst die Modernisierung moderner Gesellschaften als eine weitergehende Modernisierung.
Konkurrenzdemokratie, Marktwirtschaft und Wohlstandsgesellschaft mit Wohlfahrtsstaat und Massenkonsum sind die Basisinstitutionen, innerhalb derer um Innovation gekämpft wird. Das Ausmaß des politischen Zentralismus, der regionalen Disparitäten, der ethnisch-religiösen Konflikte, der konkordanz-demokratischen Elemente, der Klassenpolarisierung sowie das Ausmaß des Wohlfahrtsstaats und der sozialen Bindung der Marktwirtschaft bezeichnet – neben der internationalen Position der jeweiligen Gesellschaft – die Dimensionen der Variation moderner Gesellschaften.[27]
Nur die Gesellschaften, die diese Institutionen entwickeln, sind für Zapf als modern zu bezeichnen. Weitergehend ist die Modernisierung in seinem Sinn dann, wenn die Gesellschaft ihre Werte generalisiert, sich differenziert und ihren Status weiter anheben kann.[28]
Die strukturalistische Transformationsforschung […] betont die ‚sozio- und machtstrukturellen Zwänge‘ […], denen politische Transformationsprozesse unterliegen.[29]
Diese entstehen durch die Machtverschiebungen in einer Gesellschaft. Die Besonderheit der Theorie liegt darin, dass verschiedene Wege ans Ziel führen: Indikatoren können Machtverteilung, Ökonomie, Klassenkoalitionen sowie auch die Autonomie des Staates sein. Die Kulturtheorien bauen ihre Forschung auf religiös-kulturellen Traditionsbeständen auf. Da sich diese sehr viel langsamer verändern lassen als politische und soziale Strukturen, werden sie als Transformationsbeweis gewertet.
Die Akteurstheorie kann als Ergänzung zu den drei anderen Theoriesträngen verstanden werden.
Im Unterschied zum ökonomischen, kulturellen und sozialstrukturellen Determinismus betonen Akteurstheorien die Unbestimmtheit politischen Handelns im Hinblick auf Verlauf und Ausgang von Systemwechseln.[30]
Das Ergebnis der Transformation hängt somit von der situationsgebundenen Strategie oder der Handlung der Akteure ab. Als Besonderheit ist hier das Elitenhandeln zu nennen; die Masse wirkt meistens nur kurzfristig als Auslöser. Grundsätzlich steht das Handeln in Abhängigkeit zum individuellen Kosten-Nutzen-Kalkül. Merkel unterstreicht, dass alle Theorien synthetisch betrachtet werden müssen, um ein hinreichendes Analyseergebnis zu bekommen.
Handlungs- bzw. Akteurstheorien führen von der allgemeinen Ebene ökonomischer, struktureller und kultureller Voraussetzungen […] zur konkreten Situation politischer Akteure.[31]
Als globale Transformationsphasen leitet Merkel folgende ab: 1. Ende des aktuellen Systems, beruhend auf internen und externen Ursachen und verschiedenen Verlaufsformen, 2. Globalisierung, beruhend auf der Institutionalisierung und der Genese, und 3. Konsolidierung, beruhend auf der konstitutionellen und repräsentativen sowie der Verhaltenskonsolidierung der Elitengruppen und der Gesellschaft.[32]
Arndt Hopfmann und Michael Wolf betonen, dass Transformationsanalysen keine allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten feststellen können, weil Makrophänomene nicht prognostizierbar sind:
So ist zunächst einmal zu konstatieren, dass die zeitgenaue Vorhersage gesellschaftlicher Umbrüche aufgrund ihrer mit den Begriffen der Multikausalität, Nichtlinearität und Interferenz zu charakterisierenden komplexen Beschaffenheit außerhalb der Erkenntnismöglichkeiten der Sozialwissenschaften liegt und deren professionellen Kompetenzraum überschreitet.[33]
Eine Prognose ist aber durchaus möglich, wenn durch eine Transformationsanalyse ein Problem fixiert werden kann, welches gelöst werden will. Transformationen sind interdependente Prozesse, die sich auf Gesellschaft, Staat und Wirtschaft im Ganzen auswirken und nicht nur auf Teilsysteme.
Gesellschaftssysteme wären demnach nur so lange bestandsfähig, wie sich deren miteinander interagierende Subsysteme (Ökonomie, Politik, Gemeinschaft, Kultur) innerhalb eines Schwankungskorridors zueinander kohärent verhalten.[34]
Kommt es durch verschiedene Faktoren zu größeren Schwankungen bzw. Widersprüchen, als das System ertragen kann, wird es zerstört und es bildet sich durch einen erfolgreichen Umbruch ein neues System, das eine neue Kohärenz schafft. Das neue System kann aber nur bestehen, wenn eine posttransformatorische Stabilität erreicht werden kann.[35]
Walter Bühl nimmt in seiner Betrachtung von Systemtransformation eine Gegenposition zu Wolfgang Zapfs Modernisierungstheorie ein, die er für widerlegt hält[36] und konstatiert, dass transformelle Entwicklung nie nur durch eine Dynamik bestimmt werden könne, sondern nur durch komplexe, multidimensionale Zusammenhänge, die immer individuell und immer neu sind. Modernisierte Systeme können nicht mehr in den Ausgangszustand zurück, transformierte Systeme können sich wieder dorthin entwickeln.
Ebenso darf der Begriff Transformation nicht isoliert und nicht aus dem Zusammenhang mit den anderen Formen des sozialen Wandels und Systemwandels, einschließlich von Entwicklungsstadien und Phasenübergängen, aber auch von „strukturellen Schieflagen“ und „Regressionen“, herausgerissen werden.[37]
Der transformatorische Mehrebenenprozess zeichnet sich dadurch aus, dass Makro-, Meso‑ und Mikroebene auseinanderzufallen drohen. Oft besteht die falsche Annahme, dass mit der Politik als Mittel der Rahmen geschaffen werden kann, an dem sich die Gesellschaft und das soziale Gefüge von selbst neu orientieren. Es gibt zu viele unterschiedliche Dynamiken auf den verschiedenen Ebenen, um sie dadurch einzufangen. Im Bereich der Makroebene geht es vor allem um das Rechtssystem, die Verfassung und die Wirtschaft. Auf der Mesoebene sind die entscheidenden Faktoren die Institutionen, Verbände und Gruppenbeziehungen, auf der Mikroebene das Individuum, das Kollektiv, die Einstellungen, die Werte, die Stimmungen und Handlungsbereitschaften. Schlüsselprobleme des sozialen Wandels sind die Bifurkationen; Fluktuationen und Dissipationen kriechen in die Prozesse der Ebenen. Bei falscher Reaktion auf diese Dynamiken werden sie verschlimmert und in die nächste Ebene getragen.
Ein System kann nur bestehen und sich weiterentwickeln, wenn Fluktuationen und Zyklen zugelassen sind; aber es kann auch nicht zu viel Fluktuationen ertragen – es muss Haltepunkte und Regelmäßigkeiten geben, Notfallschaltungen sozusagen, auf die im Krisenfall zurückgegriffen werden kann.[38]
Die Transformationsdynamik ergibt sich, weil gesellschaftliche Bifurkationen falsch behandelt werden, und führt durch die Ebenen zu einem Systemumbruch nach einem gezwungenen Muster, obwohl der Keim der Dynamik vielleicht zu lösen gewesen wäre. Wenn eine Ebene durch die Transformationsdynamik eingenommen wurde, können sich die anderen beiden Ebenen davon nicht mehr loslösen und werden zwangsläufig von der Dynamik eingeholt, es sei denn, sie wird durchbrochen.
Führen uns die dritte Industrielle Revolution und die Globalisierung in eine Transformation zur Postmoderne? Entscheidende Faktoren bilden hier die Differenzierung und die Individualisierung im kompletten wirtschaftlichen Bereich im Zusammenhang mit der Massenfertigung und dem technischen Fortschritt. In der Wirtschaft passiert ein Zusammenschluss alter und neuer Industrie; es geht um Flexibilität und ständige Weiterentwicklung, „Lean management“, ausgerichtet auf eine anspruchsvolle und komplexe Konsumgesellschaft.
Das große Problem der Transformation ist, dass kein Land, keine Region alle diese Tendenzen gleichzeitig verfolgen kann, so dass verschiedene Länder verschiedene Wege gehen und dass sich unterschiedliche, miteinander im Konflikt liegende Gruppen herausbilden werden.[39]
Es kann keine allgemeine Theorie geben, weil die Transformationsprozesse individuell verlaufen und vor allem eine individuelle Lösung benötigen. Dabei ist es wichtig, von allen Sektoren den Blick auf die Transformation zu lenken und so die wissenschaftliche Theorie durch politische, soziale und wirtschaftliche Zusätze zu ergänzen. Der Zusammenhang zwischen Mikro- und Makroebene sowie Fortschritt, Wandel und Krise ist bei einer Analyse unbedingt zu berücksichtigen.[40]
Befindet sich die Staatlichkeit durch die Globalisierung in einem Transformationsprozess?
Im Folgenden werden für die Staatlichkeit als Forschungsobjekt, seine Parameter und darauf Einfluss nehmende Phänomene sowie für die Transformation zur Prozessanalyse relevante begriffliche Erläuterungen gegeben.
Der Staat wird hier als ein politischer Anstaltsbetrieb nach Max Weber[41] verstanden. Dieser ist dadurch definiert, dass die Regierung durch legitimen psychischen Zwang die Durchführung der Ordnung erreicht. Die Grundlage dafür bildet eine durch Satzungen abänderbare Verwaltungs- und Rechtsordnung, die für das gesamte auf dem beherrschten Gebiet stattfindende Handeln Geltung beansprucht. Der Anstaltscharakter erläutert sich durch den Verband, dessen Ordnung in einem bestimmten Wirkungsbereich greift. Die Ordnungen einer Anstalt gelten für jeden Menschen mit bestimmten Merkmalen (Gebürtigkeit, Aufenthalt etc.). Das politisch orientierte Handeln findet statt durch soziales und Verbandshandeln.
Der moderne Staat ist „janusköpfig“. Der Staat bringt sowie fordert einseitige Leistungen und auf der anderen Seite wird sein Gemeinwesen durch die Gesellschaft getragen.
Moderne Staatlichkeit ist durch fünf Hauptmerkmale gekennzeichnet: (1) Intensität der Staatswirksamkeit (2) Rationalität der Staatswirksamkeit (3) Trennung des Rechts von Sitte und Religion (4) Unbedingte Sicherung des Landfriedens (5) Eine an formalem Recht geschulte Beamtenhierarchie als Garant des staatlichen Gewaltmonopols.[42]
In Anlehnung an Hobbes besteht die Pflicht des Staats, seine Bürger zu schützen. Dies betrifft ihr Leben, ihre Freiheit und ihre Würde. Dazu wird dem Staat das Attribut der Rechtsstaatlichkeit zugesprochen, das die Bürger vor staatlichem Eingriff schützt. Dieses Monopol legitimer Gewaltanwendung steht mittlerweile eng zusammen mit völkerrechtlichen Elementen. Die Gewaltenteilung nach Montesquieu in Legislative, Exekutive und Judikative bildet hierzu das Fundament. Die Sozialstaatlichkeit verpflichtet den Staat, Solidarität zu stiften und Umverteilung vorzunehmen, damit auch sozial schwache Bürger ihre Rechte wahren können. Ebenso ist der Staat ein Kulturstaat mit der Pflicht, Kulturgut zu bewahren und zu erweitern sowie Wissensvermittlung zu gewährleisten. Die Trennung von Staat und Gesellschaft ist wichtig, um das zu realisieren. Dem Staat wird als Treuhand des Souveräns die Gemeinwohlorientierung zur Aufgabe gemacht.
Die Tätigkeit des Staates besteht (u. a.) im Ausführen des im demokratischen Verfahren bestimmten Willen des Volkes durch eine Regierungs- und Verwaltungsorganisation, die auf Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit angelegt ist.[43]
Nach Rüdiger Voigt gibt es vier Dimensionen von Staatlichkeit: Ressourcen, Recht, Legitimität und Wohlfahrt, die ihre Bündelung im modernen Staat nach dem Zweiten Weltkrieg fanden. Die Dimensionen sind multifunktional und ambivalent zu betrachten.
Trotz […] Ambivalenzen staatlicher Macht sind normative soziale Güter – wie Frieden, Rechtssicherheit, individuelle Freiheit, politische Selbstbestimmung und soziale Wohlfahrt – zu Kennzeichen moderner Staatlichkeit geworden.[44]
Damit diese vier Dimensionen aber überhaupt bestehen können, beansprucht der Staat die Territorialstaatlichkeit, die ihm die vollständige Kontrolle innerhalb eines begrenzten Territoriums zusagt. Es geht hier im modernen Staat vor allem um die Monopolstellung von Steuererhebung und Gewaltanwendung.[45]
Davon ausgehend ist der Begriff „Nationalstaat“ juristisch festgelegt:
Der Nationalstaat […] basiert auf dem nicht rational begründbaren Willen einer Menschengruppe zu dauerhafter Solidarität in staatlicher Gestalt.[46]
Allerdings ist jeder Nationalstaat individuell; die Nationalstaaten verfügen nur über die gemeinsamen Gattungsmerkmale, sodass keine einheitliche Definition möglich ist. Heute ist der Nationalstaat gleichzusetzen mit einem Verfassungsstaat.[47] Der Nationalstaat ist die einflussreichste soziale Organisation.
Der Staat regelt die Wirtschaft, bekämpft Kriminalität, organisiert das Bildungssystem und stellt Bildungseinrichtungen bereit, unterhält und steuert die Verkehrsinfrastruktur, ermöglicht die Demokratie, führt Kriege, bekämpft Terror, gewährleistet soziale Sicherheit, garantiert die Wasser-, Strom- usf.-versorgung – und er vereinnahmt für all diese Zwecke etwa vierzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts.[48]
In dieser Betrachtung bezieht sich die Begrifflichkeit auf Nationalstaaten in Europa, die seit dem Zweiten Weltkrieg bestehen. Die neu entstandenen Staaten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind noch zu sehr mit der inneren Transformation beschäftigt, um als Forschungsobjekt bei der Betrachtung der internationalen Transformation infrage zu kommen. Ebenfalls werden failed states als Sonderfall von der Betrachtung ausgeschlossen, weil ein funktionierender Nationalstaat grundlegend vorausgesetzt wird.
Im Folgenden sollen die Parameter von Staatlichkeit sowie die möglichen Einflussfaktoren im theoretischen Zugriff erläutert werden. Sie bilden die Grundlage für die Entwicklung des Analyseschemas zum Wandel von Staatlichkeit und ergeben die ausgewählten Indikatoren zur Messung dieses Wandels. Es handelt sich um eine eingeschränkte Stichprobe aus einer sehr viel größeren Menge messbarer Sachverhalte in der Betrachtung von Wandel in der Staatlichkeit. Die folgenden Parameter und Einflussfaktoren erscheinen aus der Perspektive der Nationalstaatsdebatte heraus als die prägnantesten. Die Auswahl ergibt sich aus der Recherche des Forschungsstands.
Souveränität bedeutet militärische, wirtschaftliche und politische Hoheitsgewalt über das eigene Gebiet sowie die eigenständige völkerrechtliche Vertretung. Souveränität ist nicht teilbar, bezieht sich aber immer nur auf eine konkrete Gesellschaft, die dem Staat den Souverän übertragen hat.
Die Souveränität schließt die Rechtssetzungsbefugnis des Staates und das staatliche Gewaltmonopol ein.[49]
Lange Zeit war die staatliche Souveränität darüber definiert, ein Recht auf das Führen von Kriegen zu besitzen. Diese Entwicklung begann mit dem Westfälischen Frieden 1648 und erzeugte die äußere Souveränität der Staaten. Die innere Souveränität entstand mit der Modernisierung des Staates. Er wurde ein legitimierter Träger des Gewaltmonopols, organisierte sich durch seine Bürokratie und strukturierte die Wirtschaft entscheidend.[50] Es kam zur Transformation dieser Verhältnisse, in dem die Souveränität vertraglich dem Frieden statt dem Krieg unterstellt wurde. Die folgenden völkerrechtlichen Vertragsschlüsse brachten Machtgleichgewicht und die klare Zuordnung des Volkes sowie des Staatsgebiets.
Das Staatsvolk sind alle Staatsangehörigen. Es ist einer der wichtigsten Parameter der Staatlichkeit, denn Herrschaft steht immer in Abhängigkeit zum Volk. Es kann niemand herrschen, wenn nicht jemand da ist, der beherrscht wird und beherrscht werden will. Die Menschen gehen einen Gesellschaftsvertrag ein, in dem sie sich zur Gemeinschaft zusammenschließen. Daraus entwickelten sich die Grundrechte auf Freiheit, Gleichheit, Meinung und Eigentum. Der Staat agiert durch die Gewaltenteilung gemeinwohlorientiert auf der Grundlage der Volkssouveränität.[51]
Das Territorium bildet einen abgegrenzten Raum, auf den ein Macht- und Gebietsanspruch besteht.
Legitim […] ist ein Gemeinwesen dann, wenn die Beherrschten ein gewisses Maß an internalisierter Folgebereitschaft gegenüber den kollektiv bindenden Regelungen zeigen.[52]
Die Voraussetzung dafür ist, dass die Bürger eine politische Gemeinschaft sind.
Das legitime Machtmonopol ermöglicht dem Staat als einzigem Akteur ökonomischen Zwang auszuüben im Sinne des Gemeinwohls. Dies beinhaltet das Steuermonopol und die allgemeine Umverteilung sowie deren Kontrolle.
Die politische Einheit muss nach innen und nach außen gegeben sowie akzeptiert sein, damit ein Staat existieren kann. Sie wird durch eine Verfassung gebildet und getragen. Diese legitimierte schriftliche Vereinbarung strukturiert das politische Gemeinwesen, die Gewaltenteilung sowie die Grundrechte und ermöglicht so die Bildung einer Einheit des Staates.
Wirtschaft ist
die Gesamtheit aller Einrichtungen wie Unternehmen, private und öffentliche Haushalte sowie die notwendigen Abläufe wie Käufe und Verkäufe, die mit der Herstellung und dem Verbrauch von Gütern verbunden sind.[53]
Globalisierung und Transformation werden in dieser Betrachtung als auf Staatlichkeit Einfluss nehmende Prozesse erläutert. Dabei werden diverse mögliche Subprozesse von Globalisierung erfasst, um sie dann den oben aufgeführten Parametern zuzuordnen. Diese Auffächerung und Zuordnung ist notwendig, um die Wechselwirkung zwischen Prozess und Paramater analysieren zu können.
Globalisierung versteht sich als
die aktive oder passive Entwicklung hin zur Globalität […] in einzelnen Bereichen; […] als Ausbreitung von Praktiken, Werten, Technologien und anderen menschlichen Erzeugnissen über die ganze Welt;[…] als wachsender Einfluss globaler Praktiken etc. auf das Leben von Menschen; […] als zunehmende Bedeutung des Globus als zentraler Bezugspunkt oder Voraussetzung menschlichen Handelns; […] als zunehmender Wandel, der durch die Interaktion einzelner Bereiche hervorgerufen wird;[…] als die Gesamtheit dieser Bereiche; […] als der abstrakte Oberbegriff dieser Bereiche […].[54]
Die Wortendung „-isierung“ zielt auf die prozessuale Veränderung ab, die der Begriff vermittelt. Globalisierung ist kein Prozess mit Gesetzmäßigkeiten, sondern ein individueller Wandel, der in jedem Bereich anders wahrgenommen wird und wirken kann.
Die Besonderheit des Globalisierungsprozesses heute […] liegt in der empirisch zu ermittelnden Ausdehnung, Dichte und Stabilität wechselseitiger regional-globaler Beziehungsnetzwerke und ihrer massen-medialen Selbstdefinition sowie sozialer Räume und jener Bilder-Ströme auf kultureller, politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ökonomischer Ebene.[55]
Diese gewaltige Ausdehnung von Austauschprozessen, die vom Geld bis zum Menschen alles betreffen, bewirkt, dass Entfernung und Zeit an Bedeutung verlieren. Im Folgenden werden mögliche Subprozesse der Globalisierung besprochen.
x-nationalisierung
Um den möglichen Wandel der Staatlichkeit des Nationalstaates an Hand der Globalisierung einfangen zu können, müssen die Prozesse, die direkt auf diesen einwirken, erfasst werden.
Durch Internationalisierung werden dem Eingriffs des Nationalstaats Bereiche der nationalen Ebene vollständig oder teilweise des Zugriffs entzogen. Ebenfalls werden nationalspezifische Handlungen des Staates in den globalen Kontext gezogen.
Supranationalisierung beinhaltet das Entstehen überstaatlicher Strukturen bzw. Institutionen mit intergouvernemental-kooperativen Elementen, die über dem Nationalstaat stehen, wie bspw. Völkerrecht und europäische Integration.
Der Freihandel, der auf dem Abbau staatlicher Kontrollen und Handelsschranken, dem freien Import und Export von Kapital und Devisen basiert, […] bedeutet […] Entnationalisierung.[56]
Der Nationalstaat baut damit seine Interventionsreichweite ab.
Transnationalisierung
unterstellt […] den graduellen Bedeutungsverlust des Nationalstaates als zentralen Dreh- und Angelpunkt für gesellschaftliche Integration und politische Regulierung.[57]
Dieser Prozess obliegt der globalen sozialen Interaktion nicht staatlicher Akteure. Es geht dabei nicht nur darum, dass die über die nationalen Grenzen hinausgehenden Möglichkeiten der Mobilität, Kommunikation und Migration bestehen, sondern inwiefern diese von den Menschen auch genutzt werden.
Denationalisierung ist die
relative Zunahme der Intensität und Reichweite grenzüberschreitender Austausch- oder Produktionsprozesse in den Sachbereichen Wirtschaft, Umwelt, Gewalt, Mobilität sowie Kommunikation und Kultur.[58]
Diese Prozesse müssen aber nicht unbedingt auch globalen Umfang erreichen.
Regionalisierung
Der ökonomischen Regionalisierung entspricht der Regionalismus im politischen Bereich; d.h., die Staaten einer Region organisieren ihre Zusammenarbeit durch politische Arrangements.[59]
Beide Prozesse entstehen, um der Ausweitung und Verflechtung des jeweiligen Bereichs entgegenzuwirken, und sind mögliche Strategien, die globale Entwicklung durch Reorientierung auf einen kleineren Einzugsbereich bzw. Segmentierung des Markts einzudämmen. Ebenfalls soll die Möglichkeit geschaffen werden, dem Nationalstaat wieder Interventionspunkte einzuräumen, die er durch die Globalisierung verloren hat bzw. verlieren könnte.
Privatisierung
P. bezeichnet die Veräußerung und Umwandlung öffentlichen Vermögens in Privateigentum. P. basiert auf der (wirtschaftsliberalen) Überzeugung, dass der Anteil des öffentlichen Sektors zugunsten der privaten Wirtschaft zurückgedrängt werden müsse. P. ist daher meistens mit weiteren Formen der Entstaatlichung, Deregulierung etc. und dem Abbau öffentlicher Verantwortung verbunden.[60]
Vergesellschaftung
Unter dem Begriff der Vergesellschaftung soll […] ein Prozess verstanden werden, der auf die möglichst weitreichende Einbindung von nichtgouvernementalen Regelungsbetroffenen in zwischenstaatliche Rechtsetzungsaktivitäten abzielt.[61]
Durch den Prozess der Vergesellschaftung entstehen soziale Bewegungen, die sich auf globaler Ebene in Nichtregierungsorganisationen kollektivieren. Im Fokus steht hier die Verschiebung der Exekutivlastigkeit; die zwischenstaatliche Politik gewinnt an Relevanz und beeinflusst immer mehr die innerstaatliche Politik. Die Vergesellschaftung ermöglicht somit größeren Kontrolldruck auf die internationale Politik durch Nichtregierungsorganisationen. NGOs sind als Verbindung gesellschaftlicher Repräsentation und Professionalität sowie Expertenwissens in der Lage, eine Blaming situation herzustellen, sodass die betroffene Institution oder der Akteur in Rechtfertigungsbedrängnis gerät.
Entgrenzung
Die Entgrenzung der Märkte bedeutet, dass private Akteure durch grenzüberschreitende Finanzverschiebungen Staaten beeinflussen können. Die Standortattraktivität und der grenzenlose Datenaustausch werden zu entscheidungsträchtigen Attributen der Nationalstaaten. Dies betrifft auch die Arbeitsverhältnisse; die Technik ersetzt den Menschen und die Produktion zu Niedriglöhnen in armen und sozial ungesicherten Ländern wird zur Methode. Die Entgrenzung betrifft neben der Wirtschaft auch alle anderen Bereiche im gesellschaftlichen Bereich. Identität, Kultur und Tradition werden durch Migration, Tourismus, Mobilität und Kommunikation aufgebrochen und entgrenzt.[62]
Subpolitsierung
Subpolitisierung entsteht dadurch, dass die Wirtschaft die politische Handlungsmacht aufbrechen kann, indem sie sich Zugriff auf materielle Lebensadern des Staates verschafft. Vor allem global agierende Unternehmen sorgen für Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten, da sie sich den Standort ihrer Produktion aussuchen können und sich so der lokalen Steuerpflicht entziehen können. Diese Macht wird den Unternehmen ohne Legitimierung zuteil und erschafft somit eine subpolitische Struktur.[63]
Deregulierung
Die Deregulierung betrifft
Maßnahmen im Rahmen angebotsorientierter Wirtschaftspolitik zur Verringerung staatlicher Eingriffe (Regulierung) in das Marktgeschehen. Deregulierung verfolgt das Ziel, ineffiziente Normen und ordnungsrechtliche Vorschriften sowie Marktzutrittsbeschränkungen abzubauen, um für Unternehmen größere Entscheidungsspielräume zu schaffen, wirtschaftliches Wachstum zu begünstigen, Arbeitsplätze zu schaffen und die Schattenwirtschaft einzudämmen.[64]
Fragmentierung
Die Fragmentierung ist die Konsequenz einer kulturell nicht einheitlichen Welt. Der Begriff besagt, dass die Vorgänge, die wir als Globalisierung bezeichnen, von sozio-kulturellen Kollektiven in unterschiedlicher Art und Weise verarbeitet werden.[65]
Durch unterschiedliche Wahrnehmung und Problematisierung können Subgruppierungen und ‑kulturen entstehen.
Eine Transformation ist ein von Akteuren getragener intentionaler Prozess [und] ein endlicher, aber entwicklungsoffener Prozess, der im Falle seines erfolgreichen Verlaufs zur Etablierung von neuen kohärenten Strukturen führt.[66]
Damit bildet sie einen Doppelprozess von Auflösung und Bildung mit radikaler Veränderung, der im Entwicklungsergebnis offenbleibt. Der transformelle Prozess umfasst die Phasen Initiierung, Institutionalisierung und Konsolidierung.[67] Ausgangspunkt können zwei verschiedene Modelle sein: 1. vom stabilen System ausgehend, das immer um Stabilität bemüht ist, oder 2. vom ständigen Ungleichgewicht ausgehend, durch Gewichtsverlagerungen und Adaptionen. Beide Systemvoraussetzungen können zum Systemzusammenbruch führen. Eine Transformation beginnt immer auf einer Ebene im System und breitet sich durch die gegenseitige Wechselwirkung aus. Dadurch kommt es zu unterschiedlichen Transformationsprozessen, die aufeinander Einfluss nehmen: politisch-institutionell, wirtschaftlich-sozial und kulturell-mental.
Im Folgenden soll analysiert werden, ob und mit welchem Ergebnis die erarbeiteten Parameter von Staatlichkeit im Rahmen der Globalisierung transformieren. Den schematischen Rahmen bietet dazu eine deskriptiv-analytische Mischperspektive. Dabei werden die vorgestellten Parameter von Staatlichkeit mit den entsprechenden Prozessen der Globalisierung im Zusammenhang betrachtet. Zuerst wird die daraus resultierende Situation erläutert und an Hand dessen eine Transformationsanalyse der Parameter durchgeführt. Abschließend werden im Fazit die gewonnenen Erkenntnisse zusammengeführt, um die Frage, ob eine Transformation der Staatlichkeit durch Globalisierung herbeigeführt wird, zu beantworten.
Die nationalstaatliche Souveränität findet in den globalen Prozessen vor allem Berührungspunkte mit dem Entstehen internationaler und supranationaler Strukturen, die vor allem aus der historischen Perspektive heraus zu betrachten sind. Als beispielhafte Entwicklung dient an dieser Stelle das Entstehen der Organisation der Vereinten Nationen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg galt es, die internationalen Beziehungen zu stabilisieren und vor allem den Frieden abzusichern. Nach dem Westfälischen Frieden, den Haager Friedenskonferenzen und schlussendlich dem Völkerbund, die allesamt scheiterten, wurde die Organisation der Vereinten Nationen als Instrument der völkerrechtlich begründeten kollektiven Friedenssicherung ins Leben gerufen. Sie ist im eigentlichen Sinn eine zwischenstaatliche Organisation, deren völkerrechtliche Grundlage in der Charta der Vereinten Nationen zu finden ist. Die UN-Charta, zugleich Gründungsvertrag, wurde am 26. Juni 1945 in San Francisco von 51 Staaten unterzeichnet und ist am 24. Oktober 1945 in Kraft getreten.[68] Die neue internationale Zusammenarbeit erschien als Lösung der humanitären, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Probleme. Es galt, freundschaftliche Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und die Förderung und Festigung der Achtung der Menschenrechte sowie Grundfreiheiten voranzutreiben. Die UN-Charta verkörperte das Sein eines globalen Mittelpunkts, um die nationalen Bemühungen zur Verwirklichung der gemeinsamen Ziele aufeinander abzustimmen.[69]
Die UN-Charta greift als völkerrechtlicher Vertrag in die nationalstaatliche Souveränität ein.
Das Völkerrecht ist eine Rechtsordnung, in deren Zentrum die Sicherheit des internationalen Friedens steht.[70]
Es ist aber nicht aus dem Interesse der Völker entstanden, sondern ein Instrument der internationalen Politik. Dementsprechend ist die Rolle des Staates und der Staatengemeinschaft in der Perspektive des Völkerrechts sehr dominant und die Intention der Rechtsordnung auf die friedliche Koordination von staatlichen Interessen ausgelegt. Durch das Völkerrecht müssen grundlegende Normen anerkannt werden: die völkerrechtliche Verantwortung gegenüber dem Gewaltverbot sowie das Handeln im Interesse der internationalen Sicherheit. Dadurch entsteht eine Staatengemeinschaft, die die „egoistischen“ Einzelinteressen der Nationalstaaten zurückdrängt. Insbesondere werden sie eingeschränkt in ihrer freien Kriegsführung auf Grund der kollektiven Sicherheitsgarantie, in ihren politischen Handlungsmöglichkeiten auf Grund der Interessen der Gemeinschaft und durch die Anerkennung universeller Rechte wie die Menschenrechte. Es entsteht eine Gemeinwohlorientierung der internationalen Staatengemeinschaft, die auf dem Versagen des bis dahin souveränitätsorientierten Europas beruht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, der in dieser Betrachtung auch den Ausgangspunkt der Supranationalisierung darstellt, gab es zwischen den europäischen Nationalstaaten nicht mehr nur einen Machtausgleich mit entsprechenden Kodifizierungen, sondern es entwickelten sich internationale Beziehungen. Neben und vor allem durch die entstehenden supranationalen Strukturen wie die Organisation der Vereinten Nationen entwickelten sich proportional auch die internationalen Strukturen. Die vorher rein nationalstaatlichen Strukturen wurden internationalisiert und vor allem die Außen-, Sicherheits- und Friedenspolitik bekam einen internationalen Rahmen. Es entstanden internationale Organisationen, die somit auch eine institutionell-strukturelle Ebene schufen. Die Nationalstaaten ermöglichten daneben auch der Wirtschaft, sich international zu öffnen.
Findet ein transformeller Wandel der nationalstaatlichen Souveränität statt?
In diesem Fall hat der supranationale Prozess an Hand der völkerrechtlichen Entwicklung die nationalstaatliche Souveränität in einen transformellen Wandel gezwungen. Die Souveränität heute steht für die Gleichheit der Staaten und nicht mehr für ihre Unabhängigkeit. Der moderne Nationalstaat ist in seinem Gefüge zwar als unabhängig einzustufen, jedoch kann er sich darüber nicht mehr definieren. Das Völkerrecht spricht ihm Rechte zu, die den Staat souverän sein lassen. Hier fand eine klare Verlagerung der Souveränitätsquelle sowie ihrer Gestalt statt. Die Transformation begann nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit dem Aufbau einer Staatengemeinschaft gemäß völkerrechtlichen Verträgen wie der UN-Charta begann die Institutionalisierungsphase. Die historische Perspektive zeigt die voranschreitende Einschränkung der traditionellen Souveränität des Nationalstaats. Die ehemals 51 Staaten zur Gründungszeit haben sich bis heute nahezu vervierfacht als deutliche Grundlage für eine Konsolidierung des Völkerrechtssubjekts. Die Souveränität der Staaten ist nicht beendet, sondern hat sich in eine postmoderne Autonomie gewandelt. Auf Grund dieser Entwicklung waren die Staaten gezwungen, sich mit der Supranationalisierung auch international zu entwickeln. Durch den traditionellen Souveränitätsverlust wurden nationale Strukturen international angeglichen, um die Lücken in der Souveränität durch internationale Organisationen wieder aufzufangen bzw. nur eine Verlagerung zu bewirken. Diese internationalen Organisationen erlangten durch ihre politischen Strukturen eigendynamische Gestaltungsmacht, wie zum Beispiel die Europäische Union, die im weiteren Verlauf noch detailliert thematisiert wird.
Zur Globalisierung werden viele Subprozesse gerechnet, die sich vom Nationalstaat wegbewegen. Wegen der Entstehung von Kooperationen und Interdependenzen wächst ein Legitimationsbedarf der sich jenseits des Nationalstaats bildenden institutionellen Strukturen.
Traditioneller Weise [sic!] wurde die Legitimität internationalen Regierens in den IB und im Völkerrecht begriffen als eine Angelegenheit zwischen Staaten.[71]
Das Völkerrecht wurde freiwillig von den Nationalstaaten akzeptiert und galt damit als legitim.
Seit der Ratifikationskrise des Maastrichter Vertrages über die Europäische Union und seit den teilweise gewaltsamen Proteste gegen die „neoliberale Globalisierung“ begreift man die Legitimation internationalen Regierens zunehmend als ein Thema, das nicht Regierungen betrifft, sondern vor allem Bürger.[72]
Die Bürger sollten somit zum Adressaten der internationalen Politik werden, um durch gesellschaftliche Verankerung Legitimität außerhalb des Nationalstaats herzustellen. Es galt, für den wichtigsten Indikator von Legitimation eine Grundlage zu schaffen: die Anerkennung der Herrschaft durch die beherrschten Bürger, beruhend auf einem Konsens. Die Herrschaft außerhalb des Staates bringt ihrerseits auch eine entscheidende Problematik mit sich:
Sie ist nicht ultimativ durchsetzbar, weil internationale Institutionen nicht über Zwangsmittel verfügen; sie ist funktional fragmentiert und dezentralisiert, das heißt, sie wird von vielen verschiedenen Institutionen gleichzeitig ausgeübt; und sie ist tendenziell amorph, im Sinne von schwer in der tradierten Terminologie politischen Regierungshandelns anschaulich zu machen.[73]
Somit ist die ausführende Politik durch die internationalen und supranationalen Strukturen nur regierungsähnlich, weil keine Zwangsgewalt möglich ist.
Diese Problematik soll im Folgenden an Studien[74] zur Legitimation der Europäischen Union als internationale Organisation dargestellt werden. Als Maßstab der Anerkennung wird u. a. die Darstellung der EU in den Medien ausgewählt.
Die Legitimitätsintensität der nationalen EU-Diskurse folgt [demzufolge] […] Aufmerksamkeitszyklen.[75]
Die Legitimität der EU ist ein medial stark behandeltes Thema, allerdings nur 22,4 % der Stichprobe aus den wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern in der Schweiz, Deutschland, Großbritannien und Amerika bewerten die Europäische Union positiv und dies auch stark schwankend.
Die Auswertung […] ergibt ein recht dramatisches Bild der Legitimation der EU: Ihre Anerkennungswürdigkeit wird in den analysierten vier Medienöffentlichkeiten […] intensiv und vor allem weithin negativ erörtert.[76]
Das Ergebnis fällt deutlich aus: Die Europäische Union hat starke Legitimitätsprobleme.
Im Verhältnis zum internationalen Regieren schneidet der Nationalstaat deutlich positiver ab:
Die wichtige Variable des Legitimationsniveaus verdeutlicht […], dass den Nationalstaaten und ihren Regime-Elementen […] vergleichsweise hohe Legitimität zugesprochen wird.[77]
Allerdings erhält auch der Nationalstaat in den meisten Fällen keine 50 % Zustimmung. Im Vergleich bleibt der Nationalstaat aber deutlich das größere Legitimationsobjekt.
Findet ein transformeller Wandel der nationalstaatlichen Legitimation statt?
Die Instrumentalisierung des Völkerrechtes zwischen den Staaten, die es damit auch legitimierten, erfährt eine Verschiebung auf die Ebene der Bürger. Durch die vergesellschaftlichten Strukturen werden Bürger zum Adressaten der internationalen Politik und somit auch zu ihrer Legitimationsquelle. Es existiert jenseits des Nationalstaats aber kein Legitimationsobjekt, das seine strukturelle Machtmöglichkeit in legitimierte Macht umwandeln könnte. Eine Ausnahme bildet die Wahl des Europäischen Parlaments, die zwar eine demokratische Handlung durch die Bürger ermöglicht, allerdings ist durch die ungleiche Wahlberechtigung der beteiligten Länder das Ergebnis schwierig zu bewerten. Ebenfalls ist die Wahlbeteiligung mittlerweile unter 50 % gesunken, sodass das Europäische Parlament das Attribut eines Legitimationssubjekts nicht erhalten kann.[78] Das Konzept des Global Governance als ein Regieren ohne Regierung ist bisher nicht ausgereift genug, um von einer möglichen Umsetzung zu sprechen. Momentan bleiben die Nationalstaaten die entscheidenden Akteure in der internationalen Regierungsebene. Auch wenn das Völkerrecht nicht mehr nur Sache der Staaten ist, findet in dem Legitimationsgefüge zwischen Staatsvolk und Nationalstaat noch keine Transformation statt. Doch die Entstehung eines möglichen Legitimationsobjekts außerhalb des Nationalstaats ist spürbar und mit der Weiterentwicklung der supranationalen und internationalen Strukturen entstehen immer mehr „schwarze Löcher“, die sich mehr und mehr dem staatlichen Einfluss entziehen.
Mit der globalen Verflechtung des Nationalstaats ist auch das Staatsvolk im globalen Prozess erfasst worden und muss sich auf die neuen Bedingungen einstellen. Durch die Möglichkeit des Austauschs über die Grenzen des Nationalstaates hinaus bilden sich neue Gemeinschaften, global und lokal, durch gemeinsame Identifikationspunkte wie zum Beispiel den Lebensstil. Die Menschen sind nicht mehr durch traditionelle Umstände gebunden wie Ort, Klasse oder Beruf.
Der Lebensstil und die Kultur werden somit zu wichtigen Faktoren in der transnationalen Entwicklung. Im globalen Kapitalismus werden auch die Kultur und der Mensch eine Ressource; das Konsumverhalten wird in diesem Zusammenhang zum entscheidenden Indikator. Es geht dabei um die
Vermarktung nationaler Images, Bemühen, die nationale Kultur in Markennamen zu transportieren und zur Betonung nationaler Faktoren im Konsumverhalten.[79]
Der Lebensstil des jeweiligen Nationalstaats wird zur Ware und der Mensch „konsumiert“ denjenigen, mit dem er sich am meisten identifiziert. Dieses Verhalten führt zu einem Wandel der sozialen Struktur der Gesellschaft und folglich zu einer Destabilisierung traditioneller sozialer Beziehungsmuster. Die neue Mobilität in Verbindung mit den neuen Kommunikationsmöglichkeiten ermöglicht einen kulturübergreifenden Kontakt. Der Mensch bewegt sich vor allem in Europa nicht mehr als Nationalbürger, sondern als Europäer. Durch die Universalität von Rechten über die Staatsgrenzen hinaus wird das traditionelle Schema des beschützenden Staates aufgebrochen.
Zusammen mit der Entkopplung der Institutionen von ihrer nationalstaatlichen Basis sorgt die Entterritorialisierung des sozialen Lebens dafür, dass die sozialen Figurationen […] als multiple Welten in den Köpfen der Menschen koexistieren.[80]
Es entstehen transnationale soziale Räume ohne nationalstaatlichen Bezug und der physische Kontakt als Bedingung für soziale Beziehungen wird relativiert. Solidaritätsgemeinschaften ermöglichen, dass Konflikte innerhalb sowie zwischen diesen Gemeinschaften außerhalb des Nationalstaats ausgetragen werden. Durch diese neu entstehende soziale Schnittstelle wird eine Identifikation über das gleiche Phänomen möglich und erschafft bzw. erweitert diese außerstaatlichen Gemeinschaften. Diese bilden ein Netzwerk durch die neuen Kommunikationsmöglichkeiten wie social media und es entsteht die Möglichkeit einer Öffentlichkeit außerhalb des Nationalstaates. Diese Entwicklungen verändern die soziale Landschaft. Die traditionellen Schichten und Klassen bleiben zwar erhalten, verändern sich aber in ihrer Struktur.
Das Schwinden einer auf Lokalität und Nationalität beruhenden Klassensolidarität geht andererseits einher mit dem Entstehen neuer Ausdrucksformen gemeinsamer wirtschaftlicher und politischer Interessen von Frauen, Alten, ethnischen Minderheiten, Homosexuellen und ungelernten Arbeitskräften.[81]
Durch die soziale Fragmentierung auf Grund der unterschiedlichen Identifikationen werden Plattformen für oft tabuisierte Thematiken geschaffen. Der Ausdruck der Identität findet heutzutage im großen Rahmen der Selbstverwirklichung statt. Traditionelle soziale Muster werden dadurch aufgebrochen und vor allem die Sexualität wird zum Ausdruck der Selbst-Identität. Auch sie ist in der globalen Orientierung zum Konsumgut geworden, denn „Sex sells“. Auf Grund dieser Konsumierung, der Austauschmöglichkeiten und der Entstehung von Subgruppierungen kommt es immer mehr zur Öffnung für Neues bzw. zum Abbau von Hemmungen gegenüber Tabuthemen. Die Entwicklung geht weg von der typischen Paarbeziehung und führt dazu, dass Mann und Frau sich entgegen der traditionellen sozialen Muster fast frei ausleben können und dürfen. Homosexualität, Patchwork-Familien, offene Beziehungen, Fernbeziehungen, One-Night-Stands, Singles oder Alleinerziehende gehören inzwischen zum gesellschaftlichen Standard. Allerdings stehen diese Subgruppierungen immer noch im gesonderten Fokus der Öffentlichkeit und sind noch nicht vollständig zur Normalität geworden.[82]
Einen Sonderfall bildet das Familiennetzwerk, das nur bedingt wählbar ist. Geburt und Familienkooptionen, sowie Familienneugründungen sind kaum beeinflussbar, abgesehen von der Wahl des Ehepartners. Der Kontakt zu den Familienmitgliedern ist oft an der Relation des Verwandtschaftsgrades gemessen, aber durch die Möglichkeit der Familienzugehörigkeit auf Distanz gibt es hier mittlerweile Verschiebungen. Familien entwickeln durch die Transnationalisierung eine Plurilokalität und es werden dadurch traditionelle Rollenverhältnisse aufgebrochen. Auf der einen Seite lassen die familiären Funktionen nach bzw. verlieren ihren Wert und die Freunde werden oftmals die Ersatzfamilie. Auf der anderen Seite kann die räumliche Trennung innerhalb der Familie auch eine starke Bindung erzeugen. Durch die Möglichkeiten der modernen Medien und Kommunikationswege ist es kein Problem mehr, mit entfernten Familienmitgliedern Kontakt zu halten. Auch durch binationale Eheschließungen ist das Entstehen eines transnationalen Netzwerkes kaum vermeidbar.
Damit werden diese Familien zu Keimzellen und Lernorten neuer Strategien der Überwindung kultureller und geographischer Räume, welche weitere Schübe transnationaler Orientierung und Positionierung wahrscheinlich machen.[83]
Neben der sozialen Fragmentierung erleben die Menschen auch eine wirtschaftliche, die sich ebenfalls auf den Nationalstaat auswirkt.
Obwohl die Mobilität der Arbeitskräfte weit hinter der des Kapitals zurückbleibt, sind die weltweit einsetzbaren Beschäftigten doch bedeutsam für den Nationalstaat, weil sie in der Regel die höher bezahlten Positionen einnehmen und sie und ihre Unternehmen die nationale Steuerpolitik beeinflussen.[84]
Bildungs-, Lebens- und Berufsqualität der Nationalstaaten sind ausschlaggebend für die Wahl des Wohnorts und des Arbeitsplatzes, was im Weiteren noch detailliert betrachtet wird.
Findet ein transformeller Wandel des Staatsvolkes statt?
Die Entkopplung von Kultur, Gemeinschaft und Beziehungen und ihr Ausbrechen aus dem Gefüge des Nationalstaats führen dazu, dass sich die Idee des Sozialen neu erfinden kann. Durch die Entflechtung von Staat und Gesellschaft in Kommunikation, Familie, Identität und Selbstverwirklichung kann sich die soziale Realität verändern, weil durch das Aufbrechen der Traditionen dafür Räume geöffnet werden. Die Frage nach einem transformellen Umbruch muss wegen der bestehenden Orientierung am Nationalstaat aber vorläufig negiert werden. Solange der Nationalstaat in der Lage ist, seine Grundfunktionen des Schutzes und der Grundversorgung zu erfüllen, spricht das dazugehörige Staatsvolk ihm die Legitimation zu. Das Beispiel Europa hat gezeigt, dass die Identifikation mit einem Legitimationsobjekt außerhalb des Staates bisher kaum stattfindet. Innerhalb der Gesellschaft befindet sich aber die traditionelle soziale Struktur in einem klaren Umbruch, der eine Transformation zur Folge haben wird. Es haben sich Subgruppierungen in der Gesellschaft gebildet durch die globale Öffnung sowie die Entstehung neuer Austausch- und Identifikationspunkte. Das traditionelle Bild der Familie verändert sich radikal. Neben der Plurilokalität verschiebt sich vor allem die Relation der Selbstverwirklichung. Durch das Ausleben dieser und die damit verbundene Identifikation mit diesem Lebensstil entstehen vermehrt Familienkonstellationen, die keinen Nachwuchs erzeugen. Diese Entwicklung und die damit zusammenhängende Verschiebung der Demografie erschüttern den Staat in seinem Sozialversicherungsgefüge, das durch die immer älter werdenden Menschen ebenfalls belastet wird. Der Staat erhält an diesem Punkt eine Sollbruchstelle, die früher oder später einen transformellen Wandel bewirken wird.
Das Wertegefüge globalisiert sich ebenfalls und es entstehen universelle Werte für Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit. Zwischen- und innerstaatliche Konflikte werden auf den gesamten Globus getragen und bewirken das Aufkommen einer globalen Öffentlichkeit. Dieser transnationale Rahmen entwickelt für sich ein globales Werte- und Normensystem. Hier kommt es zu einem Schnittpunkt zwischen den verschiedenen Werte- und Kultursystemen. Es existiert mittlerweile zwar ein westliches Werte- und Normensystem, das im Fundament eine gemeinsame Basis geschaffen hat, jedoch ist der nationalstaatlich-kulturelle Einfluss nach wie vor gegeben. Kultur befindet sich auf Grund der sich ändernden sozialen Basis immer im Wandel; dieser ist jedoch weder abschätzbar noch lenkbar. Deshalb kann auch hier nicht von einer Transformation gesprochen werden.
Die Verfassung und die damit verbundene politische Einheit des Nationalstaats bilden die Schnittstelle zwischen der globalen und der lokalen Handlungsebene, weshalb von verschiedenen Akteuren an ihr gezerrt wird: die Gesellschaft, die innerstaatliche Politik und die internationalen Organisationen, an denen der Nationalstaat teilnimmt.
Der vom modernen Staat kolonialisierte Staatsbürger, der sich innerhalb der neuen Globalität bewegt, nutzt die Offenheit globaler Institutionen aus, verleiht dem neuentdeckten Globalismus Ausdruck und bezieht seine Stärke aus einer durch gefühlsmäßige Gemeinsamkeiten entstehenden Gemeinschaft, die der Nationalstaat weder kontrollieren noch auch nur definieren kann.[85]
Durch die Identifikation über die Staatsgrenzen hinaus entsteht eine globale Öffentlichkeit in Zusammenhang mit einer Meinungsbildung. Die daraus resultierenden sozialen Bewegungen bewirken eine Vergesellschaftung, die sich in Nichtregierungsorganisationen kollektivieren. Diese Mobilisierung globaler Bewegungen findet mehr und mehr über den transnationalen Meinungsbildungsprozess statt.
Das nachlassende Interesse an nationalstaatlicher Politik wird vom zunehmenden Engagement in Bewegungen ausgeglichen, die die Menschen auf weltweiter Basis mobilisieren und Probleme thematisieren wollen, die in der Tagesordnung des Nationalstaats nur eine marginale Rolle spielen.[86]
Die neoliberale Politik bedingt eine „Kolonisierung“ des Staates durch die Unternehmerinteressen, die mehr und mehr außerhalb des demokratischen Kanals durchgesetzt werden. Die zunehmende Entpolitisierung geht einher mit einem Legitimationsverlust der Demokratie, vor allem bedingt durch die neue Politik der „radikalen Mitte“.[87] Die Parteien kapitulieren gegenüber dem Neoliberalismus:
Sie haben alle Versuche aufgegeben, die bestehenden Machtverhältnisse in Frage zu stellen und beschränken sich nun darauf, Möglichkeiten aufzuzeigen, die neoliberale Globalisierung ‚menschlicher‘ zu gestalten[88],
und sind in ihren Programmen kaum unterscheidbar. Dieser ‚Konsens in der politischen Mitte‘ hat negative Folgen für die demokratische Politikgestaltung und äußert sich vor allem in der Politikverdrossenheit der Gesellschaft und dem Rückgang der Wahlbeteiligung. Die Menschen fühlen sich ungerecht behandelt auf Grund der Unfähigkeit des Nationalstaates zu handeln. Das Volk fühlt sich und sein Gemeinwohl durch die Regierung nicht gut repräsentiert. Deshalb hat der Nationalstaat starke Probleme, politische Meinungsbildung zu erwirken und zu kollektivieren.
Findet ein transformeller Wandel der politischen Einheit und der Verfassung statt?
Das Problem der Demokratie und der politischen Einheit in dieser schwierigen Situation stellt die pluralistische Struktur dar, in der es oft viele verschiedene Ansätze zur Besserung gibt. Die Parteienlandschaft ist durch die mangelhafte politische Meinungsbildung und die Politikverdrossenheit der Menschen sehr fragmentiert. Dies ergibt sich aus dem Protestwahlverhalten, in dem statt der alteingesessenen eine extreme Richtung gewählt oder gar nicht gewählt wird. Die Mehrheiten innerhalb der Regierungen werden dadurch immer knapper. Die Koalition und die Opposition machen es in den knappen Mehrheitsregierungen schwer einen gemeinsamen politischen Weg zu finden, weil jeder versucht, sich die schwierige Situation zu Nutze zu machen und bestimmte Wählergruppen wieder für sich zu gewinnen. Somit findet parteipolitisch eher eine Sonderinteressenorientierung statt einer Gemeinwohlorientierung statt. Die institutionellen Strukturen in Demokratien verhindern eine zügige Anpassung, um dieser Problematik entsprechend gegenüberzutreten. Durch die Internationalisierung und auch die Transnationalisierung gibt es kein Identitätszentrum mehr und jeder Bürger hat ein anderes Empfinden für den „richtigen Weg“. Sie nutzen immer mehr die Möglichkeit Weltbürger zu sein und verstärken sich in kollektiven Organisationen wie Nichtregierungsorganisationen. Damit gelingt es ihnen, noch zusätzlichen Druck auf die Regierungen auszuüben.[89]
Im Zusammenhang damit ist das Problem der Schnelllebigkeit und der „Wegwerfgesellschaft“ zu sehen. Durch das große Angebot und das Bewerben hat der Bürger eine immer größere Auswahl in allen Bereichen. Das wirkt sich auf den Lebensstil aus und führt zu „Zeitlösungen“: Jede zweite Ehe wird geschieden, es gibt wechselndes Wahlverhalten sowie zeitbestimmte Mitgliedschaften.
Das Verhalten des ‚opting in‘ und ‚opting out‘, je nach Einschätzung von Vor- und Nachteilen, Kosten und Nutzen oder ganz einfach nach Lust und Laune, ist dabei, alle Lebensbereiche zu erfassen.[90]
Dies betrifft auch das Abwenden von Traditionen und entsprechenden Werten wie zum Beispiel Religion, genauso wie die politische Wahl:
Der Bürger geht zur Kommunal-, Landtags-, Bundestags- oder Europawahl, wenn er sich davon einen persönlichen Nutzen erwartet, er wählt die politische Partei, die ihm am meisten Wohltaten (oder am wenigsten Kürzungen) verspricht.[91]
Die Parteien stellen entsprechend ihr Programm zusammen mit der Folge des Verlusts der aktiven Wähler. Die Begründung für diese Entwicklung liegt im Fehlen einer Wahl zwischen echten Alternativen. Dies fördert vor allem extrem eingestellte Parteien, da sie den Anschein erwecken, als einzige Partei eine klare Alternative darzustellen. Sind keine unterschiedlichen Interessen mehr vorhanden oder werden deutlich als solche artikuliert, löst sich die Demokratie in ihren Grundsätzen auf und es kommt zur Entpolitisierung. Die Bürger glauben nicht mehr daran mitreden zu können, weil die Politik zu komplex gestaltet wird und durch ihren Verdruss kommt es zu einem Legitimationsverlust des Nationalstaats.
Die politische Einheit und die demokratische Verfassung stehen an einem Wendepunkt, an dem sich herausstellt, ob es eine postdemokratische Entwicklung geben wird. Dies bildet dann den Anstoß zu einer Transformation. In Anlehnung an Collin Crouch, der die Begrifflichkeit der Postdemokratie ausschlaggebend geprägt hat, hat die postdemokratische Entwicklung, in der sich viele europäische Nationalstaaten momentan befinden, die Eigenschaft, dass die demokratischen Institutionen zwar intakt sind, sich aber die politischen Gefüge zu prädemokratischen Merkmalen zurückentwickeln. Die Legitimation beruht auf einer durch Konsens integrierten Gesellschaft. In fragmentierten Gesellschaften funktioniert das nicht. Das entstehende Loyalitätsdefizit und das Misstrauen sowie der bürgerliche Verdruss führen dazu, dass der Nationalstaat sich in eine Art Klientelismus flüchtet. Dies geschieht über eine Einbettung in eine bestimmte Gruppierung im Staat, weil er es nicht schafft, als Agentur der gesamten Gesellschaft anerkannt zu werden. Damit verwandelt er sich in eine Interessenvertretung gesellschaftlicher Partikularinteressen. So hat der Einfluss von Eliten, die die politische, ökonomische und soziale Ungleichheit beseitigen und zur hierarchischen Ordnung aus vordemokratischen Zeiten zurückkehren wollen, zugenommen und das Misstrauen des Volkes noch weiter geschürt. Obwohl fast alle formalen demokratischen Merkmale in der postdemokratischen Entwicklung überleben, kommt es längerfristig zu Erosionserscheinungen. Die Wohlfahrtsstaatlichkeit befindet sich im Rückzug: Im Versuch, die soziale Ungleichheit auszugleichen, findet nur noch eine Hilfe zum Lebensunterhalt statt, aber die Sicherung der staatsbürgerlichen Teilhabe bleibt auf der Strecke. Durch das Nichtwählen gehen die Bürger freiwillig in die prädemokratische Zeit zurück und forcieren ebenfalls die politische Orientierung an den wirtschaftlichen Eliten.[92] Trotz dieser negativen Entwicklungen ist die Wiederbelebung der Demokratie nicht aussichtslos, solange sie als politische Herrschaft noch Akzeptanz findet. Erst wenn eine Rückkehr zur Demokratie und ihren Grundzügen nicht mehr möglich ist und die Bildung eines neuen Systems unmittelbar bevorsteht, kann von einer transformellen Wandlung in die Richtung einer postdemokratischen Konstellation gesprochen werden.
Die wirtschaftliche Orientierung der Politik findet sich erklärt in der Globalisierung der Wirtschaft. Die wirtschaftlichen Unternehmen stellen soziale Institutionen dar, die im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts keynesianisch als Wohlstandsgeneratoren dienten. Diese makroökonomischen Ansätze in der Politik brachten Vorteile für Unternehmen, da sich dadurch die Politik nicht in die Angelegenheiten einzelner Unternehmen einmischte. Das änderte sich rapide, als die Einsicht einsetzte, dass man die Gesamtnachfrage nicht steuern kann. Verstärkt wurde dieser Prozess durch technische Neuerungen und Innovationen, wachsenden globalen Wettbewerb sowie steigende Ansprüche der Konsumenten. Als im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts die Bankrotte und Arbeitslosigkeit stiegen, errangen die globalen Unternehmen, die überlebten, mehr Bedeutung und fanden eher Gehör für ihre Forderungen. Diese Unternehmen entwickelten sich zu anspruchsvollen Organismen. Auf Grund der Globalsierung haben die Unternehmen die Möglichkeit, Druck auf die Regierung aufzubauen, indem sie nicht investieren, wenn bestimmte Bedingungen seitens der Regierung nicht erfüllt werden. Dies betrifft beispielsweise das Arbeitsrecht oder Steuern.
Die kapitalistische Weltökonomie von heute ist ein Ergebnis von Industrialisierung, Kolonisation, Wachstum und Wohlfahrt sowie der Endlichkeit nicht erneuerbarer Ressourcen. In den etablierten Nationalstaaten entstand eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die im keynesianischen Zeitalter die staatliche Intervention als Wirtschaftsregulator hervorbrachte. Der Interventionsstaat finanzierte sich durch Steuern und war unabhängig. Die Wirtschaft verfolgte eine Binnenmarktorientierung und war neben der Bewahrung der staatlichen Interessen und den Zollgrenzen ein deutliches Indiz dafür. Mit dem Ost-West-Konflikt kam es zur Etablierung von Eliten sowie der Hemmung der Demokratisierung durch den beschnittenen Markt. Die westlichen Werte sollten angenommen werden mit der Fokussierung von billigen Arbeitskräften und einer einfachen Ressourcenbeschaffung.[93] Die internationale Arbeitsteilung, ebenfalls eine Folge des kapitalistischen Marktsystems, erschuf die Standortattraktivität und die Produktivitätssteigerung. Arbeitsteilung und Massenproduktion führten schlussendlich zum Wachstumsgedanken und der Massennachfrage. Der entstandene Fordismus war der Inbegriff von Effizienz und Gewinnoptimierung.
Die […] Produktionsweise wirkt in doppelter Hinsicht globalisierend, einmal durch die Forcierung der internationalen Arbeitsteilung […], mit dem Ziel, ein möglichst effizientes Wachstum […] gewährleisten zu können, aber auch durch die mit ihr verbundene globale Umweltzerstörung.[94]
Das Gefüge der internationalen Arbeitsteilung verschiebt sich immer mehr durch den Konkurrenzdruck und die entstehenden Lücken werden von transnationalen Konzernen gefüllt, die eine weltweite Administration und Produktion anstreben. Die Fertigung in Trikontländern gehört mittlerweile zum alltäglichen Bild der globalen Wirtschaft: Billige Arbeitskräfte und schwache Gewerkschaften halten die Standortattraktivität weit oben. Sie wird vor allem durch institutionelle Rahmenbedingungen wie Infrastruktur, Steuern, Rechtsschutz, soziale Konflikte und Währungsstabilität beeinflusst.
In einer vollkommen integrierten Weltwirtschaft, in der Entfernungskosten vollständig verschwunden sind, hängt das relative Lohnniveau der Region weitgehend von der relativen Leistungsfähigkeit der Regierungen im institutionellen Wettbewerb ab.[95]
Der Wettbewerb weitet sich so auf die Regierung und somit die Politik aus.
Die transnationalen Konzerne erlangen in den Nationalstaaten immer mehr Gewicht.
Das Aufkommen von Aktiengesellschaften leitete eine Trennung von Besitz und Management einer Unternehmung ein.[96]
Die Manager und Aktionäre vertreten unterschiedliche Interessen, aber die Gewinnorientierung verbindet sie. Die Besitzstruktur der Unternehmen ist heutzutage stark verflochten durch die Investitionsmöglichkeiten und Aktien. Das führt dazu, dass die Verwaltung und die Produktion oft getrennt voneinander arbeiten. Die ehemals hierarchisch aufgebauten Unternehmensstrukturen verändern sich in Richtung einer Netzwerkbildung. Heutzutage sind grenzenlose Kapitalverschiebungen möglich, dadurch können länderübergreifende Unternehmungen erst stattfinden. Die wirtschaftlichen Strukturen werden immer unübersichtlicher, aber die Marktstrategien werden immer mehr vereinfacht hin zur globalen Strategie, um auf die Homogenisierung der Konsumentenwünsche einzugehen.[97]
Zur wirtschaftlichen Globalisierung gehört eine Zunahme der Zahl von Unternehmen, die die Grenzen einer nationalen Ökonomie überschreiten und sich global organisieren.[98]
Vor allem die integrativen Aktivitäten bringen Regierungen dazu, sich in eine Konkurrenzsituation zu begeben. Sie erleiden dadurch einen Macht- und Souveränitätsverlust. Einzelne Nationen können globale Unternehmen oft nicht mehr kontrollieren. Diese drohen, das Land zu wechseln, was zwei Nachteile mit sich bringt. Auf der einen Seite entsteht ein Nachteil für die Volkswirtschaft, da mit dem Standortswechsel Arbeitsplätze und Steuereinnahmen verloren gehen. Weiter kann es zu einem Ansehensverlust der Regierung kommen, da diese meist an ihrem wirtschaftlichen Erfolg gemessen wird. Somit werden die unternehmerischen Forderungen auf der politischen Agenda umgesetzt und den Bürgerinnen und Bürgern als notwendige Maßnahmen vermittelt. Durch die Wahl der umsetzenden Partei durch die Bürger werden die Unternehmerinteressen scheindemokratisch legitimiert. Die Wirtschaft nimmt somit Einfluss auf die wichtigsten Lebensadern des Staates, ohne dass dieser Einfluss demokratisch herbeigeführt wurde.
Große Unternehmen sind eine Konzentration von Macht. Die vorhandenen Eigentumsstrukturen bringen eine Konzentration von privatem Vermögen hervor, wodurch die Eliten und Kapitaleigner wichtig werden. Die Organisation ist größtenteils entsprechend aufgebaut, sodass Manager viel Autorität haben. Diese neue globale Managerklasse bzw. die Eliten haben auf Grund der fehlenden globalen politischen Organisationsstruktur die Möglichkeit, sich beeinflussend zu positionieren. Durch diese flexible Struktur und die Masse an Aufgabenbereichen entwickeln sich Experten, die wiederum Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung vor allem im globalen Rahmen nehmen können.[99]
Die Unternehmen sind in der Lage, auch innerhalb der Gesellschaft mehr Einfluss zu gewinnen: Da der Staat mit dem Ende der keynesianischen Ära weniger Investitionen vornimmt und Projekte fördert, sind gemeinnützige Organisationen darauf angewiesen, sich andere Sponsoren zu suchen. Diese finden sie im Unternehmenssektor. Dadurch erhöht sich deren Macht auf zwei Weisen: Zum einen erhält ein gemeinnütziges Projekt staatliche Fördergelder nur, wenn es auch durch private Unternehmen gefördert wird. Da die Unternehmer sich für sie passende Projekte aussuchen, entscheiden sie indirekt mit, wo welche staatlichen Fördergelder hinfließen. Weiter kann die Unabhängigkeit verschiedener Einrichtungen in Frage gestellt werden: Wenn beispielsweise ein Forschungsinstitut für Medikamente von einem Pharmaunternehmen gesponsert wird, wird es vermutlich gehemmt sein, Berichte zu veröffentlichen, die das sponsernde Unternehmen in schlechtes Licht rücken.[100]
Die Ausbreitung des Kapitalismus auf vormals nicht marktwirtschaftliche Sektoren ist eine weitere durch Deregulierung bedingte Entwicklung. Durch diese Kommerzialisierung werden neue Chancen entwickelt, Geld auch ohne den Verkauf von Gütern zu verdienen, zum Beispiel im Tourismus, durch neue Vertriebswege, durch neue Formen finanzieller oder anderer Dienstleistungen oder Zusatzangebote in Bildung und Gesundheit. Dies stellt den Versuch dar, marktwirtschaftliche Institutionen einzuführen, wo bis dato keine waren. Diese Ausdehnung des Kapitalismus an Hand der Entwicklung von Dienstleistungsunternehmen in nicht marktwirtschaftlichen Sektoren wird als Kommodifizierung bezeichnet. Diese Entwicklung führte zur weiteren Eindämmung des Wohlfahrtsstaats auf Grund der privatisierten Strukturen.[101]
Globalisierung heißt auch, dass sich arbeitsreiche Länder mit relativ gering qualifizierten Arbeitskräften in die Weltwirtschaft integrieren.[102]
Die damit forcierte Substitutionskonkurrenz führt dazu, dass Menschen, die keine oder eine im Vergleich geringe Qualifizierung haben, kaum noch Chancen auf einen Job haben. Die Globalsierung könnte so zum Grab der Arbeitslosen und Geringqualifizierten werden. Dies liegt nicht zuletzt am unflexiblen Bildungs- und Ausbildungssystem. Die zu langen Ausbildungszeiten verhindern ein flexibles Lernen, um sich immer wieder auf den Wandel einstellen zu können. Ebenfalls schwierig erweisen sich die Anerkennung im Ausland erworbener Berufsabschlüsse und die generell voranschreitenden Kürzungen der staatlichen Zuschüsse in den Bildungssektor. Studiengebühren und das eigene Anschaffen der Schulbücher sind in diesem Bereich die großen Streitpunkte in Bezug auf die soziale Ungleichheit in der Bildung.
Neben den Arbeitslosen gilt die Umwelt als das zweite große Opfer der Globalisierung.[103]
Durch den ökonomischen Wettbewerb wird der Umweltschutz zu teuer und es wird eher eine Umweltverschmutzung akzeptiert, statt auf das Unternehmen oder den Investor zu verzichten. Erst nach und nach werden nationale Aktionspläne in Bezug auf den Umweltschutz entworfen und in immer mehr Ländern durchgesetzt, sodass es zu einem gewissen Grad an Selbstverpflichtung kommt.
Findet ein transformeller Wandel der Wirtschaft statt?
Die Wirtschaft hat durch die Entnationalisierung, Subpolitisierung und Deregulierung einen transformellen Wandel erlebt. Die Transformation liegt in der Wandlung des Verhältnisses zum Nationalstaat begründet. Die Wirtschaft ist nicht nur fast aus dem Interventionskreis des Nationalstaats verschwunden, sondern durch die Globalisierung hat sich das Abhängigkeitsverhältnis umgekehrt. Politik und Gesellschaft sind vom wirtschaftlichen Sektor abhängig.
Das wichtigste Merkmal der ökonomischen Globalisierung besteht in der Ausweitung und Intensivierung grenzüberschreitender wirtschaftlicher Aktivitäten jenseits des Nationalstaats.[104]
Das „Neue“ stellt dabei die grenzüberschreitende Integration der Wirtschaft dar, die eine Entnationalisierung zur Folge hat. Diese Entwicklung unterliegt vier Wachstumsprozessen:
dem Wachstum des internationalen Handels, dem Wachstum ausländischer Direktinvestitionen, dem Wachstum der internationalen Kapital- und Finanzmärkte und der Zunahme globaler strategischer Allianzen zwischen Unternehmen.[105]
Dadurch gerät der Nationalstaat in starke wirtschaftliche Problemkonstellationen.
Auf Grund der wirtschaftlichen Ausrichtung auf Effizienz und Wettbewerb geht die makroökomische Steuerung durch den Nationalstaat verloren und die staatliche Intervention wird auf Grund der Internationalisierung gehemmt. Die staatlichen Investitionen in Unternehmen verlieren sich im globalen Markt.
Und schließlich sind in Folge der Globalisierung die politischen und volkswirtschaftlichen Kosten einer Abschottung der nationalen Märkte oder der Verstaatlichung von notleidenden ‚Schlüsselindustrien‘, beides lange Zeit beliebte Instrumente der Regulierung nationaler Ökonomien, exorbitant gestiegen, so dass die Liberalisierung von Märkten und die Privatisierung von Unternehmen selbst im Infrastrukturbereich inzwischen politisch kaum mehr strittig ist.[106]
Die Wirtschaftspolitik befindet sich im internationalen Wettbewerb und ist damit kaum noch wirksam und die Dynamik eines „Deregulierungswettbewerbs“ ist nicht mehr aufzuhalten.[107] Wirtschaftspolitische Zielsetzungen wie die Vollbeschäftigung wandeln sich zu nationalstaatlichen Utopien. Durch die Globalisierung werden Arbeitsplätze abgebaut, weil die Wirtschaft in den globalen Integrationsprozessen immer effizienter gestaltet und der Mensch durch Technik ersetzt wird.
Die transnationalen Unternehmen sind die treibende Kraft der Globalisierung. Technologie, Konsum, Kapitalmobilität sind Instrumente, mit denen ein komplexer Wirtschaftsprozess gebildet wird: Grenzüberschreitende Fusionen, ausländische Tochtergesellschaften und die Produktion an verschiedenen globalen Standorten.
Die ständig wachsende Komplexität von grenzüberschreitenden Beziehungen verhindert die nationale Zuordnung der wirtschaftlichen Aktivitäten.[108]
Der Nationalstaat wird nicht mehr als Beschützer, sondern vor allem als Hindernis empfunden.[109]
Die Steuerpolitik war bis Mitte des 20. Jahrhunderts zunächst eine reine nationale Angelegenheit. Durch die Liberalisierung der Handelsmärkte kam es vermehrt zu Kooperationen der Staaten, die den Abbau von Kontrollen des Kapitalverkehrs begünstigten sowie Steuervermeidung und internationale Steuerplanung und -konkurrenz verursachten. Dies ergab sich durch die Unterschiede in den Steuersystemen der Nationalstaaten. Durch die Globalisierung und die Integrationsbewegungen hat der Standortwechsel von Unternehmen auf Grund vorteilhafter Steuersätze zugenommen. Neben den Steuersätzen hängt die Standortwahl auch mit der politischen Ausrichtung des Landes und seinen wirtschaftlichen Gesetze sowie der Infrastruktur und den Möglichkeiten des Ressourcenabbaus zusammen. Durch die zunehmenden Möglichkeiten der Mobilität von Kapital und Arbeitskräften versuchen die global agierenden Unternehmen die Regierungen entsprechend zu beeinflussen, um ihre Steuerlast zu minimieren. Sie sind in der Lage, legale Methoden der Steuervermeidung anzuwenden, indem sie zum Beispiel mit der Abwanderung ins Ausland drohen bzw. eine Tochtergesellschaft in einem Niedrigsteuerland errichten, um darüber die Versteuerung zu reduzieren. Andersrum kann das Hauptunternehmen über die Tochtergesellschaft Fertigungs- und andere Dienstleistungen in Anspruch nehmen, da sie einer niedrigen Besteuerung unterliegen.
Diese Entwicklung wirkt sich entsprechend auf die Basis der Umverteilung innerhalb der Nationalstaaten aus. Seit den siebziger Jahren bewegt sich der Steuerstaat in einer prekären Tendenz. Das Verhältnis der Steuerzahler und Transferempfänger droht angesichts wirtschaftlicher und demografischer Veränderungen zu kippen. Dies ist bedingt durch die gesellschaftlichen Wandlungen aus der Globalisierung heraus, sodass die Art und Weise der Umverteilung in Frage gestellt werden muss.
Der Sozialstaat ist in Bedrängnis, weil die Steuereinnahmen nicht mehr ausreichen, um das soziale Anspruchs- und Leistungsniveau zu halten, das gegen Ende des 20. Jahrhunderts erreicht worden ist.[110]
Das Problem liegt darin, dass die Steuereinnahmen und die Sozialversicherungsausgaben sich nicht mehr ausgleichen durch die demografischen Verschiebungen, die Arbeitslosigkeit, die sozialen Ungleichheiten durch die Verteuerung des Lebensstandards und die wirtschaftliche Beeinflussung der Steuererhebung. Die Steuervermeidungsmethoden finden ihren Gipfel in der Entstehung von Steueroasen, die Steuervergünstigungen für ausländische Investoren ermöglichen. Der Nationalstaat befindet sich in einer Art Teufelskreis:
Unter den Bedingungen globalisierter Finanzmärkte und verschärften internationalen Steuerwettbewerbs wird die nationale Steuerpolitik mit der Notwendigkeit, aber auch mit den Problemen konfrontiert, wegen der Gefahr investitions- und beschäftigungsrelevanter Abwanderung des Kapitals oder der Unterlassung ausländischer Investitionen im Inland vor allem mobile Kapitaleinkommen steuerlich zu entlasten und zur Kompensation der Steuerausfälle die Einkommenssteuer auf weniger mobile Arbeitseinkommen und die indirekten Steuern wie die Verbrauchssteuern zu erhöhen.[111]
Durch die Kürzungen bzw. die progressive Besteuerung wird neben der Abwanderung auch die soziale Ungleichheit weiter vorangetrieben. Ein deutliches Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass die soziale Absicherung mehr und mehr privat sowie bei privaten Anbietern stattfindet, wie zum Beispiel die private Rentenvorsorge. Durch die Ausfälle der Steuereinnahmen und den privatwirtschaftlichen Einfluss auf den staatlichen Haushalt ist der Staat gezwungen, Teile seiner staatlichen Institutionen in den privatwirtschaftlichen Bereich zu verkaufen. Er entlastet damit die staatlichen Finanzen durch zum Beispiel die Privatisierung von Monopolaufgaben wie die Post. Eine andere Strategie besteht darin, die staatlichen Institutionsstrukturen zu verkleinern, in dem Stellen abgebaut werden.[112]
Findet ein transformeller Wandel des Machtmonopols und des Steuermonopols statt?
Trotz der durch die Globalisierung bedingten Prozesse bleibt die nationale Politik handlungsfähig in den Bereichen der Umverteilung und der Besteuerung.
Während also die sozialstaatsrelevante Steuerpolitik mehr oder weniger den Zwängen globalisierter Finanzmärkte unterliegt, können sozialpolitische Reformvorhaben weitgehend unabhängig von den Folgen der Globalisierung ausgestaltet werden.[113]
Die Besteuerung ist die wichtigste Grundlage für alle finanziellen Vorhaben des Staates und hat keine Privatisierungstendenzen, sondern nur starke Einflüsse durch den privatwirtschaftlichen Bereich. Auch die Besteuerung von Unternehmen bleibt weiterhin eine nationale Angelegenheit, auch wenn der Interdependenzzusammenhang in den internationalen und supranationalen Strukturen zunimmt. Die Debatte in der Europäischen Union über das Einführen eines Mindeststeuersatzes zeigt, dass die stärkere Kooperation der Nationalstaaten vor allem im europäischen Zusammenschluss einen Lösungsansatz für die Verhinderung von Steuervermeidungsstrategien darstellt. Der transformelle Wandel ist in diesem Bereich der Staatlichkeit noch nicht festzustellen; auf Grund der starren demokratischen Strukturen ist ein radikaler Umbruch im Bereich der Umverteilung und der Besteuerung nicht zu erwarten.
Im Bereich des Machtmonopols ist die Tendenz der Privatisierung deutlicher zu spüren. Der partielle Verlust des Staatscharakters ist nicht von der Hand zu weisen durch die Abgabe von staatlichen Monopolaufgaben in den privatwirtschaftlichen Bereich. Neben der privatwirtschaftlichen Orientierung, die fragwürdig gemeinwohlorientiert stattfindet, kommt es zu Problemen wie dem Datenschutz und etwaigen Preiserhöhungen. Durch seine Gesetzgebung kann der Staat zwar auf diese Entwicklungen reagieren, aber seine Schutzfunktion wird entscheidend eingeschränkt. Insgesamt lässt sich im Machtmonopol eine deutliche Verschiebung der Verhältnisse feststellen und somit auch der Anbruch eines transformellen Wandels. Der starke Nationalstaat befindet sich hier auf Grund seiner schwierigen finanziellen Situation in einer Rückwärtsbewegung.
Das nationalstaatliche Territorium soll im Prozess der möglichen Entgrenzung vor allem in Bezug auf die neue soziale Mobilität betrachtet werden. Die Menschen, die die internationalen Grenzen mit unterschiedlichen Motivationen überschreiten, sind dabei die entscheidenden Akteure. Sie tragen diesen Prozess durch ihre Transnationalität, die bereits im Parameter Staatsvolk betrachtet wurde.
Transnationalisierung bedeutet das Ende des Eingeschlossenseins in den Behälterraum des Nationalstaates und die zunehmende Normalität von grenzüberschreitenden Ortsveränderungen.[114]
Der Mensch agiert losgelöst vom Ort und durch die voranschreitende Individualisierung fächert sich die moderne Mobilität in viele Bereiche: Standortwahl nach entsprechender Attraktivität, Ruhestandmigration, Auslandsstudium, politische Flucht oder auch der Tourismus als soziale Massenbewegung. Innerhalb des Nationalstaats wirkt sich dieser Prozess entsprechend aus: Es entwickelt sich ein anderes Verhältnis zu Raum und Zeit. Es entstehen flexiblere gesellschaftliche und soziale Strukturen, die die nationalstaatlichen Grenzen aufweichen können. In der Betrachtung globaler Migrationsbewegungen fällt auf, dass sich knapp 80 % der Migranten innerhalb ihres Heimatstaats bewegen und somit gar keine nationalstaatlichen Grenzen übertreten. Hier findet vor allem eine Urbanisierung im Hinblick auf Lebensstandardverbesserung statt. Schlussendlich sind es nur 3 % der internationalen Migranten, die dauerhaft ihren Heimatstaat verlassen, um in einem anderen Nationalstaat zu bleiben.[115] Vereinfacht und ermöglicht werden diese Migrationsbewegungen durch die Neuerungen der globalisierenden Prozesse wie die verbesserten Mobilitätschancen und den möglichen Kontakt in die Heimat durch neue Kommunikationstechnologien. Viele Nationalstaaten sind durch den voranschreitenden demografischen Wandel sogar auf Zuwanderung angewiesen. Neben der Demografie ist es aber auch die Abwanderung, die ausgeglichen werden muss, um das soziale Sicherungssystem und die damit im Zusammenhang stehenden Steuereinnahmen zu gewährleisten.
Findet ein transformeller Wandel des territorialen Bezugs statt?
Die Entgrenzung des Nationalstaats findet durch die Loslösung des territorialen Bezugs seines Staatsvolkes statt, das sich folglich nicht mehr mit ihm identifizieren kann. Die kulturelle Ebene und die damit im Zusammenhang stehende Identität bilden dazu den entscheidenden Indikator. Kultur ist dabei als offene, dynamische und vor allem gestaltbare Struktur zu verstehen. Sie umfasst das historisch angesammelte geistige Gut des Volkes, das durch seine sozialen Handlungen entstanden ist. Der Kulturbegriff umfasst somit die Lebensweise, das Werte- und Normensystem und die Sozialisationsstruktur der Gemeinschaft. Die Identität, die mit der Kultur im Zusammenhang steht, ist ein Konstruktionsprozess, der nie stillsteht, weil der Mensch sich in seiner Identifikation ständig wandelt. Dies geschieht durch die ständige Reflexion seiner Umwelt, in der sich der Mensch in seinen verschiedenen Rollenverhältnissen bewegt. Der Identitätsmoment ergibt sich aus den gemachten Erfahrungen des menschlichen Bewusstseins und ist Teil der Identifikation. Die ethnische Identität, die Identifikation mit dem Heimatstaat und die Kultur als sozialer Konstruktionsprozess entstehen vor allem dann, wenn ein interethnischer Kontakt zustande kommt. Diese Abgrenzung zum signifikanten Anderen beruht auf der Empfindung der Gemeinsamkeit und der Andersartigkeit. Deshalb kommt es durch Migrationsbewegungen oft zu interkulturellen Konflikten. Das Ergebnis ist in den meisten Fällen die Betonung der kulturellen Heterogenität statt des Entstehens einer homogenen pluralen Kultur. Die Globalisierung erschafft zwar Möglichkeiten einer geografischen und sozialen Mobilität, reißt damit aber auch die bewusste Wahrnehmung und Konstruktion ethnischer Differenz an. Ebenso fällt es den Migranten mit dauerhaftem Wechsel des Heimatstaates durch die Kommunikationsmöglichkeit nicht schwer, Kontakt in die Heimat zu halten. Die Gemeinschaft kann dadurch abstrakt weiter bestehen. Die ethnische Identität verliert aber ihren Bezug, wenn die Betonung der Gemeinsamkeiten nicht mehr stattfindet. Im Falle einer erfolgreichen Integration in die Wahlheimat findet aufgrund der fehlenden Betonung des Andersseins die ethnische Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft statt. Der transformelle Wandel des territorialen Bezugs ist damit fragwürdig, da grundsätzlich eine Identifikation mit einer Gemeinschaft stattfindet und diese immer im Zusammenhang mit dem Bezug auf ein territoriales Gebiet steht. Die Grenzen zwischen den Nationalstaaten sind so offen wie noch nie, aber die eigentlichen Grenzen zieht das Staatsvolk durch seine Identifikation, die ihm in Zeiten des Umbruchs Sicherheit vermitteln kann.
[...]
[1] Scharpf (1996), S. 213.
[2] Scharpf (1996), S. 215.
[3] Vgl. Scharpf (1996), S. 213 ff.
[4] Vgl. Hacke (2001), S. 238 ff.
[5] Beck (2007), S. 15.
[6] Vgl. Beck (2007), S. 15 ff.
[7] Beck (2007), S. 22 f.
[8] Vgl. Freiburghaus (2001), S. 39 ff.
[9] Blumenwitz (2001), S. 48 f.
[10] Vgl. Albrow (2007), S. 195 ff.
[11] Vgl. Felder (2001), S. 73 ff.
[12] Felder (2001), S. 75.
[13] Felder (2001), S. 76.
[14] Felder (2001), S. 82 f.
[15] Deitelhoff/Steffek (2009), S. 14.
[16] Deitelhoff/Steffek (2009), S. 15.
[17] Vgl. Deitelhoff/Steffek (2009), S. 7 ff.
[18] Freiburghaus (2001), S. 41.
[19] Scharpf (1996), S. 212.
[20] Hacke (2001), S. 239.
[21] Hacke (2001), S. 241.
[22] Hacke (2001), S. 242.
[23] Habermas (2001), S. 105.
[24] Vgl. Merkel (2010), S. 67 ff.
[25] Merkel (2010), S. 67.
[26] Vgl. Polanyi (1995), Klappentext.
[27] Zapf (1994), S. 125.
[28] Vgl. Zapf (1994), S. 125 ff.
[29] Merkel (2010), S. 76.
[30] Merkel (2010), S. 84.
[31] Merkel (2010), S. 88.
[32] Vgl. Merkel (2010), S. 93 ff.
[33] Hopfmann/Wolf (2001), S. 16.
[34] Hopfmann/Wolf (2001), S. 24 f.
[35] Vgl. Hopfmann/Wolf (2001), S. 16 ff.
[36] Vgl. Bühl (2001), S. 56 ff.
[37] Bühl (2001), S. 59.
[38] Bühl (2001), S. 61.
[39] Bühl (2001), S. 79.
[40] Vgl. Bühl (2001), S. 76 ff.
[41] Weber (1984), S. 91 ff.
[42] Voigt (2007), S. 39.
[43] Albrow (2007), S. 111.
[44] Voigt (2007), S. 23.
[45] Vgl. Voigt (2007), S. 20 ff.
[46] Bethge (2001), S. 13.
[47] Vgl. Bethge (2001), S. 13 ff.
[48] Leibfried/Zürn (2006), S. 11.
[49] Voigt (2007), S. 62.
[50] Vgl. Freiburghaus (2001), S. 28 ff.
[51] Vgl. Freiburghaus (2001), S. 31 f.
[52] Bethge (2001), S. 28.
[53] Bundeszentrale für politische Bildung (2009), a).
[54] Albrow (2007), S. 148.
[55] Beck (2007), S. 31.
[56] Albrow (2007), S. 210.
[57] Mau (2007), S. 37.
[58] Zürn (1998), S. 76.
[59] Link (2001), S. 170.
[60] Bundeszentrale für politische Bildung (2009), c).
[61] Neyer (2004), S. 48.
[62] Vgl. Albrow (2007), S. 112 f.
[63] Vgl. Beck (2007), S. 14 ff.
[64] Bundeszentrale für politische Bildung (2009), b).
[65] Müller (2009), S. 222.
[66] Hopfmann/Wolf (2001), S. 20 f.
[67] Vgl. Bühl (2001), S. 28 f.
[68] Vgl. DGVN (2009), S. III.
[69] Vgl. DGVN (2009), Artikel 1 Abs. 2–4 UN-Charta.
[70] Heintze (2011), S. 604.
[71] Steffek (2009), S. 161.
[72] Steffek (2009), S. 162.
[73] Steffek (2009), S. 168 f.
[74] Biegon (2010), S. 193 ff.
[75] Steffek (2009), S. 195.
[76] Steffek (2009), S. 199.
[77] Nonhoff/Schneider (2010), S. 223.
[78] Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (2009), d).
[79] Albrow (2007), S. 215.
[80] Albrow (2007), S. 255.
[81] Albrow (2007), S. 256.
[82] Vgl. Albrow (2007), S. 215 ff.
[83] Mau (2007), S. 122.
[84] Albrow (2007), S. 214.
[85] Albrow (2007), S. 200.
[86] Albrow (2007), S. 276.
[87] Vgl. Mouffe (2011), S. 3.
[88] Ebd.
[89] Vgl. Albrow (2007), S. 128 ff.
[90] Voigt (2007), S. 302.
[91] Ebd.
[92] Vgl. Crouch (2008), S. 13 ff.
[93] Vgl. Backhaus (1996), S. 47 ff.
[94] Backhaus (1996), S. 57.
[95] Klodt (2001), S. 160.
[96] Backhaus (1996), S. 60.
[97] Vgl. Albrow (2007), S. 204 ff.
[98] Albrow (2007), S. 211.
[99] Vgl. Albrow (2007), S. 42 ff.
[100] Vgl. Crouch (2008), S. 61 f.
[101] Vgl. Crouch (2008), S. 103 f.
[102] Klodt (2001), S. 165 f.
[103] Beck (2007), S. 203.
[104] Grande (2001), S. 197.
[105] Ebd.
[106] Grande (2001), S. 198.
[107] Vgl. Grande (2001), S. 197 ff.
[108] Albrow (2007), S. 212 f.
[109] Vgl. Grande (2001), S. 201 ff.
[110] Albrow (2007), S. 300.
[111] Pilz (2001), S. 145.
[112] Vgl. Albrow (2007), S. 302 ff.
[113] Pilz (2001), S. 146.
[114] Mau (2007), S. 123.
[115] Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (2010), e).
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