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Mehr InfosBachelorarbeit, 2011, 55 Seiten
Bachelorarbeit
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Aufgrund der typologischen bzw. kontrastiven Analyse der beiden Autoren, die an sich keinen direkten Kontakt zueinander hatten, erscheint es umso wichtiger, ähnliche literarische Erscheinungen miteinander in Beziehung zu setzen und problemorientiert in Bezug auf die Thematik der Weltfremdheit und Weltflucht vorzugehen. Eine „lineare“ Lektüre erscheint schon allein aufgrund der vorliegenden Textbeschaffenheiten als nicht notwendig. Emil Cioran zählt heute zu den bedeutendsten Essayisten und radikalen Kulturkritikern der Nachkriegszeit. Bei den französischen Existentialisten wurde er gerade durch seinen hervorragenden Stil und seinen desillusionierenden, pessimistischen Aphorismen und Essays bekannt. Aufgrund seiner generellen Abneigung gegenüber Denksystemen, systematischen und kategorisch einordnenden Denkweisen, resultierte auch seine Vorliebe zum Aphorismus, der sich als Stilform nahezu durch seine gesamten Werke zieht. Hierzu schreibt er bereits in den jungen Jahren im Buch „Auf den Gipfeln der Verzweiflung“:"Ich würde eine Welt lieben, in der es gar kein Kriterium gäbe, keine Form und keinerlei Prinzip, eine Welt der absoluten Unbestimmtheit. Denn in unserer Welt sind alle Kriterien, Formen und Prinzipien schal."[1] Paradoxer Weise ergibt sich durch das Prinzip der Formlosigkeit und des Aphorismus eigentlich eine Auflehnung gegenüber dogmatisch-systematischen Ideologien.
Gleichzeitig scheint sich durch diese Methodik und durch den dogmatischen Charakter des Aphorismus jedoch selbst eine Art Ideologie zu konstituieren.
Denn seine aphoristischen Texten besitzen unzweifelhaft einen apodiktischen Charakter, d.h. seine Anliegen sind nicht widerlegbar, unbedingt richtig und ohne weitere Begründung unmittelbar gewiss. Ein Paradoxon, bzw. eine Gegensätzlichkeit, die mit dem Stilmittel des Aphorismus notwendiger Weise einhergeht. Daraus ergibt sich ein generelles Problem, die Bedeutung, bzw. die Relevanz solch stark subjektiv geprägter Werke zu bewerten und in weiterer Folge Verallgemeinerungen hinsichtlich einer Thematik vorzunehmen. Auch Fernando Pessoa gilt als eine wichtige Schlüsselfigur der literarischen Moderne und als bedeutendster portugiesischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Auch seine Schriften sind größtenteils in Fragmentform erhalten, weswegen sich die vorhergehenden Überlegungen auch auf ihn beziehen lassen. Des weiteren ist es schwierig aufgrund seiner Heteronyme[2] Ähnlichkeiten mit dem Autor selbst herzustellen, obgleich wohl autobiographische Züge unverkennbar sind. In Anbetracht dieser Überlegung soll es aber für die näheren Betrachtungen unwesentlich sein, ob ein Heteronym Pessoas, oder der Autor sich selbst äußert. Nicht zuletzt kann die Kunst als Indikator für den Zustand einer Kultur gesehen werden und muss deshalb als wissenschaftliche Quelle durchaus toleriert werden. Denn gerade durch literarische Betrachtungen vermag man hinsichtlich kultureller Begebenheiten „beschreibendes Material von höchster Bedeutung“ zu gewinnen, „wenn wir unsere Aufmerksamkeit der Frage zuwenden, wie ein literarischer Charakter seine Nichtübereinstimmung mit der gesellschaftlichen Ordnung ausdrückt, oder wie er versucht, sie zu rechtfertigen.“[3]
Der Terminus „Dekadenz“ (lat. cadere, „fallen“, „sinken“) besitzt im alltäglichen Sprachgebrauch eine überwiegend negative, abwertende Bedeutung.
Er tauchte bereits 1694 in Boileaus „Rèflexions Critiques“ auf, später dann bei Montesquieu und Gibbon, wobei sich beide mit der Spätzeit, mit dem Untergang des Römischen Reiches beschäftigten. Grundsätzlich ist unter Dekadenz eine geschichtsphilosophische Betrachtung zu verstehen, die sich mit den Veränderungen von Kulturen und Gesellschaften als Verfall, Niedergang, Verkommenheit oder Degeneration befasst.
Ein oft aufgegriffener Vergleich mit dekadenten Phänomenen ist in diesem Zusammenhang Hesiods „Zeitaltermythos“ aus seinen „Werken und Tagen“.
Hesiod zeigt hierbei einen fortschreitenden Verfall auf, wobei die Menschen ihre Intelligenz zu bösen Zwecken benutzen, mit dem Ausblick, selbst dem verdienten Untergang ausgeliefert zu sein, wenn sie sich nicht bessern würden.
Eine solche Ermahnung zur Besserung hat jedoch nur dann einen Sinn, wenn die Dekadenz nicht zwangsläufig ist.[4] Der Begriff der „Dekadenz“ setzt somit voraus, es gäbe objektiv bessere oder wünschenswertere Zustände bzw. bei einem gesellschaftlichen Zustand handle es sich jedenfalls nicht um „die beste aller möglichen Welten“.[5] Durch diesen hypothetischen Weltbegriff einer möglichen besseren Welt erhalten kulturpessimistische Betrachtungen ihre Legitimation und ihre Rechtfertigung. Der Kulturpessimismus ist gewillt, den Effekt der Kultur in der „Entfremdung des Menschen, in seiner Denaturierung und Dekadenz“[6] zu betrachten. Seine Anklage wendet sich dabei in der modernen Gesellschaft oft „gegen die Leere einer materialistisch ausgezeichneten Zeit, gegen die Heuchlereien des bürgerlichen Lebens und die Entfremdung der Natur, gegen die geistig-seelische Verarmung inmitten des Überflusses [und] gegen das gesamte 'kapitalistisch-liberalistische System'[7] “, da gerade der Liberalismus maßgeblich und gerne als „geistige und politische Grundlage der Modernität“[8] gesehen wird.
Die Kritik beschreibt im allgemeinen eine Haltung, gewisse Umstände durchdringend zu reflektieren und diese näher zu hinterfragen. Dieser Vorgang des Denkens kann als Grundlage für Anfechtungen und infolgedessen als Ursache kulturpessimistischer Anschauungen verstanden werden. Denken kann also in Form des Kritizismus eine reaktionäre Ausprägung besitzen und gleichzeitig als Grundlage des Erkennens von Mängeln und Ambivalenzen, insbesondere innerhalb der Gesellschaft dienen. Die Kritik ist somit die Grundlage eines jeden Pessimismus auf dessen Denkweise u.a. der Skeptizismus aufbaut. Typisch für den Skeptiker ist, dass es generell keine Rechtfertigung und keine Gewissheit für universelle Gültigkeit eines gesellschaftlichen Sachverhalts gäbe oder wie Pessoa schreibt: „Trunken von einer ungewissen Sache, die sie 'Positivismus' nannten, kritisierten diese Generationen die gesamte Moral, durchstöberten alle Lebensregeln, und von diesem Zusammenstoß von Lehrmeinungen blieb nur die Ungewissheit aller zurück und der Schmerz darüber, daß es keine Gewissheit gab. Eine solcherart in ihren Grundlagen erschütterte Gesellschaft konnte konsequenterweise auch in der Politik nur ein Opfer dieser Disziplinlosigkeit werden[.]“[9] Diese skeptischen Tendenzen durchdringen alle kulturellen Bereichen und betreffen meistens jene metaphysischen Begriffe wie Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit. Diese Konzeption eines kulturellen Skeptizismus richtet sich im Sinne Pessoas gegen den Universalitätsanspruch und gegen die Richtigkeit von Moral, Religion, Wissenschaft und generell gegen gesellschaftliche Strukturen und Systeme der Moderne.[10] Durch diese skeptische Einstellung werden den gesellschaftlichen Begebenheiten die Verbindlichkeit abgesprochen, wodurch diese gleichzeitig eine radikale Relativierung erfahren. Dieses Prinzip der Relativierung hat gerade in der heutigen modernen Zeit an Popularität gewonnen und kann gewissermaßen als ein Produkt einer antidoktrinären Freiheitsaufassung gegen illegitime, totalitäre Ansprüchen gesehen werden. Dabei manifestieren sich in der bewussten Leugnung von gesellschaftlichen Bedeutungshorizonten klare Tendenzen zu einem Nihilismus hin. Dadurch, dass verschiedene gesellschaftliche Aspekte gleich gültig innerhalb einer relativistischen Betrachtungsweise gesehen werden können, ergibt sich das Problem der Beliebigkeit hinsichtlich gesellschaftlicher, verbindlicher Handlungsorientierung. Gewissermaßen kann diese Freiheitsauffassungen als zweischneidiges Schwert gesehen werden. Denn erst mit der Freiheit ergibt sich eine durchgehende Tendenz zur Relativierung in allen alltäglichen, gesellschaftlichen Bereichen. Dabei konstatiert sich diese Freiheit durch Selbstbestimmung, aufgrund von Individualisierung, also schlussendlich aufgrund des Fehlens von äußeren Ursachen, bzw. von der Abwesenheit des aufdrängenden Charakters der Gesellschaft, der einen äußeren Zwang aufoktroyieren möchte.[11] Der Individualismus der Selbstverwirklichung ist also durch den Relativismus in den Vordergrund gerückt. Eine Relativierung richtet sich demnach immer gegen einen Absolutheitsanspruch jeglicher Art und stellt gewissermaßen eine Achtung vor parallel bestehenden, partikulären Zuständen dar. Diese Achtung vor Andersartigem vermag oft als eine moralische Auffassung erscheinen, jedoch wird gerade im Zusammenhang des Relativismus die Moral selbst zum Gegenstand der Relativierung erhoben. In Hinblick auf das Freiheitsprinzip des menschlichen Handelns, scheint es deswegen umso schwieriger eine normative Ethik mit imperativen Handlungsnormen rechtzufertigen. Man klagt in diesem Zusammenhang deswegen oftmals von einem „ Zerfall der Werte “.
In einer Gesellschaft, in der eine Zwecksetzung und Verbindlichkeit abhandengekommen ist, ergibt sich notwendiger Weise jene zersetzende und auflösende Kraft von Ordnungsstrukturen, die die Permessivität der Kultur fördert. Der Skeptizimus geht also mit einer Steigerung von Entropie und Unordnung einher, die bestehende gesellschaftliche Ordnungssysteme hinterfragt. In einem kontradiktorischen Verhältnis dazu stehen die Utopien, in deren Konzeptionen ein Versuch zur Herstellung von Ordnung angestrebt wird, als eine absolute, geplante Regelung des menschlichen Zusammenlebens. Der Utopie-Begriff soll in diesem Kontext als theoretisches Konzept zur Regelung und Konstruktion gesellschaftlicher Strukturen verstanden werden. Zumal er nur hypothetischen Charakter besitzt und pragmatisch nie vollends in der Praxis umgesetzt werden kann, gerät gewissermaßen jede soziologische Theorie, jede Gesellschafts ordnung in Verdacht, utopisch zu sein.[12]
Der Begriff „Kultur“ (lat. cultura, „Bearbeitung“, „Pflege“, „Ackerbau“) bezeichnet gewissermaßen „alle Aspekte des gestaltenden Elements im menschlichen Selbstverhältnis; er ist der 'Inbegriff der von Menschen produzierten und reproduzierten menschlichen Lebenswelt' “.[13] Gleichzeitig ist die Kultur als menschliches Abgrenzungskriterium zur Natur zu verstehen, wonach Kultur mit der Beschreibung und produktiven Veränderung der Natur zugunsten des menschlichen Lebens einhergeht. Ironisch aber treffend schreibt Pessoa dazu: „Ein Park ist ein Abriß der Zivilisation – eine anonyme Veränderung der Natur.“[14]
In der Kultur realisiert sich somit der „Anspruch des Menschen, etwas aus den vorgefundenen Bedingungen [der Natur] und aus sich selbst zu machen“.[15]
Bereits ein Park, wie Pessoa schreibt, vermag die wesentlichen Grundelemente der Zivilisation bereits aufzuzeigen: Seine artifiziell angelegte Bepflanzung, nach ästhetischen Vorlieben des Menschen, seine Zweckbeschaffenheit als Naherholungsgebiet, seine stringent begrenzende Umzäunung als Abgrenzung gegenüber seiner Umgebung, also eine in Grenzen gewiesene Natur; eine Metamorphose von Naturlandschaft in Kulturlandschaft. So diskret diese Abgrenzung, also diese Differenz zwischen Natur und Kultur erscheinen mag, tatsächlich handelt es sich jedoch um ein fließendes Kontinuum, zumal der Mensch selbst ein naturimmanentes Lebewesen ist. Daher erscheint eine referentielle, systemtheoretische Betrachtung als angemessener, eine Anschauungsweise, in der Kultur und Natur in ständiger Weise wechselwirken und sich dabei gegenseitig reziprok beeinflussen und verändern können. Jene strikte Unterscheidung von Kultur und Natur scheint sich jedoch in vielen gängigen Lehrmeinungen immer noch aufrecht zu erhalten.
Die Kulturfähigkeit des Menschen, steht somit nicht im Gegensatz zu seinen biologischen Dispositionen; Kultur steht nicht im rigorosen Gegensatz zur Natur. Die Unterscheidung ist kontinuierlich und lediglich für Analysezwecke sinnvoll. Vielmehr besitzen die Menschen „keine ausreichende biologische Grundausstattung, die ihnen Handlungsorientierung und Verhaltenssicherheit vermittelt. Als Ersatz dafür, verfügen sie über Symbole, mit denen sie ihre eigene Umwelt erschaffen.“[16] Dieser „Ersatz“ subsumiert gewissermaßen all jenes, was unter dem Kulturbegriff zu verstehen ist. Man könnte auch die Kultur als eine Abstraktion der Natur auffassen, einen artifiziellen Mesokosmos [17], innerhalb dessen der Mensch lebensfähig ist, wobei es diesbezüglich unwichtig ist, wie die tatsächliche Natur, die onthische Wirklichkeit beschaffen ist, solange die menschliche, kulturelle Abstraktion eine biologisch vernünftige Variante repräsentiert. Dies scheint die biologisch notwendige Antwort auf die enorme Zunahme von Komplexität zu sein, die nur durch modellhafte Verkürzung und Trivialisierung vernünftig und menschlich handhabbar erscheint. Diese Symbolhaftigkeit oder Epiphänomenalität menschlicher Kulturen ist also eng an das Kognitive und Imaginäre geknüpft, an eine Abstraktionsleistung des Menschen, die selbst zur Natur, zur onthologischen Wirklichkeit Distanz aufbaut. Dieser Gedanken des Distanzierens und der Entfremdung durch Abstraktion vermag gleichzeitig den anthropofugalen Charakter bezüglich der Natur, bzw. der onthologischen Wirklichkeit innerhalb der Kultur selbst zu verankern. Pessoa beschreibt hierzu den fiktiven und abstrahierenden Charakter der Kultur wie folgt: „Je genauer ich das Schauspiel der Welt betrachte, den sich beständig ändernden Stand der Dinge, desto überzeugter bin ich vom Fiktiven, das allem eigen ist, vom falschen und hohen Ansehen, das alle Wirklichkeit genießt. Und bei diesem Betrachten, wie es wohl jedem Nachdenken zustößt, wirkt die bunte Parade von Sitten und Moden, der komplizierte Lauf von Zivilisation und Fortschritt, das großartige Durcheinander von Imperien und Kulturen, ja, wirkt all dies auf mich wie ein Mythos, eine Fiktion, geträumt zwischen Schatten und Vergessen.“[18] Arnold Gehlen spricht in seinen anthropologischen Forschungen vom Menschen als Mängelwesen (Homo Inermis), hinsichtlich der biologischen Unangepasstheit an seine natürliche Umwelt.[19] Diese These sollte jedoch vielmehr so betrachtet werden, dass der Mensch gerade durch seine Kulturfähigkeit, jene biologisch vernünftige Variante repräsentiert, die eben seine Angepasstheit und damit seine Überlebensfähigkeit in der Natur begründet. Die Kultur ist also gewissermaßen ein Produkt der Evolution, eine notwendige Konstruktion des Menschen als eine arbiträr, d.h. konventionalisierte „Zwischenwelt“, die für seine typischen Anforderungen notwendig ist . [20] Um dem Menschen als Lebewesen in seiner Gesamtheit gerecht zu werden, bedarf es somit einer Betrachtungsweise die sowohl seine biologischen Dispositionen, als auch seine geistig-kognitiven Fähigkeiten berücksichtigt, ohne reduzierend zu wirken.
Betrachtet man die menschlichen Kulturen aus einer deskriptiven, historischen Perspektive, kann man erkennen, dass das grundsätzliche Merkmal der Kultur die Dynamik ist. Diesbezüglich vergleicht Oswald Spengler die Kultur mit einem lebendigen Organismus, der Analogien zu den organischen Begriffen Geburt, Tod, Jugend, Alter, Lebensdauer, nämlich Aufstieg, Blütezeit und Untergang, kennt.[21] Gleichzeitig proklamiert Spengler: „ 'Die Menschheit' hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig, wie die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat. 'Die Menschheit' ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort.“[22] Eine Kultur steht also immer in einem amorphen historischen Entwicklungsprozess eingebettet, der nach Spengler – und so zeigt es auch die historische Erfahrung – notwendiger Weise irgendwann zum Untergang einer Kultur führen muss. Diese Notwendigkeit, bzw. der Untergang von Kulturen ist jedoch weder auf einem genauen, absoluten Zeitpunkt fixierbar, noch als absolutes Verschwinden aller kultureller Begebenheiten der zerfallenden Kultur zu verstehen. Gewissermaßen kann man die Idee des Organismus' im Sinne Spenglers -zugegebener Maßen stark antropozentristischer Metapher- konkret auch auf die Bedeutung des Untergangs beziehen: So wie nämlich ein Organismus am Ende seines Lebens in organische und schlussendlich in anorganische Elementen zerfällt, die wiederum als Substanz neuer Lebewesen fungieren, zerfällt eine Kultur und dient gleichzeitig als Substrat oder „Nährboden“ für neue Kulturen. Hinblicklich dieser Konzeption des Untergangs von Kulturen schreibt Cioran in der „Lehre vom Zerfall“, dass es „einen Weltschmerz [gibt,] der aus der gesamten geschichtlichen Erfahrung spricht und sich als einzige, für alles Künftige gültige Folgerung aufdrängt. Es ist jene unnennbare Schwermut, die man in der Seele spürt, es ist die Melancholie des 'Weltendes'.“[23] Tatsächlich lässt sich anhand historischer Betrachtungen die Sicherheit eines kulturellen Untergangs feststellen. Diese offensichtliche Vergänglichkeit spricht also aus der Geschichte selbst und ähnelt dabei einer Apokalypse, einem „Weltende“. Doch ist der Untergang einer Kultur, wie bereits metaphorisch festgehalten, nicht als etwas Absolutes zu verstehen, demnach alle kulturellen Aspekte einer Kultur verloren gehen. Vielmehr wirken gewisse Aspekte im Sinne eines „kulturellen Erbes“ oder von Traditionen weiter, werden aufgegriffen, verändert oder fallen gelassen. Interessant scheint jedoch der Aspekt, dass sich gerade durch fortschreitende Zivilisation, der Zunahme von Komplexität und der damit verbundene Abstraktionscharakter, kulturelle Zerfallserscheinungen manifestieren, die hinblicklich einer Gesellschaft destruktive Tendenzen bewirken. So mag es im Sinne Spenglers vielleicht an jener „Überzivilisierung“ von Kulturen liegen, woran diese dann schlussendlich zugrunde gehen. Diesem Gedanken muss durchaus eine gewisse Ernsthaftigkeit zugemutet werden.[24]
Konsequenter Weise ergeben sich zwei Bereiche, die für eine Analyse des menschlichen Unbehagens herangezogen werden können: Die Natur und die Kultur. Diese Unterscheidung soll jedoch nur zu Untersuchungszwecken vorgenommen werden, ohne strikte Abgrenzungen proklamieren zu wollen, wie bereits vorher ersichtlich werden durfte. Dabei superveniert die Kultur im Sinne eines Emergentismus auf biologisch-evolutionären Dispositionen, wodurch die biologische Ebene mit der kulturellen Ebene in ständiger Koppelung steht. Somit erscheinen beide Betrachtungsweisen für eine Analyse des menschlichen Unbehagens gerechtfertigt zu sein. Aus dieser Erkenntnis erschließt sich gewissermaßen eine methodologische Herangehensweise, die für das Betrachten des menschlichen Unbehagens unumgänglich erscheint: Die Auffassung der Ethologie, die biologische Fragestellungen auf das menschliche Verhalten als die Funktion eines Systems, das Existenz wie seine besondere Form einem historischen Werdegang verdankt, der sich in der Ontogenese, in der Entwicklung des Individuums und in der Kulturgeschichte abgespielt hat, scheint hierzu die richtige zu sein.[25]
Da der Mensch nachgewiesener Weise als Lebewesen selbst biologischen und evolutionären Aspekten unterworfen ist, scheint es legitim zu sein, sich menschliches Unbehagen aufgrund ungünstiger biologischer Bedingungen vorzustellen, oder die These Arnold Gehlens aufzugreifen, demnach der Mensch an seine natürliche Umwelt biologisch unangepasst sei. Allerdings erscheint es von Seiten des Menschen, als immanentes Wesen der Evolution als schwierig, biologische Unangepasstheit auf dieser Ebene zu kritisieren, bzw. erscheint eine Alternative oder eine Lösung vorzuschlagen, nur als anthropozentristisch. Dennoch beschäftigt sich damit die Medizin (Biologie, Pharmakologie, Genetik ect.), deren Hauptanliegen durchaus den Bemühungen, das menschliche Leiden auf biologischer Ebene zu beseitigen bzw. zu mildern, entspricht. Cioran schreibt dazu, dass „[n]ur die Pharmazie [es noch vermöge], Gedanken anzuhalten“.[26] Wobei Cioran in diesem Zusammenhang gewissermaßen gerade die Denkfähigkeit des Menschen bzw. die bewusste Reflexion, mithilfe des menschliche Bewusstseins und dessen Fähigkeit der Selbsterkenntnis, als fatale Hauptursache von Leidensursachen sieht. Denn gerade durch die Fähigkeit sich selbst bewusst zu werden, macht erst die Erkenntnis von Mangelerscheinungen und Defiziten des eigenen Selbst möglich.[27] Bezüglich der Natur jedoch, ist es sinnlos kategoriale Werturteile, wie gut oder schlecht einzuführen, bzw. den einzigen Grund menschlichen Unbehagens in der natürlichen Unangepasstheit des Menschen zu suchen. Zwar vermag man durchaus Hypothesen bezüglich der biologischen Beschaffenheit der Natur bzw. des Menschen hinsichtlich des subjektiven, menschlichen Empfindens und Meinens zu machen, jedoch erscheint dies gewissermaßen als irrelevant, schlichtweg als naturgegeben und somit als fatal.
Spinoza äußert sich dazu passend im Vorwort seines dritten Teils seiner Ethik: „Es geschieht in der Natur nichts, was ihr als Fehler angerechnet werden könnte.“[28] Das, was wir aus anthropozentristischer Sicht also an biologischen Begebenheiten der Natur bewerten, kann nicht der Natur in irgendeiner Weise angelastet werden. Pessoa sieht in seiner Erzählsatire „Ein anarchistischer Bankier“, dass der Ursprung des wahren Übels vielmehr in den Fiktionen bzw. in kulturellen Konventionen zu suchen sei, die -wie bereits im vorhergehenden Kapitel bemerkt- einen von der Natur abstrahierenden, einen artifiziellen Charakter einer konstruierten Zwischenwelt besitzen . Pessoa proklamiert also im Sinne der im vorigen Kapitel behaupteten Entfremdungsthese, dass gerade die Abstraktionsleistungen der Kultur, die den Menschen von der Natur und ihren biologischen Gegebenheiten entfernen, maßgeblich für das Unbehagen zur Verantwortung gezogen werden müssten. Diesbezüglich wirft er in einem Dialog folgende elementare Frage auf, die er sodann beantwortet: „Warum aber sind diese gesellschaftlichen Fiktionen schlecht? Weil es sich um Fiktionen handelt, weil sie nicht natürlich sind.“[29]
Dies führt zum zweiten Aspekt, nämlich zur Betrachtung kultureller Begebenheiten, die sich im Vergleich zu biologischen Aspekten als „handhabbarer“ erweisen und nach Pessoa als „unnatürliche“, kulturelle Fiktionen oder Konstruktionen, der eigentliche Ursprung des menschlichen Unbehagens und Übels sind. Für den Menschen als kulturimmanentes Wesen ist die Kultur sicherlich die proximale Ursache von Unbehagen. Es sei also die Frage gestellt, welche Ursachen dem Gefühl des Unbehagens innerhalb der Kultur zu Grunde liegen. Hier ergibt sich analog zur Immanenz des Menschen innerhalb der biologischen Evolution und die Fähigkeiten aus dieser Position verbindliche Bewertungen, bzw. Besserungsvorschläge zu treffen, nahezu dasselbe Problem. Denn „[j]emand, der organisch einer Kultur eingefügt ist, wäre nicht imstande, die Krankheit zu identifizieren, die sie unterhöhlt. Seine Diagnose dürfte kaum zählen; seine Beurteilung ihrer Lage schließt ihn selbst mit ein […].“[30] Diese Lage ist ein Problem, das gewissermaßen allen anthropologischen Überlegungen vorausgeht, da das überlegende Subjekt immer auch gleichzeitig das zu betrachtende Objekt darstellt. Wagt man jedoch diese Analyse, tritt dieses Gefühl der Irritation und des Unwohlseins vor allem in Zeiten der Krise offensichtlich zutage ; so ist der Kulturpessimismus das „Produkt einer Krise, eine unmittelbare Reaktion auf den 'Druck entsetzlicher Zeiten' oder das Erzeugnis existentieller Unsicherheit.“[31]
Eine Krise exemplifiziert somit explizit und in klarer Weise eine kulturelle Mangelerscheinung, als Kulminationspunkt dekadenter Phänomene jeglicher Art. Im Gegensatz dazu steht das negative Gefühl, das gewissermaßen transzendent und unscheinbar innerhalb einer Kultur „mitschwebt“, dessen wir uns oft gar nicht bewusst sind, und dabei nicht von einer allgemeinen Krise sprechen würden. Diese zwei Aspekte sind wohl, neben physischen und metaphysischen Leidensursachen, grundlegend für das Unbehagen in der Kultur verantwortlich, Beispiele dafür liefert uns zu genüge und in anschaulicher Weise die Weltgeschichte. Wie bzw. wo genau dieses Unbehagen des Menschen anzusetzen ist, soll in weiterer Folge reflektiert werden, da nicht zuletzt der Begriff der Dekadenz einen Defizit impliziert, sodass es zumindest potentiell wünschenswertere Zustände in einer Kultur geben könne.
Wie bereits festgestellt, ist ein wesentliches Merkmal der Kultur ihre Dynamik und historisch bedingte Entwicklung. Fortschritt soll in diesem Zusammenhang also als Prozess, als Veränderung eines kulturellen Zustandes, in all seinen Facetten und Bereichen verstanden und näher analysiert werden.
Diese progressive Ansicht, scheint in besonderer Weise das Weltbild der westlichen Moderne zu prägen. Spricht man von Fortschritt scheint der Terminus der „Technik“ als teleologische Zweckrationalität einherzugehen. Die Anfertigung von artifiziellen, technischen Artefakten entfalten erst im gesellschaftlich geprägten Rahmen ihren Nutzen und ihren Zweck, weswegen sie nicht als „Mittel“ im herkömmlichen Sinne gelten können. Vielmehr wurden diese Artefakte bereits mit der konkreten Absicht des Nutzens, bzw. einer Zielsetzung und somit „Vorentscheidung“[32] produziert.
Da die Zweckhaftigkeit von Technologien in ihrer Verwendung liegt, scheint Technik zwangsläufig den Prozess der Kulturentwicklung voranzutreiben, vertritt man die bereits erwähnte Ansicht, dass Kultur eine Veränderung, bzw. eine artifizielle Produktion menschlicher Lebensverhältnisse hinsichtlich der vorgefundenen, natürlichen Umwelt, darstelle. Dass Fortschritt unweigerlich alle Bereiche der Kultur (und auch zwangsläufig der Natur) durchdringt und somit unmittelbar Auswirkungen auf ökonomische, soziale, politische, ökologische und religiöse Begebenheiten hat und diese sogar gewissermaßen „determinieren“ kann, ist spätestens seit den Überlegungen von Karl Marx bekannt. Wie bereits gezeigt wurde, scheint die Zivilisation bereits eine Abstraktion, eine Entfremdung hinsichtlich der natürlichen Begebenheiten darzustellen. Der damit verbundene Begriff der „ Entfremdung“, kann in diesem Zusammenhang auch auf die Befindlichkeit des Menschen hinsichtlich gewisser konventionellen Gesellschaftsaspekte ausgeweitet und breiter gefasst werden.[33]
Auch der Fortschrittsbegriff, sowie der Begriff „Technik“ soll in diesem Zusammenhang als weitgreifender verstanden werden, als wie er im alltäglichen Gebrauch üblich verwendet wird.[34] Dort wo dem Menschen biologische Grenzen gesetzt sind, vermag er sich durch artifizielle Gegenstände weiterzuhelfen, wobei diese Artefakte metaphorisch als „sekundäre Organe“[35] gesehen werden können. Die Technik wird somit zu einem Organ des Menschen, der dadurch seine biologischen Defizite kompensieren kann. Die Grenzen scheinen zu verschwimmen, wenn man sich die Frage nach den menschlichen Fähigkeiten stellt, da Technik als immanenter Teil des Menschen gesehen werden kann. Cioran war sich zwar bewusst, dass die Idee des Fortschritts dem Menschen gewissermaßen einen Lebensinhalt gibt, gleichzeitig bezieht er sich auf die negativen Folgen, die jeder Fortschritt mit sich bringt: „Je mehr der Mensch fortschreitet, desto weniger ist er in der Lage, seine Probleme zu lösen, und wenn er auf der Höhe seiner Illusion überzeugt ist, am Ziel angelangt zu sein, dann tritt das Allerschlimmste ein“.[36] Ciorans radikale Behauptung zufolge, bringe jeder neue Fortschritt, jedes Fortschreiten nicht nur positive Aspekte mit sich, sondern vor allem auch neue Probleme als potentielle Ursachen menschlichen Leidens. Vermag diese Aussage Ciorans vom Allerschlimmsten zunächst als ziemlich radikal erscheinen, möge man diese jedoch mit Günther Anders' Betrachtungen zur „Bombe“[37] während des Kalten Krieges vergleichen, zumal die Menschen durch die fortschreitende Technologisierung als „Herren der Apokalypse“ längst an einem Punkt angelangt sind, nicht nur sterblich zu sein, sondern auch das Potential besitzen, sich durch die Technik selbst zu liquidieren.[38] Grundlegend kann diese Exemplifikation der modernen Technikauffassung unter der Perspektive, dass wir Produkte herstellen können, deren Konsequenzen wir uns nicht bewusst sind, bzw. die wir nicht verantworten können, zusammenfassen. Alles Neue bringt einen neuen Möglichkeitsraum mit sich, im Positiven, wie im Negativen.
Wie es die Weltgeschichte paradigmatisch zeigte, haben sich viele Erfindungen schlussendlich, obgleich nicht ausschließlich auf negativer Weise, so doch auch konsequent gegen den Menschen gewendet. Cioran sieht darin generell die Problematik des menschlichen Handelns. Jegliche Art von menschlichen Interventionen in die Weltgeschichte, jede Handlung oder Errungenschaft habe schlussendlich negative Folgen und menschliches Leid mit sich gebracht: „Alles, was wir erstreben, entspringt dem Bedürfnis, uns zu quälen. Selbst die Suche nach dem Heil ist eine Qual, die subtile und die am besten getarnte.“[39]
Anhand der historischen Erfahrung kann man nach Cioran feststellen, dass der Fortschritt im Grunde nichts anderes ist „als die Ungerechtigkeit, die sich jede Generation gegen die ihr vorangegangenen zuschulden kommen lässt.[40] “
Diese Ansichten wenden sich strikt gegen eine optimistische Geschichtsauffassung, die von einem ständigen, graduellen[41] Fortschreiten der Menschheit in der Weltgeschichte ausgeht, wobei häufig das Neue als besser angesehen wird und Fortschritt mit Steigerung der Quantität und Qualität einhergehe. Es lässt sich generell durch den Fortschritt eine Zunahme an Komplexität in allen Lebensbereichen feststellen.
Die Zivilisation stellt in ihrer Gesamtheit somit einen enormen sich steigernden Komplexitätsgrad dar, der nur schwer zu durchschauen ist, da er teilweise einen stark abstrahierenden Charakter besitzt.
Als Beispiel kann hier die Entwicklung vom einfachen Tauschhandel zu Finanzmärkten hin gesehen werden. Die Ware oder das Geld wird dabei in Finanzmärkten auf einer extrem hohen Stufe abstrahiert. Dadurch ergibt sich natürlich eine Unsicherheit des Menschen, gewisse Funktionsweisen nicht durchschauen zu können, ein blindes, notwendiges Vertrauen, eine Unsicherheit im Handeln. Dieses aufzubringende Vertrauen in Expertenwissen, wird durch die fortschreitende Spezialisierung und Arbeitsteilung notwendig. Die Kultur wird somit zum abstrakten Komplex verklärt, dem der Mensch als Individuum befremdlich und unsicher entgegensteht. Umso mehr scheint es sehr schwierig zu sein, im Sinne der Kybernetik in gesellschaftliche Strukturen zu intervenieren, bzw. diese zu regulieren.
Häufig wirken Fortschrittsprognosen utopisch und ideal, wenn man sich vor Augen hält, dass es sich dabei oft nur um eine Extrapolation der kulturellen Verhältnisse der Gegenwart und der Vergangenheit auf die Zukunft handelt. Dazu stellt wiederum die Weltgeschichte in ihrer Aktualität anschaulich die Brisanz und die Unsicherheit dieser Prognosen dar. Dieses Gefühl der Unsicherheit ist bereits an das individuelle Handeln gebunden.
Pessoa beschreibt auf ironischer Weise die Konsequenz der Ungewissheit hinsichtlich gesellschaftlicher Entwicklungen in der Zukunft wie folgt: „[U]nd so erwachten wir für eine Welt, die gierig war nach gesellschaftlichen Neuerungen, mit Freude machte man sich an die Eroberung einer Freiheit, von der man nicht wußte, was sie war, und eines nie genau definierten Fortschritts.“ An dieser Aussage anknüpfend stellt sich des weiteren die Frage nach der tatsächlichen Freiheitsentfaltung, die sich aus der kulturellen Entwicklung ergibt. Zugegebener Weise kann man historisch eine Entwicklung zur Freiheit feststellen, wenn man sich beispielsweise auf den Progress der mittelalterlichen Feudalherrschaft zu einem demokratischen, freien Bürgertum bezieht. Bei genauerer Betrachtung wird man jedoch feststellen, dass sich analog zu den Konsequenzen Ciorans und Anders', hinsichtlich technologischer Neuerungen, zwar fortschrittlich neue Freiheitsentfaltungen der Menschheit ergeben, jedoch diese gleichzeitig nicht absoluten oder universellen Charakter besitzen. Vielmehr kommen mit jedem Fortschritt auch gleichzeitig neue Restriktionen und Abhängigkeiten mit sich. Jede Neuerung besitzt also das Potential sich zwar von veralteten Abhängigkeiten zu lösen, doch gehen notwendiger Weise mit dem Neuen auch neue Restriktionen einher.[42] So erscheint der Gewinn an Freiheit durch das ständige Fortschreiten des Menschen in der Weltgeschichte illusionär zu sein, zumal die biologischen Dispositionen, sowie auch die kulturellen Aspekte immer gleichzeitig ein Abhängigkeitsverhältnis darstellen.[43]
Dies bedeutet zwar nicht, dass das menschliche Agieren bereits von vornherein streng determiniert ist, jedoch dass sich ein Möglichkeitsraum, eine Kanalisierung von Handlungsentscheidungen bildet, die als Abhängigkeit, gewissermaßen als Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten gesehen werden kann.[44]
Als mythologischer Archetypus des fortschrittlichen Menschen, wird des öfteren die Metapher der prometheischen Menschheit verwendet: Die Gestalt des Prometheus kann als mythologische Metapher verwendet werden, die dem Menschen die technè (τέχνη) brachte . Man möchte in diesem Zusammenhang meinen, dass gerade die technè eine Kompensation der menschlichen Mängel darstelle. Die Technik ist somit ein Versuch der Überschreitung des defizitären Charakters des Menschen.[45] Gewissermaßen kann die „Büchse der Pandora“ im Anschluss an Cioran und Anders metaphorisch als die fatale Ursache weiterer Übel angesehen werden, die der Fortschritt notwendiger Weise mit jeder neuen Errungenschaft mit sich bringt. Prometheus stellt somit eine bildliche Bedrohung eines utopischen Fortschrittsoptimismus im Machthorizont der technisierten Menschheit dar. Dies impliziert notwendiger Weise ein nicht delegierbares Verantwortungsbewusstsein hinsichtlich des menschlichen Technikverständnisses, bzw. einen reflektierten Umgang mit Technologien. Das Übel des Menschen liege demnach schlussendlich alleine in der Hand des Menschen. Dazu schreibt Hans Jonas in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“: „Die dem Menschenglück zugedachte Unterwerfung der Natur hat im Übermaß ihres Erfolges, der sich nun auch auf die Natur des Menschen selbst erstreckt, zur größten Herausforderung geführt, die je dem menschlichen Sein aus eigenem Tun erwachsen ist.“[46]
Es ergibt sich daraus die Frage, inwieweit Fortschritt automatisch die Steigerung des von Jonas genannten „Menschenglücks“ impliziere. Nach den vorhergehenden Betrachtung lässt sich Fortschritt zwar potentiell, aber pragmatisch nicht unbedingt notwendig, mit der Idee des Menschenglücks, oder der generellen Steigerung der Lebensqualität vereinbaren. So wäre es leichtsinnig zu glauben, dass der kulturelle Fortschritt auf alle menschlichen Probleme eine Lösung hätte. Bereits im 17. Jahrhundert bemängelte Francis Bacon, dass die Wissenschaften, die Maßgeblich am Fortschritt des Menschen beteiligt sind und diesen Prozess vorantreiben, nur wenig dazu beigesteuert hätten, die Lebensqualität und somit „die Lage der Menschheit zu verbessern“.[47]
Cioran war in radikaler Weise genau dieser Ansicht, dass der menschliche Fortschritt schlussendlich mit dessen Katastrophe gleichkäme:[48] Dazu schreibt er: „Technologischer Fortschritt generiert seit jeher Waffen als auch Medikamente und ganz allgemein die Voraussetzung zu mehr Lebensqualität. Die Rechnung geht spätestens dann nicht auf, wenn Menschen dank Technologie überflüssig und selektiert werden, wenn Hochbegabte dank des medizinischen Fortschritts nur noch eine ökonomische Last darstellen: kapitalistischer Darwinismus. Die Vision einer pazifizierten Welt widerspricht aller historischer Erfahrung, und die Stärksten werden überlegen, wenn der Planet überbevölkert genug sein wird.“[49]
[...]
[1] Emil Cioran, Auf den Gipfeln der Verzweiflung, Suhrkamp Verlag (1989), S. 86.
[2] Vgl.: Steffen Dix, Heteronomie und Neopaganismus bei Fernando Pessoa,Verlag Königshausen & Neumann GmbH (2005).
[3] Leo Löwenthal, Literatur und Gesellschaft, Das Buch in der Massenkultur, Neuwied-Berlin (1964), S.19.
[4] Alexander Demandt, in Merkur: Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 8/9, August/September 2007: Dekadenz als Mythos, Modell und Metapher, S. 713.
[5] Richard Schwaderer: Candide, ou l'optimiste, in: Volpi, Franco und Julian Nida-Rümelin, Lexikon der philosophischen Werke, 1988, S. 61f.
Anm.: Die Satire „Candide“ von Voltaire wendet sich unter anderem gegen die optimistische Weltanschauung von G.W. Leibniz, der die beste aller möglichen Welten postulierte.
[6] Hrsg. von Hans Jörg Sandkühler, „Kulturpessimismus“ in Enzyklopädie Philosophie (1999) , Band 1, A-N, S. 1095.
[7] Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr: Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, München 1986, Vorwort zur englischen Taschenbuchausgabe von 1974.
[8] Ebd. S.10.
[9] Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, Fischer Verlag (2006), S. 181.
[10] Vgl..: Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien: Passagen 1999; orig.: La Condition postmoderne: Rapport sur le savoir, Paris 1979: Er erklärt die großen philosophischen Systeme der Moderne für gescheitert. („Das Ende der großen Erzählungen“).
[11] Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, Suhrkamp Verlag (1995), S. 37.
[12] Vgl.: Wolf Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, Suhrkamp Verlag (1998), Kapitel II: Melancholie und Ordnung.
[13] Hrsg. von Hans Jörg Sandkühler, „Kulturpessimismus“ in Enzyklopädie Philosophie (1999) , Band 1, A-N, S. 1093.
[14] Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, Fischer Verlag (2006), S. 78.
[15] Ebd.
[16] Aleida Assmann, Einführung in die Kulturwissenschaft – Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, Schmidt Verlag (2006), S. 28.
[17] Anm.: Gerhard Vollmer verwendete diesen Begriff nahezu analog in seinen Abhandlungen zur evolutionären Erkenntnistheorie.
[18] Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, Fischer Verlag (2006), S. 139.
[19] Arnold Gehlen, Anthropologische Forschung, Rowohlt Verlag (1963), S. 35.
[20] Vgl.: Karl Eibl, Kultur als Zwischenwelt: Eine evolutionsbiologische Perspektive, Suhrkamp Verlag (2009).
[21] Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes: Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Albatros Verlag (2007, Erstausgabe 1923), S. 3.
[22] Ebd. S. 28.
[23] Emil Cioran, E. M. Cioran, Werke: Lehre vom Zerfall, Suhrkamp Quarto (2008), S.806.
[24] Theodor Adorno verteidigte Spenglers Geschichtsphilosophie gegen die tendenziöse und zum Teil auch bewusst diffamierende Kritik der Nachkriegszeit. Diese sei zu einfach und affirmativ: „ Spengler zählt zu jenen Theoretikern der extremen Reaktion, deren Kritik des Liberalismus der progressiven sich in vielen Stücken überlegen zeigte.“
[25] Konrad Lorenz, Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, Piper Verlag (1972), S. 11.
[26] Emil Cioran, E. M. Cioran, Werke: Gedankendämmerung, Suhrkamp Quarto (2008), S.500.
[27] Anm.: Nähere Details dazu gibt das Kapitel über die Konsequenzen des Geborenseins.
[28] Baruch de Spinoza, Philosophische Bibliothek, Bd. 92, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, Meiner Verlag (1999), Teil 3: Von dem Ursprunge und der Natur der Effekte, Vorwort.
[29] Fernando Pessoa, Ein anarchistischer Bankier, Fischer Verlag (1990), S. 14.
[30] Emil Cioran, E. M. Cioran, Werke: Dasein als Versuchung, Suhrkamp Quarto (2008), S.975.
[31] Michael Pauen, Zur Hölle verzaubert: Pessimismus zwischen Rhetorik und Radikalkritik in Entzauberte Zeit, Der melancholische Geist der Moderne, Hrsg. von Ludwig Heidbrink, München (1997), S 255.
[32] Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, Bd. 1, C.H. Beck Verlag (2002, erschienen 1986) S. 2.
[33] Anm.: Marx verwendete den Begriff der Entfremdung hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse, einen breiteren Blick auf den Begriff wirft hingegen Rahel Jaeggi, Entfremdung: Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Campus Verlag (2005).
[34] Anm.: Die Multiplikation als Rechenmethode stellt auch ein artifizielles Artefakt und somit eine Technik dar.
[35] Dem Menschen fehlt zum Bsp eine biologische Ausstattung zum Fliegen. Anstelle von „Flugorganen“, besitzt er die Fähigkeit artifizielle Flugsysteme, also Flugzeuge zu konstruieren, die den biologischen Defizit kompensieren.
[36] Emil Cioran, Vom Nachteil geboren zu sein, Frankfurt a. M. , S.108.
[37] Anm.: Gemeint ist hierbei natürlich die atomare Bedrohung durch die Atombombe.
[38] Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, Bd. 1:Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit, C.H. Beck Verlag (2002, erschienen 1986) S. 235 - S. 243.
[39] Emil Cioran, Vom Nachteil geboren zu sein, Frankfurt a. M. , S.116.
[40] Ebd. S.102.
[41] Anm.: Oft ist sogar von einem exponentiellen Wachstum die Rede: Bsp.: Raymond Kurzweil in Homo S@piens: „Law of Accelerating Returns“: Demnach geht Fortschritt mit dem Zunehmen der Qualität, als auch der Quantität technischer Errungenschaften, unter die nicht nur Erfindungen, sondern auch Wissen gezählt wird, einher.
[42] Bsp.: Als Beispiel dienen hierbei die Grundrechte / Freiheitsprinzipien der Verfassung demokratischer Staaten (Pressefreiheit, Meinungsfreiheit ect.), die Häufig im Bezug auf die historische, menschliche Freiheitsentfaltung genannt werden. Doch mit dem Aufkommen dieses neuen Freiheitspathos geht das Prinzip des Gesetzesvorbehalts, das Grundrechte des Menschen wiederum einschränkt, einher.
[43] Vgl.: Emil Cioran, E. M. Cioran, Werke: Lehre vom Zerfall, Suhrkamp Quarto (2008), S. 741: „Doppelgesichtige Freiheit“
[44] Vgl.: Emil Cioran, E. M. Cioran, Werke: Vom Nachteil, Geboren zu sein, Suhrkamp Quarto (2008), S.1580:
„Der Mensch wird – das will Hegel uns glauben machen – erst dann ganz frei sein, wenn er sich mit einer völlig von ihm selber geschaffenen Welt umgibt. Genau das hat er getan , und nie war er so angekettet, so versklavt wie jetzt.“
[45] Bsp.: Der Mensch besitzt keine natürliche Fähigkeit zu fliegen, dennoch überschreitet er mithilfe der Technik seine naturbedingte Unfähigkeit und kann mittels Flugzeugen fliegen.
[46] Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation , Suhrkamp Verlag (3.Aufl. 2003), S.7.
[47] Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, Suhrkamp Taschenbuch (1995), S.116.
[48] Vgl.: Bernd Mattheus, Cioran: Portrait eines radikalen Skeptikers, Berlin (2007), S.249.
[49] Ebd.
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