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Mehr InfosBachelorarbeit, 2010, 44 Seiten
Bachelorarbeit
1,3
Im folgenden Abschnitt soll die Genese des Epiphaniebegriffs skizziert werden. Dabei wird auch auf die Epiphanie als religiöses Erlebnismuster eingegangen, bevor beispielhaft Epiphanien bei Hugo von Hofmannsthal, Marcel Proust und James Joyce untersucht werden. Ziel ist es, gegen Ende dieses Abschnitts Kriterien literarischer Epiphanien der Moderne erarbeitet zu haben, anhand derer Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Epiphanie-Konzeption Genazinos beispielhaft untersucht werden können.
In der hellenistischen Zeit bezeichnete der Begriff ‚Epiphanias‘ die Erscheinung, Offenbarung oder das Sichtbarwerden eines Gottes z.B. in Notsituationen eines Menschen, der dann plötzlich der rettenden Gegenwart der Gottheit gewahr wurde: „Die Epiphanie beinhaltet somit zunächst das rettende Eingreifen einer Gottheit zugunsten des Menschen und sie stellt dadurch eine Verbindung zwischen sinnlich wahrnehmbarer Wirklichkeit und transzendenter Welt her.“[1] Charakteristisch für das Epiphanie-Erlebnis war bereits zu dieser Zeit das Merkmal der Unwillkürlichkeit: Der Mensch war nicht in der Lage, die Epiphanie bewusst herbeizuführen; die Offenbarungen kamen unerwartet und waren der Regel nach von kurzer Dauer. Ein weiteres wichtiges begleitendes Merkmal, das schon in der Wortwurzel[2] enthalten ist, war das des Lichts und der Lichtmetaphorik.
Die Merkmale des zufälligen und unerwarteten Auftretens, der kurzen Dauer und der Lichtmetapher schlugen sich auch in der Epiphanie als religiösem Erlebnismuster in der christlichen Überlieferung nieder. Paradigmatisch für solch christliche Epiphanien ist die Offenbarung Gottes im brennenden Dornbusch vor Mose. Gott zeigt sich Moses in einem Feuer, das den Dornbusch nicht verzehrt und offenbart ihm, dass er das Volk Israel aus der Knechtschaft durch die Ägypter befreien wird.[3] In diesem Beispiel sind das plötzliche Aufscheinen der göttlichen Herrlichkeit in etwas Nicht-göttlichem (dem Dornbusch), die kurze Dauer der Anschauung, die Lichtmetaphorik und der Offenbarungscharakter (die Ankündigung der Befreiung aus Ägypten) vorhanden. Ein weiteres Beispiel findet sich in Matthäus 14, 22-33, in dem die Jünger Jesus über das Wasser laufen sehen und sich im Anschluss daran sicher sind, er sei Gottes Sohn. In beiden Beispielen wird die bereits oben erwähnte Verbindung von sinnlich Wahrnehmbarem und der transzendenten Welt deutlich. Zaiser macht dazu folgende Bemerkung: „Diese Epiphanien, die das Erscheinen Christi in der Welt der Menschen zum Ausdruck bringen, werden vorwiegend mit den Verben der Bewegung und des Sehens geschildert.“[4] Diese Beobachtung ist im Hinblick auf die Epiphanien von Genazinos Figuren, auf die später einzugehen ist, interessant, da hier ebenfalls Bewegung und visuelle Wahrnehmung von entscheidender Bedeutung für die Epiphanie-Erlebnisse sind.
Festzuhalten bleiben für die Epiphanie als religiöses Erlebnismuster demnach die sinnliche Wahrnehmung, die kurze Dauer und das plötzliche Auftreten, das vom Subjekt willentlich nicht beeinflusst werden können, eine (fakultative) Lichtmetaphorik, der Erkenntnisgewinn des erlebenden Subjekts im Zuge des Epiphanie-Erlebnisses und die hier selbstverständlich zu jeder Zeit sakrale Bedeutung und Ausdeutung der Epiphanien.
In diesem Abschnitt soll nun auf Epiphanien und Epiphanie-Konzepte bei Schriftstellern der Moderne eingegangen werden. Erster Gegenstand der Betrachtung soll der Chandos-Brief des österreichischen Schriftstellers Hugo von Hofmannsthal sein, in dem, so die These[5], epiphanieartige Erlebnisse geschildert werden. In dem Brief des fiktiven Philipp Lord Chandos an Francis Bacon formuliert Hofmannsthal zentrale Themen der Moderne wie die Sprachkrise und die Suche nach neuen Formen des Ausdrucks. Er schildert Bacon sein Unvermögen, sich zu einfachsten Dingen zu äußern oder sie sprachlich zu ordnen, bei gleichzeitigem Wunsch „[…] ins Innere der Dinge zu dringen.“[6] Eine Beruhigung seines Unbehagens erfahre er ausschließlich in bestimmten Augenblickserlebnissen, in denen die einfachsten Gegenstände Glücksmomente erzeugten oder Offenbarungscharakter annähmen:
„Eine Gießkanne, eine auf dem Felde verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, all dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgend einem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen.“[7]
Epiphanieartig erscheinen diese Schilderungen aufgrund der Parallelität zu den sinnlich wahrgenommenen Erlebnissen aus der antiken und christlichen Tradition, ihrer ausdrücklichen Klassifizierung als Offenbarung, die im Subjekt tiefe Empfindungen auslöst und unwillkürlich auf es einzuwirken scheint. Neu ist zum einen die Profanisierung – Offenbarungscharakter hat kein göttliches Wesen mehr, sondern banale profane Gegenstände – des Erlebnisses und zum anderen die Betonung gewonnener Empfindungen[8], die sprachlich aber wiederum nicht in Worte zu fassen sind. Die Sprachkrise, so Lord Chandos, bleibt bestehen.
Folgt man der These, dass es sich bei den geschilderten Erfahrungen um epiphanieartige Erlebnisse handelt, so käme als neues Charakteristikum hinzu, dass Gegenstand oder Auslöser dieser Epiphanien nicht mehr ausschließlich etwas Sakrales sein muss, sondern auch profane Dinge des alltäglichen Lebens zum Ausgangspunkt derartiger Offenbarungserlebnisse werden können.
Weitere Beispiele für Epiphanien in der literarischen Moderne finden sich im sieben Bände umfassenden Werk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust. In diesem Werk berichtet ein Ich-Erzähler aus dem Pariser Bürgertum von seinem Leben, seinem Wunsch, Schriftsteller zu werden und den Vorgängen des Erinnerns. Mit der Vergangenheit verbinden sich für den Ich-Erzähler glückliche Momente, derer er sich jedoch nicht willentlich zu erinnern vermag. Dieser Form von Erinnerung wird er nur in sogenannten „mémoire involontaire“-Erlebnissen habhaft. Einer der berühmtesten Momente dieser Art ist die Madeleine-Episode, anhand derer nun die Charakteristika der Epiphanie verdeutlicht werden sollen.
An einem kalten Wintertag in Combray, einem Ort, an dem der Ich-Erzähler vor allem in seiner Kindheit viel Zeit verbrachte, nimmt er auf Anraten seiner Mutter entgegen seiner Gewohnheiten eine Tasse Tee und ein Gebäckstück – Madeleine genannt – zu sich. Der gustative Sinneseindruck löst im Ich-Erzähler eine Reminiszenz von Offenbarungscharakter aus:
„In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. […] Ich hatte aufgehört mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen.“[9]
In dem Moment, in dem die Sinne des Ich-Erzählers in Kontakt mit dem Gebäckstück kommen, wird er einer berauschenden Empfindung inne. Er vermutet eine besondere Wahrheit, die sich ihm offenbaren könnte, kann jedoch das berauschende Gefühl durch erneutes Kosten der Madeleines nicht erneut herbeiführen: „Es ist ganz offenbar, daß die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm ist, sondern in mir.“[10] Der Ich-Erzähler kostet wieder und wieder, um des beglückenden Gefühls und der Wahrheit, die er dahinter vermutet, habhaft zu werden, doch erst, als er schon bereit ist, aufzugeben, stellt sich eine Reminiszenz ein:
„Und dann mit einem Male war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tage vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging) sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte.“[11]
Die Charakteristika des Epiphanie-Erlebnisses sind in dieser Madeleine-Episode ebenfalls vorhanden: Die Unerwartetheit des Augenblicks, das berauschende Moment einer Offenbarung – hier Empfindung -, das durch einen Sinneseindruck entsteht, die Unwillkürlichkeit (die Episode lässt sich willentlich nicht noch einmal durchleben), die kurze Dauer und die intuitive Erkenntnis. Anders als in der christlichen Tradition oder bei Hofmannsthal besteht die Offenbarung oder Erkenntnis hier nicht im Gewahrwerden einer gegenwärtigen oder zukünftigen Wahrheit, sondern in der Reminiszenz, die dem Ich-Erzähler zuteilwird. Was in der Madeleine-Episode im Vergleich zu den vorangegangenen Beispielen neu ist, ist die bewusste Versenkung des Ich-Erzählers in die Situation und seine Empfindung:
„Die sinnliche Gesamtheit des erinnerten Augenblicks ist nicht immer unmittelbar mitgegeben, sie äußert sich bisweilen zunächst nur als intensives, aber unbestimmtes Glücksgefühl und bedarf zu ihrer vollen, deutlichen Entfaltung einer – nur in Einsamkeit möglichen – Versenkung des Subjekts in sich selbst, weshalb sie sich manchmal erst mit einer gewissen Verspätung realisiert […]; doch einmal erreicht, ist sie von solcher halluzinatorischer Präsenz, daß der vergangene Erlebnisraum den gegenwärtigen momentan völlig zu überlagern scheint.“[12]
Bemerkenswert ist auch die Bedeutung, die dem Epiphanie auslösenden Objekt beigemessen wird. Der Ich-Erzähler scheint in den Objekten eine Art externen Erinnerungsspeicher zu sehen, auf den er mit seinen Sinnen zugreifen kann, wenn er in Kontakt mit dem entsprechenden Objekt kommt:
„Aber wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermeßliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen.“[13]
Die Epiphanien des Ich-Erzählers ziehen sich durch das gesamte Werk und gewinnen vor allem gegen Ende noch textproduktiven Charakter, da sie den gealterten Ich-Erzähler dazu anregen, nun doch noch ein Buch zu schreiben, ein Buch seiner Erinnerungen. Interessant ist, dass auch hier eine „mémoire involontaire“ den Ich-Erzähler daran erinnert, dass er ja ein Kunstwerk habe schaffen wollen. In einer Bibliothek fällt sein Blick auf den Roman „François le Champi“ von George Sand und er erinnert sich, dass er diesen Roman früher einmal sehr gern gelesen hatte. An dieser Stelle hat eine diesmal visuell evozierte Erinnerung textproduktiven Charakter.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Prousts „mémoire involontaire“ als Epiphanie-Erlebnis klassifizieren lässt und dass die Merkmale der Erinnerung sowie die starke Betonung des auslösenden Moments durch Objekte als neue Charakteristika hinzukommen. Da die Objekte Erinnerungen und Empfindungen auslösen, die letztendlich einen ästhetischen Wert haben, kann man mit Zaiser auch sagen, dass den Objekten selbst ein poetischer Wert zukommt: „Die „mémoire involontaire“-Erlebnisse sowie die kurzen intensiven Eindrücke, die ihm die Gegenstände manchmal spontan vermitteln, haben ihm das Ziel vorgegeben. Sie haben ihm das poetische Potential der Dinge offenbart.“[14] Das poetische Potential der Dinge wird auch in den Untersuchungen zu Genazinos Prosa eine wichtige Rolle spielen.
Die Epiphanie als literarische Figur spielt im Werk des irischen Schriftstellers James Joyce eine wichtige Rolle. Joyce beginnt früh damit, Gesprächsskizzen, von ihm beobachtete Szenen, Erinnerungen und Träume, aus denen sich für ihn Erkenntnismomente ergeben (haben) unter dem Titel Epiphanies zu sammeln, von denen er später etliche in seine Romane einfließen lässt. In Stephen der Held lässt Joyce seinen jungen Protagonisten Stephen Dedalus von einer ähnlichen Sammlung sprechen und gibt eine kurze Definition davon, was er unter Epiphanien versteht:
„Unter einer Epiphanie verstand er eine jähe geistige Manifestation, entweder in der Vulgarität von Rede oder Geste, oder in einer denkwürdigen Phase des Geistes selber. Er glaubte, daß es Aufgabe des Schriftstellers sei, diese Epiphanien mit äußerster Sorgfalt aufzuzeichnen, da sie selbst die zerbrechlichsten und flüchtigsten aller Momente seien.“[15]
Bevor an dieser Stelle von der von Stephen in Aussicht gestellten Epiphanie der Uhr am Ballast Office zu sprechen sein wird, erscheint es meines Erachtens angemessen, kurz auf die Ästhetiktheorie des Thomas von Aquin einzugehen, die für Stephen ebenso von großer Bedeutung ist[16].
Thomas von Aquin entwickelt in seiner Summa theologica eine Theorie der Wahrnehmung, d.h. eine Theorie, mit Hilfe derer der Mensch sich Objekte erschließen kann. Diese Theorie kann aufgeschlüsselt werden in drei Stufen, die mit den drei Qualitäten der Schönheit nach Thomas korrespondieren: Ganzheit oder Vollständigkeit (integritas), Symmetrie (consonantia) und Ausstrahlung (claritas). Mithilfe dieser Begriffe erklärt der junge Stephen seinem Begleiter Cranly, weshalb die Uhr am Ballast Office einer Epiphanie fähig sei. Zunächst nehme er die Uhr als ein integrales, von allen anderen Dingen zu unterscheidendes Ding wahr. Dann untersuche er sie im Geist als Ganzes und in ihren Teilen – kurz: ihre Form – um sie als symmetrisches Ding wahrzunehmen. Zuletzt erkenne er die Wesenheit der Uhr:
„Dies ist der Moment, den ich Epiphanie nenne. Zunächst erkennen wir, daß der Gegenstand ein integrales Ding ist, dann erkennen wir, daß er eine organisierte zusammengesetzte Struktur ist, faktisch ein Ding: schließlich, wenn die Teile auf den einen fixen Punkt eingestellt sind, erkennen wir, daß er das Ding ist, welches er ist. Seine Seele, seine Washeit, springt uns an aus dem Gewand seiner Erscheinung. Die Seele des gewöhnlichsten Gegenstands, dessen Struktur sich durch diese Blickeinstellung zeigt, scheint uns zu strahlen. Der Gegenstand vollbringt seine Epiphanie.“[17]
Da Stephen das Moment der Epiphanie eindeutig an die dritte Stufe koppelt, erscheinen die beiden vorangegangenen Schritte eher als Vorbedingungen denn als integrale Bestandteile der eigentlichen Epiphanie. So merkt auch Theodore Ziolkowski an,
„[…] daß die eigentliche Epiphanie ein Augenblick der Erkenntnis ist, der sich nur mit dem dritten Moment Thomas von Aquins deckt. […] Die beiden ersten Eigenschaften (integritas und consonantia) sind hingegen die notwendigen Voraussetzungen zum Augenblick der Epiphanie.“[18]
Interessant ist hier abermals die Betonung der sinnlichen Wahrnehmung des Objekts, welche die Epiphanie erst ermöglicht. So beschreibt Stephen vor seiner Erläuterung der Theorie von Thomas seine sinnliche Wahrnehmung der Uhr:
„Ich gehe ein ums andre Mal an ihr vorüber, spiele auf sie an, berufe mich auf sie, blicke flüchtig zu ihr hoch. […] Stell dir meine flüchtigen Blicke auf diese Uhr als das Getaste eines geistigen Auges vor, das seine Vision auf einen ganz bestimmten Brennpunkt einzustellen versucht. In dem Moment, in dem der Brennpunkt da ist, ist das Objekt epiphaniert.“[19]
Offenbar ist auch hier eine Versenkung in den Augenblick oder besser – in das Objekt – notwendig, um zu einer Erkenntnis über sein Wesen zu gelangen. Bevor zusammenfassend noch einmal Merkmale der Epiphanie bei Joyce betrachtet werden, soll auf ein Epiphanie-Erlebnis bei Joyce eingegangen werden, das ebenfalls die Bedeutung der vom Epiphanie-Erlebnis ausgelösten Empfindung verdeutlicht.
In Ein Porträt des Künstlers als junger Mann beschreibt Joyce die Begegnung des jungen Stephen Dedalus mit einem Mädchen am Strand. Stephen, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, das Leben auszukosten und einer künstlerischen Tätigkeit fern der Reglements von Familie und Kirche nachzugehen, und der Überlegung, doch das Priesteramt auszuüben, sieht während eines Strandspaziergangs ein junges Mädchen. Hingerissen von ihrer Schönheit betrachtet Stephen sie eine ganze Weile und auch sie nimmt ihn wahr, bevor sie beginnt, im Wasser zu waten. Das Erlebnis löst in Stephen berauschende ganzkörperliche Empfindungen hervor:
„Himmlischer Gott! schrie Stephens Seele in einem Ausbruch profaner Freude. Er wandte sich plötzlich von ihr weg und zog los über den Strand. Ihm flammten die Wangen; glühte der Körper; zitterten die Glieder. Weiter und weiter und weiter streifte er, weit hinaus über den Sand, und sang wild dem Leben zu, das ihn gerufen hatte. Ihr Bild war in seine Seele gedrungen, für immer, und kein Wort hatte das heilige Schweigen seiner Ekstase gebrochen. Ihre Augen hatten ihn gerufen und seine Seele war bei dem Anruf gehüpft. Lieben, irren, fallen, triumphieren, Leben aus Leben neu erschaffen! Ein wilder Engel war ihm erschienen, der Engel sterblicher Jugend und Schönheit, ein Gesandter von den lieblichen Residenzen des Lebens, um vor ihm in einem Augenblick der Ekstase die Tore zu allen Straßen des Irrtums und der Herrlichkeit aufzureißen. Weiter und weiter und weiter und weiter!“[20]
Im Zuge dieses im wahrsten Sinne des Wortes ekstatischen Erlebnisses kommt Stephen zu der Erkenntnis, dass er das Leben genießen soll, wie es sich ihm darbietet und so sagt er sich mehr und mehr von Familie und Kirche los und beschließt schlussendlich, Schriftsteller zu werden. Ähnlich wie bei Proust begünstigen die Epiphanien das künstlerische Wirken der Subjekte, oder wie Müller über die Epiphanie sagt: „[…] als Auslöser einer Empfindung erfüllt sie eine ästhetische Funktion.“[21]
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich auch bei Joyce die bereits erarbeiteten Charakteristika der Epiphanie finden lassen. Das Epiphanie-Erlebnis hat Offenbarungscharakter, ist wesentlich verbunden mit Erkenntnisgewinn, das unerwartete Auftreten (wie im Fall des Mädchens am Strand) ist gegeben, die Betonung von ausgelösten Empfindungen und ihrer Bedeutung für den Erkenntnisvorgang ist vorhanden, das poetische Potenzial der Epiphanien und epiphanisierten Objekte wird deutlich. Wie bei Proust sind die Epiphanien ebenfalls im Alltag verortet. Neu ist, dass das Subjekt sich offenbar ganz bewusst in ein Objekt versenken kann, um seine Epiphanie zu erleben (das Beispiel der Uhr am Ballast Office). Neu erscheint auch die Betonung des Werts des Subjekts, ohne dass das Objekt ja seine Epiphanie gar nicht vollziehen kann. Irmgard Hunt sieht diese Aufwertung des Subjekts ebenfalls realisiert in der
„Formulierung des manifesten, erkannten Augenblicks und der Verschränkung von Subjekt und Objekt. […] Nicht mehr nur Mitspracherecht des Subjekts am zu beschreibenden Objekt, sondern allumfassende Wichtigkeit des Subjekts, gemessen am Objekt, das eben nur noch diesem Meßzweck dient.“[22]
Ziolkowski verweist auf einen weiteren Unterschied zur religiös fundierten Epiphanie und betont, dass bei Joyce vor allem bei den Epiphanien, die fokussiert sind auf einen Gegenstand, eine Gebundenheit des Erkenntnisgewinns an das epiphanisierte Objekt zu beachten ist:
„Die Epiphanie läßt sich […] gegenüber der allgemeinen Offenbarung durch das erste Moment abgrenzen, weil sie nur das Wesen des bestimmten Gegenstandes offenbart, und nicht etwa eine höheren Macht, einen philosophischen Zusammenhang, oder einen wesentlichen Archetyp.“[23]
Bemerkenswert ist im Hinblick auf den ursprünglichen Epiphaniebegriff, wie in Absatz 2.1 beschrieben, also die zunehmende Profanisierung der Epiphanie-Erlebnisse, die Betonung des auslösenden und erkenntnisfördernden Aspekts der Objekte und die Aufwertung des Subjekts.
Im nun folgenden Hauptteil der Arbeit soll die Prosa Wilhelm Genazinos im Fokus stehen. In einem ersten Schritt wird die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung (als Voraussetzung) für Genazinos Epiphanien untersucht, um anschließend auf unterschiedliche Aspekte der Epiphanien in Genazinos Arbeiten einzugehen.
Zunächst soll hier die Bedeutung des kindlichen Sehens, wie Genazino es auffasst, für die Beobachtungstechnik seiner Protagonisten herausgestellt werden, um anschließend den Beobachtungsraum Großstadt und die Bedeutung des Spazierengehens zu untersuchen.
Maurice Merleau-Ponty formuliert in seinem Essay Das Auge und der Geist: „Sehen ist Habhaftwerden auf Entfernung“[24] und weist dem Sehen damit eindeutig Aneignungscharakter zu. Offen lässt er für den Augenblick, was sich mit dem Akt des Sehens aneignen lässt. Wilhelm Genazino misst der visuellen Wahrnehmung ebenfalls große Bedeutung bei. Die für das Epiphanie-Erlebnis so wichtige Sinneserfahrung ist bei ihm wesentlich an eine bestimmte Art der visuellen Wahrnehmung gekoppelt, die im Folgenden erläutert werden soll.[25] In seinem Essay Der gedehnte Blick geht Genazino von einem Primat des Sehens vor der Sprache aus und erläutert seine These anhand seiner Beobachtungen des kindlichen Sehens. Kinder, so Genazino, verbringen einen Großteil vor allem ihrer frühesten Kindheit damit, ihren Blick durch eine Umgebung streifen zu lassen, die sie (noch) nicht verstehen: „Das Sehen des Kindes ist ein Sehen in nicht erklärte Räume.“[26] Man könne Kinder gerade deshalb oft dabei beobachten, wie sie vollkommen still auf einem Platz sitzen und staunend ein ihnen noch unbekanntes Objekt oder Geschehen betrachten und dabei völlig entrückt erscheinen, weil sie ihre ganze Konzentration auf das beobachtete Objekt gerichtet haben: „Das Kind hat seine Physis vorübergehend dazu konditioniert, alle weiteren Körperausdrücke zu unterlassen, weil sie das Sehen stören würden. Wir beobachten an Kindern zum erstenmal das, was wir den gedehnten Blick nennen können.“[27] Hinter dem sogenannten gedehnten Blick verbirgt sich bei Genazino eine – vor allem beim Erwachsenen – bewusste Versenkung in den betrachteten Gegenstand. Der gedehnte Blick ist ein besonders fokussierter, aussondernder Blick. Mithilfe dieses gedehnten Blicks brächten Kinder eine „private Weltblickgeschichte“[28] hervor, zu der sie immer öfter Ideen und Gedanken entwickelten, die sie irgendwann mitteilen wollten und dann, so Genazino, begännen zu sprechen.[29]
Ein grundsätzliches Problem der kindlichen wie späteren Wahrnehmung des Erwachsenen sei allerdings, dass man von den (gesehen) Dingen in der Regel oft nur Anfänge oder Teile erfassen und verstehen könne. Dieses Problem könne auch der gedehnte Blick nicht lösen und das Kind bliebe lange in einer aus dieser Problematik resultierenden Perplexion verhaftet, was aber nicht tragisch sei:
„Perplex ist ein Wort aus dem Lateinischen, es meint: verdutzt sein, überrumpelt sein, sprachlos sein – aus Verdutztheit. Diese drei Eigenschaften (verdutzt, überrumpelt, sprachlos) sind es, die im gedehnten Blick einen Unterschlupf finden. Wir sehen etwas, was wir nicht mit der gewünschten Klarheit und Eindeutigkeit verstehen, daß heißt einordnen, hinnehmen und gelten lassen können, und sind deswegen perplex, das heißt verdutzt, überrumpelt, sprachlos.“[30]
Man begegne diesem früh erfahrenen Dilemma irgendwann mehr oder weniger bewusst damit, dass man mit diesen wahrgenommenen (Bild-)Anfängen zu experimentieren beginne. Dieser kreativ-assoziative Umgang mit den gesehenen Bruchstücken erscheint bei Genazino gar als eine logische Konsequenz:
„Der laufende Auseinander- und Wiederzusammenbau der Bilder ist unsere Technik, mit dem Problem fertig zu werden, daß auch der gedehnteste Blick nicht alles zugleich und nicht alles sofort sehen kann. Die unvermeidlichen Bild-Rückstände führen uns beinahe von selbst in eine Ästhetik der Nachhaltigkeit hinein, von der wir rasch merken, daß sie uns nie in eine Leere schauen läßt. Denn von jedem Sehen halten wir etwas zurück, was in unsere je aktuelle Auslegung nicht hineingepaßt hat und was jederzeit zum Anstoß einer Neuauslegung werden kann.“[31]
So entstehen Bilder und Bilddeutungen, mit denen das Subjekt immer wieder neu zu experimentieren beginnen kann. Es kann die Ambivalenz der Zeichen und Symbole registrieren, auf jedes mögliche Nichtverstehen kreativ reagieren und mit (sich neu ergebenden) Bedeutungen spielen: „Wir haben, mit anderen Worten, aus dem defizitären Kinderblick von einst das Bedeutungstheater des Epiphanikers gemacht […].“[32] Bezüglich der Epiphanien deutet sich natürlich bereits hier ein im Vergleich zu Hofmannsthal, Proust und Joyce neuer und willkürlicherer Umgang mit Objekten und Bedeutungen an, was aber, wie später zu zeigen ist, charakteristisch ist für die Epiphanien in Genazinos Prosa. Bezüglich des o.g. Zitats von Merleau-Ponty ließe sich mit Genazino evtl. antworten: Habhaft wird man unterschiedlichster Bild- und Bedeutungsanfänge, mit denen man in einem reflexiven Akt kreativ-assoziativ umgehen kann.[33]
Das reine, voraussetzungslose Erfassen eines Objekts scheint ob der Bilderflut, mit der das Subjekt sich konfrontiert sieht, ohnehin erschwert. Konsequenz dessen sei, dass man aussondern müsse und dennoch die betrachteten Objekte in der Regel stets in Kontexten und in Bezug zu benachbarten Dingen wahrnehme, was die Erkenntnis des eigentlich betrachteten Objektes selbstverständlich beeinflusse. Ähnlich argumentiert auch der Kunstkritiker John Berger:
„Sehen heißt auch auswählen. Wir sehen nur das beziehungsweise wir nehmen nur das wahr, was wir betrachten. Diese Auswahl rückt das Gesehene in unseren Bereich. Das muß nicht notwendigerweise der Nahbereich unserer Arme sein. […] Wir sehen niemals nur eine Sache für sich, sondern nehmen vielmehr die Beziehungen zwischen den Dingen und uns wahr. Unser Blick ist ständig aktiv, ständig in Bewegung, richtet sich ständig auf Dinge um uns herum und setzt so fest, was uns jeweils gegenwärtig ist.“[34]
Eine Passage bei Genazino, die die Praxis des gedehnten Blicks und den Ablauf eines Epiphanie-Erlebnisses in seiner Prosa illustriert, ist die folgende: Eine Lehrerin beobachtet seit einiger Zeit von ihrem Fenster aus ein anderes Fenster im Hinterhof, in dem abends immer wieder das Licht an- und ausgeht. Obwohl sie nicht sehen kann, was der Grund für das Lichtspiel ist, kommt sie zum dem Schluss, es handle sich um den Hilferuf eines misshandelten Kindes oder einer misshandelten Frau. Kurze Zeit darauf richtet sich die Protagonistin mit einem Fernglas am Fenster ein, um besser sehen zu können. Nach einer Weile der Beobachtung entdeckt sie allerdings keine Gewalttätigkeiten:
„Ich sehe ein Kind, einen Jungen, etwa acht oder neun Jahre alt. Er trägt einen Schlafanzug und sitzt auf einem Stuhl mit dem Rücken zur Wand. Mit der rechten Hand betätigt er den Lichtschalter und schaut, während das Licht an- und ausgeht, aus dem Fenster. Ich verstehe, das Lichtritual ist eine Art Unterhaltung, vielleicht auch ein Trost vor dem Zubettgehen. Zugleich bildet sich der Junge ohne seinen Willen zu einem Experten der Sehnsucht aus, aber davon weiß er noch nichts.“[35]
In dieser Epiphanie wird die Praxis des gedehnten Blicks, illustrativ, auf die Spitze getrieben. Die Beobachtung durch das Fernglas erlaubt der Protagonistin eine präzise Beobachtung der Szene und ermöglicht letztendlich die Erkenntnis, dass es sich doch nicht um einen Fall von Misshandlung handelt, sondern um ein offensichtlich bloß spielendes Kind. Das Spiel interpretiert sie als Unterhaltung oder Trost, d.h. sie spielt mit möglichen Ausdeutungen der Szenerie, eine Praxis, die für Genazinos Epiphanien ebenfalls von großer Bedeutung ist.
Genazinos Protagonisten teilen einige Eigenschaften mit dem klassischen Flaneur. Wie Letzterer durchstreifen auch die Protagonisten aus Genazinos Prosa Großstädte. Sie nutzen diese Streifzüge für Beobachtungen, die sie zu oftmals philosophischen Reflexionen und Überlegungen anregen. Was Genazinos Protagonisten von klassischen Flaneuren unterscheidet, scheint mir die Attitüde zu sein, da ihnen das Zelebrieren ihrer Flaneurie und alles dandyhafte, was die klassischen Flaneure auszeichnete, fehlt. In Leise singende Frauen beschreibt der Protagonist seine Spaziergänge wie folgt: „Ich nenne diese Umhergehen manchmal auch Zotteln oder Zockeln. Diese Worte bedeuten, daß ich oft stehenbleibe oder scheinbar warte.“[36] Den Protagonisten aus Genazinos Prosa geht es nicht darum, sich in Szene zu setzen, vielmehr gehen sie recht gern in der Anonymität der Großstadt unter, um sich ihren – teilweise sehr kuriosen – Beobachtungen und Beobachtungsmethoden unbeobachtet hingeben zu können: „Es ist leicht, inmitten eines großen Gewimmels einer versteckten Beschäftigung nachzugehen.“[37]
Die Großstadt bildet für die Protagonisten Genazinos einerseits einen abstoßenden Raum – was in den Abschnitten 3.2.3 und 3.3.1 noch genauer zu zeigen sein wird –, andererseits bilden sie den Raum ihrer ungestörten Beobachtungen und Reflexionen, durch die auch die Epiphanie-Erlebnisse in der Regel erst ermöglicht werden, da die Stadt für sie gleichzeitig auch ein „enormer Verknüpfungsraum“[38] ist. Genazinos Protagonisten streunen durch die Stadt, die ja auch ihren Lebensraum darstellt, und sind auf der Suche nach Objekten, die sie beobachten, die ihre Phantasie und ihr Reflexionsvermögen anregen. Genazino selbst spricht davon, dass der Typus des Flaneurs in der postmodernen Welt ein deplatzierter sei:
„Die Figur des Flaneurs hat in der zerstückelten Stadt abgedankt und ist ersetzt worden durch einen moderneren Typus, den des Streuners. Der Streuner ist jemand, der selbst der Ungemütlichkeit noch einen Reiz abgewinnen möchte und dabei oft erfolgreich ist.“[39]
Nicht zuletzt eine Aussage von Franz Hessel in seinem Aufsatz Die Kunst spazieren zu gehen scheint die Differenz zwischen klassischem Flaneur und Genazinos Streunern zu betonen:
„Leute, die berufsmäßig beobachten, Maler und Schriftsteller, sind oft sehr störende Begleiter, weil sie ausschneiden und umrahmen, was sie sehn, oder es ausdeuten und umdeuten, auch zu plötzlich stehn bleiben, statt das Wanderbild wunschlos in sich aufzunehmen.“[40]
Gerade die Praxis der (phantasierenden) Deutung des Gesehenen wird hier verurteilt; dabei bildet aber gerade diese Praxis die Hauptbeschäftigung der Protagonisten Genazinos. Ihre Form der Betrachtung mündet nahezu immer in den Modus der Reflexion und kreativen Ausdeutung des Gesehenen. Während sie die Stadt auf der Suche nach brauchbaren Bildern und Objekten durchstreunen – in den früheren Büchern noch unter dem Vorwand z.B. eines verlorenen Kreisels,[41] später auch ohne einen solchen Vorwand – und immer wieder fündig werden vor allem in Objekten, die von den anderen Menschen meist ignoriert werden, bewegt sie immer wieder auch ein Glücksgefühl. Sei es aus purer Freude über ein neu entdecktes Beobachtungsobjekt, an dem sie sich mit ihrer Phantasie abarbeiten können, oder sei es, weil eine momentane Verstimmung des Protagonisten durch solch einen Fund und den Akt des Beobachtens gelindert wird. Insofern erscheint es gerechtfertigt, vom Straßenglück des Sehens dieser Protagonisten zu sprechen.[42]
Welche Objekte sie in diesen Stadträumen auswählen, soll im folgenden Abschnitt untersucht werden. Es muss, so lässt sich vielleicht mit Roland Barthes sagen, ein punctum[43] geben; ein Detail, dass den Protagonisten besticht, seine Aufmerksamkeit auf sich zieht, es freigibt für den gedehnten Blick und damit es auch Auslöser einer Epiphanie werden kann.
Die Epiphanien der Protagonisten Genazinos entzünden sich an Objekten, die sie ihrem alltäglichen Erleben entnehmen. Welcher Art diese Objekte sind und inwiefern sie Offenbarungscharakter für das Subjekt haben, wird im Folgenden untersucht.
Die Profanisierung der Epiphanien – wie sie schon für Hofmannsthal, Proust und Joyce konstatiert wurde – schreitet in Genazinos Prosa weiter voran. Die Objekte, die Genazinos Protagonisten interessieren und die für sie zum Auslöser einer Epiphanie werden, müssen nicht mehr – wie z.B. die Uhr am Ballast Office bei Joyce – ins Stadtbild integriert sein, sondern sie liegen oder stehen buchstäblich in der Stadt herum. So kann eine im Straßengraben liegende Handtasche sofort die Phantasie des Protagonisten entzünden:
„Sofort ist klar, was mit der Tasche geschehen ist: Ein Mann hat sie einer Frau von der Schulter gerissen und ist mit ihr entkommen. Drei Straßen weiter hat er die Tasche geleert und dann weggeworfen. Jetzt liegt sie da und zwingt den Menschen kleine Empörungen ab.“[44]
Es ist wohl anzunehmen, dass die meisten Menschen über eine im Straßengraben liegende Handtasche wohl kaum dergleichen Vermutungen anstellen bzw. diese Vermutungen als Tatsachenbehauptungen formulieren würden. Die Phantasie und Assoziationsgabe von Genazinos Protagonisten entzündet sich gerade an solch herrenlos und oft achtlos herumliegenden Objekten des alltäglichen Gebrauchs.
Das Ausdruckspotential der dinglichen Welt wird in einer Situation betont, in der der Protagonist einen Sterbenden besucht und beim Anblick des Krankenhauszimmers bemerkt, dass die dort befindlichen Dinge die Situation des Sterbens weitaus besser darstellen, als irgendjemand sonst es könnte:
„Überhaupt übernahmen die Dinge die Darstellung der Situation. Am besten wurden sie ausgedrückt von einem kleinen Tisch, der in der hinteren linken Ecke stand. Ein rosa Deckchen lag auf der Tischplatte, auf der Decke war ein Teller abgestellt und auf dem Teller lagen eine halbe Scheibe Brot und zwei oder drei Salatblätter. Die Reste sahen aus wie die Mahlzeit von jemand, der buchstäblich während des Essens weggestorben war. Dabei war in jeder Sekunde klar, dass die Dinge nur die ruhige Anschaubarkeit von etwas übernahmen, was sich von Menschen nicht betrachten ließ.“[45]
Der Protagonist entnimmt dem betrachteten Objekt eine Bedeutung hinsichtlich der Situation bzw. weist sie ihm zu. Genazino selbst merkt dazu an: „[…] die Erzähler erleben ja nicht die Dinge, sondern ihre Bedeutungen.“[46] Dieses Zitat veranschaulicht noch einmal treffend die Beziehung von Objekt und Epiphanie. Das Objekt wird wahrgenommen und ermöglicht das Erlebnis der Epiphanie: Die Entnahme einer Bedeutung bzw. die Zuweisung einer Bedeutung, da es durchaus plausibel erscheint, dass jemand anderes den Dingen im Raum eine andere oder gar keine Bedeutung zugewiesen hätte.[47]
Die Epiphanien der Prosa Genazinos teilen mit den Joyce´schen Epiphanien die Eigenschaft, dass die plötzliche Erkenntnis, „[…] das Moment der schockhaften Erleuchtung im Alltag, den Augenblick einer Eingebung, die ihren Empfänger mit einer plötzlichen Erfahrung bereichert“[48] der Beobachtung von alltäglichen Situationen entspringen kann.[49] Das neue Element bei Genazino ist das der Verknüpfung der beobachteten Szene mit einem völlig anderen Objekt, wobei ohne diese Verknüpfung die augenblickliche Erkenntnis nicht zustande kommen könnte. Der Protagonist aus Leise singende Frauen etwa beobachtet ein Kind, das sich fortwährend vor seiner Mutter in Hauseingängen versteckt, um sie dann zu erschrecken. Die Mutter simuliert Erschrockenheit, woraus der Beobachter schlussfolgert, dass sie das Kind offenbar noch nicht wissen lassen möchte, was ein wirklicher, nicht ‚verabredeter‘ Schrecken ist. Der Gedanke, dass das Kind eines Tages mit Schrecken konfrontiert werden wird, der nicht auf einem Spiel beruht, lässt den Protagonisten in seine Jackentasche fassen, um seinen Kreisel zu berühren, da ihn diese Berührung immer beruhigt hatte. In seiner Tasche findet er allerdings bloß eine alte Kinokarte mit der Aufschrift ‚Aufbewahren und auf Verlangen vorzeigen‘. In diesem Moment setzt die Erkenntnis ein:
„Seit Jahrzehnten kenne ich diesen nichtssagenden und wirklichkeitslosen Satz, seit Jahrzehnten lese ich ihn immer wieder, aber erst in diesem Augenblick elektrisiert er mich. Ich schaue auf die Mutter und das Kind, ich schaue auf den Mann, der tapsige Schritte macht, ich sehe nach meinem Kreisel, der auch hier nicht herumliegt, ich erinnere mich an das lebendige Gesicht der Eis essenden Frau, ich halte kurz meinen Scheinbrief in der Hand und bin in diesem Augenblick ganz sicher, was der Satz auf der Kinokarte bedeutet: Wir sollen uns aufbewahren und uns auf Verlangen vorzeigen.“[50]
Erst die Zusammenschau von grundsätzlich vollkommen disparaten Elementen verhilft ihm zu einer Erkenntnis über die Bedeutung des schon oft gelesenen und nicht recht verstandenen Satzes. Auslösendes Element der Epiphanie (das beobachtete Spiel von Mutter und Kind) und eigentliche Epiphanie (Erkenntnis einer Bedeutung des Satzes auf der Karte) sind also nicht direkt aufeinander bezogen, d.h. die Erkenntnis gibt keinerlei Aufschluss über das Spiel von Mutter und Kind.
Einer ähnlich starken Eingebung wird auch Weigand, der Protagonist aus Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman, inne, als er einen Vergnügungsdampfer mit fröhlichen Touristen beobachtet. Die Eingebung wird ausgelöst vom Anblick des Schiffes und der dadurch ausgelösten Überlegungen zu Gründen für seine Schönheit:
„Als das Schiff schon fast vorübergezogen war, sprang der Wunsch nach souveräner Zeitverschwendung auf mein eigenes Empfinden über. Ich hatte ein inneres Erlebnis, für das ich keine Worte hatte. Die Eingebung war stark, weil sie zum richtigen Zeitpunkt eintraf: Ich durfte mich zu meinem Leben als ein Lauschender verhalten. Ich durfte so lange in die Wirklichkeit hineinhören und hineinsehen, wie ich nur wollte.“[51]
Der junge Weigand erkennt, dass er sich vom Belauschen der Dinge Erkenntnisse erhoffen kann. Diese Dinge sind, wie die Beispiele aus Genazinos Prosa bisher gezeigt haben, alltäglich und dennoch vermögen Genazinos Protagonisten es, diesen banalen alltäglichen Dingen Empfindungen und Erkenntnisse (Epiphanie-Erlebnisse) zu entnehmen. Wichtig ist einzig und allein, dass diese Dinge in irgendeiner Form ihr Interesse anregen.[52] Die durch die Dinge ausgelösten Reflexionen, Assoziationen und Phantasien gehören zum Prozess des Epiphanie-Erlebnisses. Im Unterschied zu Joyce müssen diese aber nicht direkt auf das Ding bzw. das Wesen des Dings bezogen sein. Sie stellen wesentlich Bezüge her zu Erlebnissen aus der Vergangenheit der Protagonisten. Diese Verschmelzung von Augenblicks-Bild und Erinnerung soll im nun folgenden Abschnitt untersucht werden.
Nachdem sie in einem Restaurant zu Mittag gegessen hat, fragt sich die Protagonistin aus Die Obdachlosigkeit der Fische, weshalb sie sich beim Anblick der halbleer gegessenen Teller um sie herum plötzlich schämt. Auf dem Nachhauseweg kommt in ihr der Wunsch auf, wahllos an Haustüren zu klingeln. Dieser gegenwärtige Wunsch ruft die Erinnerung an das Klingeljagdspielen aus ihrer Kindheit hervor, welches sie immer sehr genossen hatte. Aus dieser Erinnerung zieht sie eine Erkenntnis darüber, weshalb sie auch jetzt den Wunsch verspürt, diesem Spiel nachzugehen:
„Ich wollte nur die einmalige Wiederkehr des Gefühls der Freiheit, das damals entstand, wenn die Kuppe des Zeigefingers auf der Rundung des Klingelknopfs lag. Ich hatte riesige Sehnsucht danach, Wirklichkeit niemals kennengelernt zu haben. Mein schmerzlich groteskes Verlangen hielt mich mindestens eine Minute lange fest. Und plötzlich fiel mir ein, warum ich mich mittags geschämt hatte. Schon während des Essens hatte ich die Unmöglichkeit des Wunsches gespürt.“[53]
Die plötzliche Erkenntnis setzt hier erst nach der Erinnerung an eine Episode aus der Kindheit ein, mit der die Protagonistin ein Gefühl verbindet, das ihr in der Gegenwart abhandengekommen zu sein scheint. Hinsichtlich der Epiphanie ist bemerkenswert, dass die Erkenntnis selbst zwar plötzlich einsetzt, jedoch – so legt es der Text nahe – ohne die Verknüpfung gegenwärtiger Szenen mit einer Erinnerung nicht möglich gewesen wäre. Die Epiphanie muss also keineswegs unmittelbar einsetzen. Genazino beschreibt in seinem Aufsatz Die Belebung der toten Winkel eine ähnliche Zusammenschau von Erinnerungen. Auslöser der Epiphanie ist die Betrachtung von Brötchenkrümeln in der heimischen Schublade, woraufhin Überlegungen über den eines Tages vielleicht notwendigen Brötchendiebstahl in einer nahen Bäckerei einsetzen, gefolgt von der Erinnerung an die frühe heftige Verliebtheit in ein Mädchen, das während gemeinsamer Theaterbesuche stets ein trockenes Brötchen verzehrt hatte, dessen Krümel auf dem Dekolletee des Mädchens das Begehren des Erzählers geweckt hatten. Genazino selbst kommentiert die Zusammenschau der Erinnerungen folgendermaßen: „Die Epiphanie, die mit der Überlegung des eines Tages vielleicht notwendigen Brötchendiebstahls einsetzte, verwandelte sich jetzt in eine Art szenische Expedition über die Liebe, das Begehren und den falschen Zeitpunkt.“[54] Hier zeigt sich ein Merkmal der Epiphanie, wie Genazino sie versteht, die für die Beispiele bei Joyce nicht charakteristisch sind: Die Erkenntnis über das Wesen des geschauten Objekts spielt keinerlei Rolle. Das Objekt dient ausschließlich als Auslöser einer Erinnerungskette, an deren Ende eine Erkenntnis und/oder eine Empfindung über das Erinnerte und über die gegenwärtige Situation des Protagonisten stehen kann:
„Die Epiphanie schließt Zeitphasen zusammen, die unter sogenannten normalen Umständen nicht zusammenschließbar sind. […] Damit eine Epiphanie überhaupt als menschliche Rührung fixierbar wird, muß ein Stück erinnerter Empfindung in den Gehalt der Epiphanie hineingetragen werden.“[55]
Die Assoziation von auslösendem Objekt und Vergangenheit birgt in gewisser Weise Gemeinsamkeiten mit der mémoire involontaire Prousts: Ausgelöst durch die sinnliche Wahrnehmung eines Objekts erinnert sich der Protagonist einer Episode aus seiner Vergangenheit. Während das Epiphanie-Moment bei Proust allerdings allein in der Wiedererlangung der verloren geglaubten Erinnerung liegt und das Epiphanie-Erlebnis somit abgeschlossen ist, treiben Genazinos Protagonisten die Ausdeutung der Erinnerungen weiter und setzen Empfindungen und Erkenntnisse über das Erinnerte mit der Gegenwart in Verbindung. Für Genazinos Protagonisten ist – und hier ergibt sich eine wesentliche Abweichung zu Proust – nicht einmal eine korrekte Erinnerung wesentlich. Sie betreiben mit Episoden aus Vergangenheit und Gegenwart ein Deutungsspiel, das nicht zwingend an der Realität zu messen ist. Auch erfundene Erinnerung scheint ausdrücklich erlaubt, solange sie eine Empfindung oder Erkenntnis auszulösen vermag. In diesem Tenor erteilt der Protagonist aus Das Licht brennt ein Loch in den Tag dem Pochen auf korrekte Erinnerung eines Brieffreunds eine Absage:
„Deine Vorstellung vom korrekten Erinnern ist mir zu streng. Jeder glaubt zu wissen, was in seinem Leben geschehen ist und was nicht. Ich für meinen Teil möchte, daß die innere Dauerwiederholung des Geschehenen, zu der wir uns nötigen, wenigstens ihre Einschüchterung verliert. Im Grunde habe ich mich nur von der Idee getrennt, daß eine in allen Punkten wahrheitsgetreue Erinnerung ethischer und nützlicher ist als eine umgebaute. […] Erinnerungen sind Spielzeuge, die wir uns selber bauen.“[56]
Welcher Wert dem Erinnern in Genazinos Prosa zukommt, macht auch eine Episode aus Ein Regenschirm für diesen Tag deutlich. Auf einem Streifzug durch die Stadt begegnet dem Protagonisten eine Frau, die – anscheinend etwas verwirrt – einen leeren Koffer mit sich trägt, diesen kurz öffnet, wieder schließt und verschwindet. Nach einigen Überlegungen über Koffer und ihre Unverwüstbarkeit, erinnert sich der Protagonist an ein wiederkehrendes Erlebnis mit seiner Mutter aus seiner Kindheit:
„Ein paar Sekunden später fällt mir meine Mutter ein. Als ich Kind war, ordnete sie oft gegen Mittag Handschuhe, Hut, Schal und Schirm wie zum Weggehen auf der Garderobe zurecht. Aber dann ging sie doch nicht weg. Sie setzte sich auf den Stuhl neben das Telefon und betrachtete Handtasche, Hut, Schal und Schirm. Ich kam nach einer Weile zu ihr und betrachtete mit ihr die für das Weggehen hingelegten und dann doch nicht gebrauchten Dinge. Eine halbe Minute später umarmten sich meine Mutter und ich. Wir drückten uns fest und lachten uns in die Gesichter. Ich nehme heute an, auf diese Weise bändigte meine Mutter ihren Schreck, daß ihr die Welt nicht sehenswert erschien. Inmitten der Erinnerung entsteht in mir das Gefühl der Genügsamkeit. Momentweise glaube ich, es wird genug sein, wenn ich mich ein- oder zweimal in der Woche hier ins Gras setze und auf den Fluß schaue.“[57]
Die Erinnerung an die Mutter und ihr vorbereitetes und doch nicht vollzogenes Weggehen wird nicht nur durch die Beobachtung der Frau mit dem Koffer ausgelöst, sie übt offenbar auch eine beruhigende Wirkung auf den Protagonisten aus. Er glaubt – wenigstens zeitweise –, dass auch er eine Möglichkeit der Beruhigung gefunden hat.
Die Verschmelzung von augenblicksweise wahrgenommenen Bildern und Erinnerungen der Protagonisten spielt, wie gezeigt werden sollte, eine wesentliche Rolle für die Epiphanien in Genazinos Prosa. Wichtig in Bezug auf diese Epiphanien ist weniger das Offenbarungspotential des Objekts und auch nicht die Wiedergewinnung korrekter Erinnerungsfragmente wie bei Proust, sondern eher das Deutungsspiel, das Phantasieren und kreative Verknüpfen von Erinnerungsmomenten.
Das ästhetische Potential, das im Zuge dieser Assoziationen und Ausdeutungen frei wird, soll im folgenden Abschnitt untersucht werden.
„Irgendwo in der Stadt New York gibt es vier oder fünf Objekte, die zusammengehören. Einmal zusammen, sind sie ein Kunstwerk.“[58] So beschreibt Joseph Cornell in seinem Tagebuch seine Arbeit bzw. Kunst. Der New Yorker Künstler Cornell sammelte über die Jahre hinweg auf seinen Streifzügen durch New York Objekte, die er in eigens dafür gebauten Kästen zusammen- und ausstellte. Diese Objekte, die er z.B. auf Flohmärkten fand, waren grundsätzlich profaner Natur,. Diese Objekte, um deren einstige Schönheit es Cornell ging, stellte er in seinen Kästen zusammen. Ausgestellt in diesen Kästen aus Holz und Glas gewannen die profanen, vergessenen Objekte Kunstcharakter und waren so ihrer Alltäglichkeit enthoben. Genazino, auf den Cornells Arbeiten Eindruck gemacht haben, beschreibt den Effekt folgendermaßen:
„Verblüffend ist, daß die Gegenstände nur durch ihre Präsentation in einem Holzkasten zu Kunst wurden. Solange sie im Alltag verharrten, gehörten sie diesem an; sobald Cornell sie in seine Kästen einbaute, wurden sie Teile von Träumen, verbildlichten Sehnsüchten.“[59]
Eine solche willkürliche Setzung von alltäglichen Objekten als Kunstwerk betreiben auch Genazinos Protagonisten. In Die Kassiererinnen betrachtet der Erzähler gemeinsam mit seiner Bekannten Wanda einen Schaukasten im Vorgarten eines Kohlenhändlers. In diesem Schaukasten befinden sich pyramidenförmig gestapelte Kohlebriketts, umgeben von toten Fliegen. Der Erzähler und Wanda diskutieren darüber, ob diese Zurschaustellung beabsichtigt oder intentionslos ist. Der Erzähler glaubt an ein zufälliges Kunstgebilde, Wanda plädiert für ein beabsichtigtes Kunstwerk des Kohlenhändlers:
„Ich stelle mir einen gewieften Mann vor, der Kunst sammelt und genau weiß, wie aufreizend bedeutsam das Banale geworden ist. […] Die toten Fliegen sind kein Argument gegen die Kunstabsicht […]; im Gegenteil, sie kaschieren sie nur. […] Der Baalke sah eines Tages, dass neben seiner Brikettpyramide ein paar tote Fliegen lagen. Aber er entfernte sie nicht, weil er wusste, dass sie authentisch wirken und das Kunstwerk in ein schönes Zwielicht versetzen. Der Kohlenhändler wollte, dass wir genau das denken, was wir jetzt tatsächlich denken, dass wir nicht wissen, ob der Kohlenkasten nur naiv ist oder höchst bedeutsam. Das Kunstwerk hält genau die Mitte zwischen Absicht und Absichtslosigkeit, und nur in dieser Mitte ist Kunst noch möglich, sagte Wanda.“[60]
Eine Erkenntnis ziehen die beiden allerdings nicht aus ihren Betrachtungen und Überlegungen. Gestalterisch ist im Hinblick auf die Epiphanie noch interessant, dass der Kohlenkasten laut Erzähler nachts sogar angeleuchtet wird, was laut Genazino ein Moment der Erleuchtung des Betrachters nach sich zieht:
„Die Be leuchtung des Kastens führt zur Er leuchtung seiner Betrachter. Isoliertes, gedämpftes Licht ist immer ein Gedenklicht. Die Rührung ist eine des Untergangs. […] Der Kohlenkasten ist ein Kryptogramm, ein nach vorne weisender Gedächtnisakt, den wir – natürlich – auch verweigern können, wie die beiden Protagonisten im Text.“[61]
Für diese literarische Epiphanie spielt die bereits in Abschnitt 2.1 erwähnte Lichtmetaphorik eine Rolle. Mit dieser Deutung wird selbstverständlich auch Wandas Plädoyer für die Kunstabsicht des Kohlenhändlers unterstützt.
Bemerkenswert ist, dass in Genazinos Prosa ein noch so banales Objekt von einem Subjekt seiner Banalität enthoben, als individuell bedeutsam deklariert und so ästhetisiert werden kann. So vergleicht eine Protagonistin ein herumliegendes durchnässtes Telefonbuch mit dem Meer. Da das Meer auf sie beruhigende Wirkung hat, nimmt sie es sogar mit nach Hause, um es weiter betrachten zu können:
„Kurz, bevor ich meine Wohnung erreiche, lege ich es so auf den Bürgersteig, daß ich es von meinem Fenster aus gut sehen kann. Kaum bin ich oben im Zimmer, blicke ich auf das Ufer herunter. Grau und schwer wie ein kleines Stück Meer liegt das Telefonbuch an einer Hauswand.“[62]
Eine ähnlich ästhetisierende Beschreibung liefert der junge Weigand bei der Betrachtung von Straßenstaub:
„Ich legte mich auf die Oberseite einer großen Kiste und beobachtete die Bewegungen des Staubs. Sobald eine Staubfahne aus dem Sonnenlicht hinausschwebte, erloschen die Staubteile wie winzige Sterne. Und leuchteten wieder frisch auf, sobald sie einen neuen Sonnenstrahl durchquerten.“[63]
Die vermeintlich banalen, aus dem Alltag gegriffenen Objekte werden im Auswahl- und Beobachtungsprozess dieser Banalität enthoben und erhalten vom und für das Subjekt einen poetischen Wert zugewiesen. Das Objekt regt die Phantasie des Subjekts an und kann zum Gegenstand poetischer Überlegungen werden. Bei Genazinos Protagonisten, so Claudia Stockinger, „[…] erhalten [die Gegenstände; A.K.] eine hermeneutische Tiefe, die das Beobachten selbst zum künstlerischen Akt erhebt.“[64] Während das Objekt durch den Prozess der Betrachtung einen poetischen Mehrwert zugewiesen bekommt (zum Symbol wird) und seiner Banalität enthoben wird, ist auch das Subjekt in Genazinos Prosa auf die Objekte und ihre auslösende Kraft angewiesen. Insofern greift auch in Bezug auf Wilhelm Genazinos Prosa Walter Höllerers Aussage, die Epiphanie gehöre „zu den modernen Stilmitteln, die die Verschränkung von Subjekt und Objekt vorzuführen vermögen.“[65]
Dem beobachtenden Subjekt bei Genazino geht es nicht um die bloße Erkenntnis der Wesenheit eines Dings (wie bei Joyce), es geht mit seinen „Wahrnehmungssplittern“[66] kreativ um, assoziiert sie miteinander, verknüpft sie mit erinnerter Zeit und experimentiert mit neuen Deutungsmöglichkeiten des Gesehenen; die Objekte entzünden die Imaginationskraft der Protagonisten Genazinos. Genazino selbst spricht in diesem Zusammenhang oft von einer Transformation eines der Außenwelt entnommenen Objektes in Innenwelt in Form von Tagträumen:
„Unser inneres Erleben braucht äußerliche Objekte, an denen und mit denen es sich formen und zum Ausdruck seiner selbst kommen kann. Zu diesen teils innerlichen, teils äußerlichen Gegenständen gehören für den Dichter die Tagträume. Genauer: Sie sind einerseits ein inneres Geschehen, weil sich ihre Wortgestalt im Bewußtsein des Ichs zusammenstellt, und sie sind andererseits ein äußerliches Szenario, weil der innere Text ohne den Anschub eines in der Außenwelt vorfindlichen Bildauslösers nicht zustande kommt. […] Der dichtende Tagträumer macht aus einem äußerlichen Realitätszeichen ein inneres, das sich in zwei Hälften aufspaltet: in ein Erlebnis- und in ein Sprachzeichen. Dann wartet der Träumer ab, ob und wie sein Bewußtsein mit dem nach innen geholten Außenzeichen zu arbeiten beginnt. Ob, mit anderen Worten, sein Vertieftsein in ein Stück Außenrealität zu einem inneren Text führt oder nicht.“[67]
Die Bedeutung des Objektes für das Subjekt wird in diesem Zitat von Genazino noch einmal explizit gemacht: Das Subjekt ist auf ein äußeres Objekt angewiesen, um zu einem inneren Text zu gelangen. Dieser hier angesprochene innere Text kann jedoch auch zu einem äußeren Text und somit auch zu einem für andere erfahrbaren ästhetischen Moment führen. Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman endet mit folgender Szene: Der Protagonist Weigand beobachtet in einem Café sitzend ein vorübergehendes Kind, das einen Laib Brot trägt und plötzlich stürzt, wobei es vermeiden kann, dass das Brot den schmutzigen Boden berührt. Für einige Augenblicke wird es dabei nicht nur von Weigand, sondern auch von anderen Besuchern des Cafés beobachtet:
„Rasch erhob sich das Kind und untersuchte zuerst das Brot und dann sich selbst. […] Das Brot war nicht beschädigt, nur leicht eingedrückt. […] Sekunden später ergab sich eine Blickkette. Das Kind entdeckte seine Betrachter und sah sie kurz nacheinander an. […] In der Blickkette stießen das heimliche und das öffentliche Leben sanft aufeinander. Das Kind sonnte sich in der Huldigung seiner Betrachter und hob das Brot kurz in die Höhe, dann verschwand es. Ich zweifelte nicht, daß ich mich in einem ungeschriebenen Roman bewegte. Ich sah auf mein Frühstück herunter und wartete auf das Aufzucken des ersten Wortes.“[68]
Im Sturz des Kindes und den in der Blickkette kurzzeitig miteinander verbundenen Leben der Menschen sieht Weigand das Potential für seinen ersten eigenen Roman. Die Beobachtung lässt ihn ein poetisches Moment in einer im Grunde alltäglichen Situation erkennen, von der er glaubt, dass sie seinen ersten eigenen Roman initiieren kann. Im Unterschied zu Proust und Joyce ist der Auslöser der Epiphanie hier nicht einmal mehr schön bzw. positiv. Für Weigand ist der Sturz des Kindes, also etwas grundsätzlich eher Negatives, Auslöser einer poetischen Epiphanie. Den Objekten bzw. ihrer Beobachtung und dem kontemplativen Umgang der Subjekte mit ihnen wird also textproduktive Kraft beigemessen; Weigand sieht in seiner Beobachtung Potential, Teil seines ersten Romans zu werden.
Ähnlich wie von Joseph Cornell lässt sich auch von den Protagonisten Genazinos (und wohl auch von Genazino selbst) als „Medici Groschengrab“ sprechen. Der bewusste ästhetische Bezug zu Objekten des alltäglichen Lebens, die sonst evtl. als wertlos betrachtet würden, ermöglicht es ihnen, poetische Momente und Epiphanien zu erschaffen.
Nachfolgend soll die Hypothese geprüft werden ob und inwiefern die Epiphanien für das Subjekt eine kompensatorische Bedeutung haben. Dabei spielt die Verfasstheit der gegenwärtigen Gesellschaft, des Lebensraums der Protagonisten, eine wichtige Rolle.
Die Protagonisten in Genazinos Prosa bewegen sich beobachtend und prüfend in der Gesellschaft, jedoch begegnen sie dem Zeitgeist, der sich in der Verfasstheit der Städte und dem Habitus der meisten ihn umgebenden Menschen ausdrückt, äußerst kritisch bis ablehnend. Sie bewegen sich in Städten mit immer stärker verwahrlosenden Stadtvierteln auf der einen Seite und immer mehr expandierenden extrem modernen Stadtvierteln auf der anderen Seite, wobei sie vor allem für letztere eine Art kulturelle, architektonische und vor allem ökonomische Gleichmacherei beklagen. Den modernisierten Stadtvierteln attestierten sie vor allem eine „Transfunktionalität der Oberflächen“[69], die einem rein pragmatischen Ökonomismus geschuldet sei, jedoch jedem Anspruch an Individualität und/oder Schönheit nicht mehr verpflichtet sei. Zudem werde in der heutigen Gesellschaft vor allem abgestellt auf Schein; Dinge dürften immer seltener ausschließlich das darstellen und ausdrücken, was sie sind, worin Genazino einen Ausdruck von Hässlichkeit moderner Stadtlandschaften sieht:
„Der Grund der Häßlichkeit liegt darin, daß unsere Räume gezwungen werden, ihre Selbstähnlichkeit aufzugeben. Eine Wartehalle soll aussehen wie eine Bar, eine Bar soll aussehen wie eine Yacht, eine Yacht soll aussehen wie ein Salon, ein Salon soll aussehen wie ein Palast.“[70]
Die meisten Bewohner dieser modernen Großstädte hätten sich mit diesem Schein arrangiert und nähmen keinerlei Anstoß daran:
„Denn der ultramoderne Einzelne hat längst verinnerlicht, daß er von subjektiven Erfahrungen nur behindert wird. Die heutigen Großstadtbewohner sind Leistungssportler der Mimesis, die pünktlich und ohne Murren die von ihnen geforderten Verwandlungen liefern. Sie wissen nicht, was sie vermissen könnten; das macht sie sehnsuchtslos. Sie können es sich nicht erlauben, in ihren glatten Umgebungen nach Einzelheiten und Zeichen zu suchen, die ihren Sinn transformieren.“
Gerade das Aufsuchen solcher Einzelheiten und Symbole ermöglicht in einer so verfassten Welt aber laut Genazino noch individuelle Erfahrungen. Die von der modernen Welt bereits korrumpierten Erscheinungen jedoch könnten solche Primär-Erfahrungen nicht mehr ermöglichen. Deshalb suchen Genazinos Protagonisten ihre subjektiven Erfahrungen in den für die moderne Welt uninteressant gewordenen, vermeintlich banalen Objekten. Da dies aber in einer auf Konsum und Funktionalität ausgerichteten Gesellschaft kaum möglich ist, gehen Genazinos Protagonisten auf Distanz und nähern sich mit ihrer Technik des Beobachtens den unscheinbaren Dingen an. In ihnen entdecken sie Schönheit, Magie, Besonderheit und auch Trost. Nicht zuletzt entnehmen sie ihnen Erkenntnisse.
Der junge Weigand, gefangen in einem Vorstellungsgespräch in einer Großgärtnerei, erfährt Ablenkung von der ihm unangenehmen Situation des Vorgestellt-Werdens durch die Mutter, als er durch das Fenster des Büros ein Plakat betrachtet, das für eine halbbittere Schokolade wirbt:
„Es dauerte keine halbe Minute, dann war ich in das Wort halbbitter vertieft. Ich begriff, daß ich mich selbst in einer halbbitteren Situation befand und daß mir das Plakat half, meine Lage zu verstehen. Über diese unerwartete Hilfe empfand ich plötzlich Dankbarkeit.“[71]
Das einfache Werbeplakat ermöglicht ihm eine Erkenntnis über die Situation, in der er sich befindet, löst zudem das Gefühl der Dankbarkeit in ihm aus und erinnert ihn daran, was ihn wirklich interessiert: Literatur. Das Vorstellungsgespräch bzw. sein baldiger Ausgang erscheinen plötzlich nicht mehr so wichtig.[72]
Der Protagonist aus Ein Regenschirm für diesen Tag, geplagt von einem Gefühl der Niederlage und des Nichtverstehens dieser Empfindung, beobachtet einen kleinen Jungen, der eine Haarbürste an einem langen Faden die Balkonbrüstung herablässt und beobachtet, wie sie sich abwechselnd um sich selbst dreht und still hängt. Der Erzähler ist von dem Anblick gefesselt:
„Ich setze mich auf den Sockel einer Schaufensteranlage und betrachte die Bürste, die sich jetzt ganz langsam um sich selbst dreht. […] Ich möchte so gleichmütig und ausgeglichen sein wie eine Bürste und dann wohlwollend von mir selber betrachtet werden. Ein paar Sekunden später muß ich über den vorigen Satz lachen. In Wahrheit bin ich dem Satz gleichzeitig dankbar. Er ist nur das Zeichen, daß ich mich habe beruhigen können. Ich glaube jetzt sogar, daß Teile der Ausgeglichenheit der Bürste auf mich selber übergehen. Ich rege mich im Augenblick nicht mehr darüber auf, daß ich nicht alles verstehe.“[73]
Die Betrachtung eines banalen Gegenstands hilft dem Erzähler über sein zuvor empfundenes Nichtverstehen hinweg und lässt es ihn offenbar hinnehmen. Die Beobachtung sowie das daraus resultierende positive Gefühl kompensieren den zuvor empfundenen Unmut.
Ein anderer Erzähler erinnert sich an eine alltägliche Epiphanie als eine Schmerztransformation. Nachdem er das erste Mal verlassen wurde, gelangen während des Umherlaufens Eisenbahnschienen in seinen Blick, die ihn im nachlassenden Sonnenlicht an das Meer erinnern und deren glatte Oberfläche ihn fasziniert und wiederkehren lässt:
„Die Sonne sank und sank, und ihr Schimmern zog von der äußersten Schiene rechts hinüber zur äußersten Schiene links, die mir am nächsten lag. Nach drei Minuten war alles vorbei. Hinterher waren die Schienen wieder grau und glanzlos. Trotz des Schmerzes war ich in einer zufriedenen, fast gehobenen Stimmung. […] Ich bemerkte, daß der Schmerz nachließ, obwohl er nicht ganz verschwand. Er war jedoch erträglich und sogar anschaubar geworden, weil ich ihn an ein äußeres Bild (die schimmernden Schienen) weitergegeben hatte.“[74]
Der Erzähler erinnert sich dieser Episode und gelangt in diesem Zug zu einer Erkenntnis über den Umgang mit Schmerz allgemein. Hier verhelfen ihm die im Grunde unscheinbaren Eisenbahnschienen über den gerade empfundenen Trennungsschmerz hinweg und befördern in der Erinnerung an diesen Kompensationseffekt ein weiteres Erkenntnis-, d.h. Epiphaniemoment.
Der in diesen Beispielen zudem vorkommende ästhetisierende Blick auf banale Objekte trägt zu einer Verzauberung der von den Protagonisten als oftmals entzaubert erlebten Welt bei. Sie erleben im Zuge der Beobachtung dieser alltäglichen Dinge und der Versenkung in sie die (mögliche) Schönheit dieser Objekte. Insofern lässt sich sagen, dass diese Alltagsepiphanien nicht nur konkret kompensatorische Wirkung hinsichtlich momentan empfundener Missstimmungen haben, sondern auch einen kompensierenden Effekt im Hinblick auf die erlebte Entzauberung der Welt. Genazinos Protagonisten schaffen es, in einer solch entzauberten Welt bezaubernde Dinge und Momente zu erleben und diese im Prozess des Beobachtens selbständig zu schaffen:
„Im Zeichen der herrschenden Schönheitsvergessenheit muß jeder, der Schönheit immer noch will, seine eigenen Schönheitsobjekte auf die Welt bringen. Diese Schönheit ist überall zugänglich, sie kostet nichts, sie ist ungeeignet für Verwertung und Kommerz, sie kann nicht modern werden, sie ist durch Abwegigkeit vor allgemeinem Interesse geschützt, sie schließt niemanden aus, weil sie zu jedem spricht.“[75]
Im folgenden Abschnitt wird untersucht, inwiefern in den Epiphanien dieser Prosa konkrete Momente der Rettung und des Bewahrens von Subjekt wie Objekt enthalten sind.
Als sich eine junge Kollegin das Leben nimmt, ist der Protagonist aus Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman tief getroffen und mit seiner Trauer umzugehen fällt ihm schwer. Zur Hilfe kommt ihm eine Frau, die eine Perlenkette um den Hals trägt. Diese Kette zieht seine Aufmerksamkeit auf sich und hilft ihm über die Trauer hinweg: „Gierig stürzte sich meine Trauer auf das Auf- und Abblitzen der Perlen und löste sich dabei langsam auf.“[76] Hier deutet sich ein Thema an, das sich ebenfalls durch Genazinos Arbeiten zieht: Angst vor dem Tod und dem Verschwinden. Über diese helfen den Protagonisten in der Regel ebenfalls ihre Ding-Beobachtungen hinweg. Auf ihren ausgedehnten Spaziergängen, die ihnen diese Beobachtungen und das Deutungsspiel mit Objekten ermöglichen, können sie Abstand gewinnen von den Gedanken an das sie von Zeit zu Zeit befallende Auflösungsgefühl: „Wenn ich Muße habe, ist der Tod nicht da.“[77]
Die Angst vor dem Verschwinden überfällt diese Protagonisten auch zuhause. Ein Erzähler berichtet von einem Traum, in dem plötzlich zwei Männer in der Wohnung auftauchen, um ihn abzuführen. Obwohl er realisiert, dass er träumt und das dies nicht geschehen wird, steht er am Fenster und wartet darauf, gepackt zu werden, als sein Blick auf zwei Tomaten fällt, die vor ihm auf der Fensterbank liegen:
„Eine ganze Weile bemerkte ich nicht, daß der Anblick der Tomaten meine Beklemmung auflöste. Sobald ich sie in die Hand nahm und mit ihnen zu spielen begann, wußte ich, daß keine Männer kommen würden. Ich wollte den Tomaten irgendwie danken, aber wie dankt man Tomaten?“[78]
Die Tomaten bzw. die Beschäftigung mit ihnen löst die Angst davor, abgeholt zu werden, langsam auf, was den Erzähler offenbar so erleichtert, dass er den Wunsch verspürt, diesen leblosen Objekten zu danken für diese „Rettung“.
Der Protagonist aus Das Glück in glücksfernen Zeiten geht mit seiner Angst vor dem Verschwinden quasi in einer Art Konfrontationstherapie vor. Er trägt mit Vorliebe leicht zerrissene, sich bereits ins Auflösung befindende Unterhemden, um sich an den Gedanken seines Verschwindens zu gewöhnen:
„Ich ziehe sie immer wieder an und banne meinen Lebensschrecken, indem ich ihn auf dem Leib spüre und anschaue. Wobei ich nicht behaupten will, daß ich die Vergänglichkeit meiner selbst dadurch schon begreife. Aber ich kann immerhin sagen: Ich habe mich mit meinem Tod sozusagen auf Tuchfühlung eingerichtet.“[79]
Die Betrachtung und Beschäftigung mit ausgesuchten Objekten hilft den Protagonisten dieser Prosa über die Angst vor dem eigenen Verschwinden hinweg bzw. hilft ihnen dabei, sich an den Gedanken des irgendwann eintretenden Todes zu gewöhnen.
Doch nicht nur das Subjekt erfährt durch die Objekte eine Art von Rettung, auch die Objekte können und sollen gerettet werden. Der Erzähler aus Leise singende Frauen betrachtet aus der Straßenbahn heraus ein paar Stöckelschuhe, die an einer Hauswand stehen und steigt aus dem Impuls heraus, die Schuhe retten zu müssen, aus und nimmt sie an sich: „Plötzlich habe ich das Gefühl, die Schuhe gehören einer Frau, die mir nahesteht. Deswegen muss ich die Schuhe retten. Vermutlich gibt es außer mir niemanden, der die Schuhe beachtet.“[80]
Auch die Objekte, so ließe sich vermuten, werden durch den kontemplativen Umgang mit ihnen vor dem Absinken in die völlige Nichtigkeit bewahrt und werden nicht mehr – wenn überhaupt – zu reinen Gebrauchsobjekten degradiert, da das sich in sie versenkende Subjekt Bedeutungen auf sie projiziert, die über ihren Gebrauchswert weit hinausgehen. Einer Rettung der Dinge um der Dinge willen widerspricht Genazino allerdings in einem Interview: „[…] nicht die Dinge werden gerettet, sondern das Subjekt vergewissert sich seiner eigenen Anwesenheit und damit seines Ichs, seines wirklichen Vorhandenseins durch die Wahrnehmung.“[81]
In diesem Sinne ist natürlich primär auf die Rettung des in der modernen Welt fragilen Ichs abzustellen, wobei die Dinge, der Umgang mit ihnen, der Bedeutungskonstitution, die durch diese Beschäftigung mit den Dingen stattfindet, dem Subjekt eine Möglichkeit eröffnen, sich seiner selbst zu vergewissern oder überhaupt ein Ich auszubilden.
Im folgenden Absatz soll daher die Hypothese untersucht werden, nach der die Fokussierung auf scheinbare Banalitäten aus der dinglichen Welt und daraus resultierenden Epiphanien dem Subjekt eine Individuierung ermöglicht, die in der modernen Welt immer schwieriger wird.
Subjekts
Ist das erkennende Subjekt bei Joyce noch weitestgehend souverän, gilt das für die Protagonisten der Prosa Genazinos und vieler von ihnen beobachteter Menschen nicht mehr, weshalb auch negative Beobachtungen (wie der oben angeführte Sturz des Kindes) zu Auslösern von Epiphanien werden können. Genazino sieht in der Gesellschaft, mit der seine Protagonisten konfrontiert sind, eine solche, die an der Individuation des Einzelnen kein Interesse mehr hat. Georg Simmel hatte für den Lebensraum Großstadt einen größeren persönlichen Freiraum des Einzelnen konstatiert und als positiv hinsichtlich der möglichen individuellen Entfaltung des Subjekts beschrieben.[82] Genazino betrachtet diese Freiräume aber erstens nicht mehr überall als gegeben und zweitens als nicht mehr genutzt im Hinblick auf die Individuation des Subjekts. Wie in Abschnitt 3.3.1 gezeigt, sieht Genazino in der Gesellschaft eine solche, die vor allem auf Nachahmung abstellt und so ein oberflächliches Zugehörigkeitsgefühl suggeriert. Auch das kulturelle (Über-)Angebot trägt nach Genazino nicht mehr dazu bei, um das Subjekt individuelle Erfahrungen und Erkenntnisse gewinnen zu lassen. Nicht zuletzt in dem von ihm gebrauchten Begriff „Betäubungskultur[83] “ kommt dies zur Geltung. Individuelle Identität, so Genazino, muss und kann nur noch von jedem selbst erarbeitet werden. Diese Erkenntnis haben seine Protagonisten, so Genazino, mit ihrem Herumstreunen in der Stadt erarbeitet:
„Es wird dabei vor allem die Dissoziierung erfahren und die Notwendigkeit und der Verlust von Subjektivität und das Alarmiertsein, daß der Einzelne für sich selber in einem unerhörten Maße zuständig geworden ist, wenn er sich nicht völlig an die öffentlichen und an die allgemeinen Programme ausgeliefert sehen möchte. Das wird in diesen Spaziergängen erarbeitet.“[84]
Eine Möglichkeit der Individuation ergibt sich aus der bedeutungsvollen Art des Sehens, welche Genazinos Protagonisten auszeichnet. Nicht zuletzt der assoziierende, phantasievolle, mit ambivalenten Deutungen spielende Umgang mit den beobachteten Objekten und das darin liegende ästhetische Moment betonen den individuellen Charakter dieser Technik, wie auch Anja Hirsch anmerkt: „Durch den produktiven Akt bleibt das Sehen selbstverständlich immer auch ein eng subjektgebundenes, die Welt zum Teil miterschaffendes Sehen.“
Ein Beispiel für diese subjektgebundene, produktive Art des Sehens findet sich z.B. in Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman, wo der junge Weigand auf einer Party seinen von Marihuana berauschten Bekannten eine doppelte Straßenbahn schildert, um darüber hinwegzutäuschen, dass er sich um die Marihuana-Zigarette herumgedrückt hat:
„Die Straßenbahn fuhr weiter, ich redete, die gespielte Halluzination machte mich zur Hauptfigur. Ich tat ein wenig benommen, es gab keinen Zweifel, die anderen glaubten, ich sei bekifft. Meine verdoppelte Straßenbahn verwandelte sich in den lang erwarteten Beweis, daß es eine bewußtseinsverändernde Wirkung der Drogen wirklich und tatsächlich gab. Meine Schilderungen ähnelten denen, die ich vor ein paar Wochen in den Rauschgiftbüchern von Burroughs, Ginsberg und Kerouac gelesen hatte. Es war das erste Mal, daß mir die Literatur unmittelbar aus einer Patsche half. Ich war hier offenbar der einzige, der wirklich berauscht war, allerdings von der Literatur. […] Siehst du auch Ringe und Spiralen? fragte jemand. Ich schaute vage umher und reagierte natürlich nicht mehr auf Fragen, schließlich befand ich mich in einem Rausch.“[85]
Eine solche Selbstinszenierung, ein solch verspielter Umgang mit der Realität findet sich, wie gezeigt worden sein sollte, in Genazinos Prosa immer wieder. Nicht zuletzt aus dieser bewussten Selbstinszenierung, so Genazino, „geht die Anmutung von Autonomie hervor.“[86]
Solche Momente der Autonomie und die Technik der Erarbeitung derselben, wie Genazinos Protagonisten sie vorführen, ist, so Genazino, erst möglich in der Vereinzelung des Subjekts, die jedoch selbstgewählt und daher auch erträglich ist. So empfindet der Protagonist aus Das Licht brennt ein Loch in den Tag Dankbarkeit für seine Vereinzelung, als ihm beim Besuch eines Kaufhauses aufgeht, dass ihn niemand beachtet:
„[…] ich empfinde Anerkennung, manchmal fast Dankbarkeit für die Ströme der Vorübereilenden, ohne die ich nicht wüßte, daß ich ein Einzelner bin. […] Niemals werden sie sich für mein Leben interessieren. Und wie wichtig es ist, daß ich ihnen so fern bin wie ein Mond.“[87]
Laut Genazino ist wahre Individualität für den Einzelnen nur in der bewussten Differenzierung von anderen möglich, wobei weder die Abweichung noch die Individualität der Anerkennung durch diese anderen bedarf:
„Individualität gewinnen wir nur in der Abweichung. Abweichung bedeutet Entfernung. Nicht mehr alles, was ein mehr mit sich als mit anderen befaßter Mensch tut oder nicht tut, ist diesen anderen dann jederzeit verständlich. Individualisierung dient der Selbstverständigung des Handelnden, nicht seiner Einordenbarkeit durch andere.“[88]
Interessant erscheint mir hier die Absage an Habermas´ Anerkennungs-These, wonach gerade die Anerkennung der Abweichung durch die anderen eine große Rolle spielt.[89]
Die Versenkung in die beobachteten Gegenstände und die damit – wie oben gezeigt – oftmals verknüpften persönlichen Erinnerungen ermöglichen dem Subjekt im Prozess der Reflexion eine Ich-Erfahrung, eine Annäherung an sich selbst, die ihm sonst vielleicht nicht möglich wäre, was die Bedeutung der Objektwelt für die Selbstvergewisserung des Individuums betont:
„An ihnen [den Objekten; A.K.] halten sie sich fest, wenn sie den Boden unter den Füßen zu verlieren drohen, an ihrem Geschmack, am Geruch oder Klang ihrer Namen; denn zählen sie die Dinge auf, nennen ihre Namen und versichern sich, indem sie die Existenz der Gegenstände bekräftigen, ihres eigenen Daseins.“[90]
In der deutenden Auseinandersetzung mit den Dingen und der reflexiven Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und Person gewinnen die Protagonisten Genazinos Individualität und Erkenntnis im Zug der Selbstinszenierung der poetischen Epiphanien. Einer solchen poetischen Epiphanie wird auch der Protagonist aus Leise singende Frauen inne, als er einen Schwarm Wespen dabei beobachtet, der sich über einen Apfel hermacht:
„Ich beuge mich ein wenig über den Apfel und sehe Wespen, die sich so tief in die Frucht hineinwagen, daß andere Tiere über sie hinwegkrabbeln. Und dennoch entsteht bei keiner Wespe Nervosität oder das Gefühl des Bedrohtseins. Dieses Gefühl entsteht einzig bei mir, und erst in den Augenblicken, als es unsinnig stark wird und dadurch seine Falschheit verrät, fällt mir auf, wie sehr ich die Tiere mit einem Menschenblick und einem Menschengefühl betrachtet und das Geschehen mit einer Menschenunruhe ausgestattet habe, von der die Tiere so weit entfernt sind wie von jeglichem Menschenwissen überhaupt. Und jetzt, da mein törichtes Gleichsetzungsdenken zwar entblößt, aber weder angeklagt noch ausgelacht wird, nehme ich teil an der poetischen Angstlosigkeit der Tiere, die mich mehr und mehr ausfüllt mit der unerhörten Entdeckung, daß wir vielleicht nur dann zufrieden sein können, wenn wir nichts bedenken müssen.“[91]
Solche Erkenntnis scheint für den Protagonisten stets verbunden mit der Beobachtung vermeintlich banaler Ereignisse und Objekte, sie ist nicht verbunden mit als von der Gesellschaft für wichtig befundenen Ereignissen. Zur Individuation des Subjekts tragen laut Genazino erstere und nicht letztere bei, weil „die großen Ereignisse, die ja mit allen geteilt werden müssen, gar keine Individualisierung mehr zulassen. Da müssen andere Ereignisse her, und die müssen gesucht und entdeckt werden.“[92]
[...]
[1] Zaiser (1995: 16)
[2] griech. epiphaneia = erscheinen, aufscheinen
[3] Vgl. 2. Buch Mose, 3, 1-10
[4] Zaiser (1995: 22)
[5] Bezug genommen wird hier auf den Aufsatz zur Epiphanie bei James Joyce von Theodore Ziolkowski, in dem er die Technik der Epiphanie auch für Hofmannsthal konstatiert. Vgl. Ziolkowski (1961: 569-600)
[6] Hofmannsthal (1986: 462)
[7] Hofmannsthal (1986: 467)
[8] Die ist als neu zu betrachten, wenn man Empfindung als von Erkenntnis in Form von rationaler, zukunftsweisender Erkenntnis oder Ankündigung unterschieden deuten möchte.
[9] Proust (1979: 63, Bd. I)
[10] Proust (1979: 64, Bd. I)
[11] Proust (1979: 67, Bd. I)
[12] Goebel (1969: 117)
[13] Proust (1979: 67, Bd. I)
[14] Zaiser (1995: 270)
[15] Joyce (1973a: 224)
[16] Stephen, katholisch erzogen und mit der Lehre von Aristoteles und Thomas von Aquin bestens vertraut, nähert sich den Dingen offenbar, indem er auf Theorien dieser Philosophen rekurriert; er ist zwar im Begriff, sich von der Kirche und ihren starren Regularien zu lösen, hat diesen Prozess aber noch nicht vollendet. Auch Thomas Eicher sieht Bezugspunkte zur thomistischen Scholastik: „Als Entlehnung aus der thomistischen Scholastik ist die Epiphanie im Stephen Hero Ausdruck einer Ästhetik, die die plötzliche Leuchtkraft wahrgenommener Objekte und ihre Wirkung auf ein im selben Moment entzündetes Bewußtsein beschreibt.“ Eicher (1994: 75)
[17] Joyce (1973a: 226f.)
[18] Ziolkowski (1961: 602)
[19] Joyce (1973a: 225)
[20] Joyce (1973b: 193)
[21] Müller (1984: 41)
[22] Hunt (1990: 54)
[23] Ziolkowski (1961: 602f.)
[24] Merleau-Ponty (1967: 19)
[25] An dieser Stelle soll nicht gesagt werden, dass bei Genazino ausschließlich die visuelle Wahrnehmung von Bedeutung für die Epiphanien ist. Auch auditive und taktile Wahrnehmung spielen durchaus eine Rolle. Allerdings setzt Genazino die visuelle Wahrnehmung meines Erachtens so dominant, dass sie schwerpunktmäßig konstitutiv ist für das Epiphanie-Erlebnis und daher hier gesondert erläutert werden soll.
[26] Genazino (2004a: 47)
[27] Genazino (2004a: 48)
[28] Genazino (2004a: 46)
[29] Die These eines Primats des Bildsinns vor der Sprache erscheint natürlich nicht vollkommen abwegig, ist aber meines Erachtens auch nicht absolut zu setzen. Man könnte bspw. sehr plakativ fragen, was mit Kindern passiert, die blind zur Welt kommen und ja auch irgendwann anfangen zu sprechen, ohne dass sie erst Meinungen und Ideen zu gesehenen Objekten hervorgebracht haben.
[30] Genazino (2004a: 51)
[31] Genazino (2004a: 55)
[32] Genazino (2004a: 52)
[33] Auch Anja Hirsch verweist auf den engen Zusammenhang von gedehntem Blick und reflexivem Akt: „Über das gedehnte Sehen erfolgt der Eintritt in die Reflexion […].“ Hirsch (2006: 26)
[34] Berger (1974: 8f.)
[35] Genazino (2004b: 99)
[36] Genazino (1992: 13)
[37] Genazino (1992: 57)
[38] Rauch (1995: 45)
[39] Genazino (2006: 103)
[40] Hessel (1999: 437)
[41] Vgl. Genazino 1992
[42] Womit nicht gesagt werden soll, dass alle Objekte ausschließlich Anlass zu schönen und positiven Reflexionen, Phantasien, Erinnerungen und somit auch Epiphanien geben. Kennzeichnend ist aber meines Erachtens, dass das Subjekt auch nach negativen Assoziationen und Epiphanien wieder Szenen und Objekte in den Straßen für sich entdeckt, die positive Empfindungen ermöglichen.
[43] Vgl. Barthes 1989
[44] Genazino (1992: 91)
[45] Genazino (2009a: 88)
[46] Jung (1995: 106)
[47] Melanie Fischer betont in ihrer Arbeit über den Ding-Diskurs bei Genazino ebenfalls den Prozess der aktiven Bedeutungszuweisung, während dessen der Protagonist bei Genazino „[…] Bedeutungen in sie [die Dinge; A.K.] hineinsieht, die über ihren eigentlichen Gebrauchswert […] hinausgehen.“ Fischer (2004: 49)
[48] Genazino (1998: 73)
[49] Wie bereits bei Joyce gesehen, sind nicht immer einzelne Objekte Gegenstand einer Epiphanie. Auch von Joyce beobachtete Szenen und belauschte Gespräche konnten Auslöser eines Erkenntnismoments sein.
[50] Genazino (1992: 28f.)
[51] Genazino (2006b: 146)
[52] Roland Barthes beschreibt in Die helle Kammer einen ähnlichen Prozess beim Betrachten einer Fotographie: „Ein Detail bestimmt plötzlich meine ganze Lektüre; mein Interesse wandelt sich mit Vehemenz, blitzartig. Durch das Merkmal von etwas ist die Photographie nicht mehr irgendeine. Dieses Etwas hat »geklingelt«, hat eine kleine Erschütterung in mir ausgelöst, ein sartori, eine zeitweilige Leere […].“ Barthes (1989: 59) [Ein „sartori“ bezeichnet im Zen-Buddhismus ein Erlebnis der Erleuchtung; A.K.]
[53] Genazino (2004b: 27)
[54] Genazino (2006a: 63)
[55] Genazino (2006a: 22)
[56] Genazino (2000: 103f.)
[57] Genazino (2003: 63f.)
[58] Simic (1999: 24)
[59] Genazino (2006a: 49)
[60] Genazino (2009a: 35f.)
[61] Genazino (2006a: 53f.)
[62] Genazino (2004b: 73)
[63] Genazino (2006b: 23)
[64] Stockinger (2004: 26)
[65] Höllerer (1961: 133)
[66] Bellin (1993: 152)
[67] Genazino (1999: 47)
[68] Genazino (2006b: 159f.)
[69] Genazino (1998: 177)
[70] Genazino (2005: 221)
[71] Genazino (2006b: 8)
[72] In der Bindung an einen neuen Kontext – ein Lebensgefühl – liegt natürlich auch ein ästhetisches Verfahren.
[73] Genazino (2003: 134)
[74] Genazino (2000: 64f.)
[75] Genazino (2005: 224)
[76] Genazino (2006b: 110)
[77] Genazino (1989: 10)
[78] Genazino (2000: 16)
[79] Genazino (2009b: 18)
[80] Genazino (1992: 34)
[81] Jung (1995: 105)
[82] Vgl. Simmel (2008: 326)
[83] Genazino (2004a: 13)
[84] Jung (1995: 105)
[85] Genazino (2006b: 61f.)
[86] Genazino (1999: 48)
[87] Genazino (2000: 29)
[88] Genazino (1998; 166f)
[89] „Das Sich-Unterscheiden von anderen muß von diesen anderen anerkannt sein.“ Habermas (1995: 93) Oder an anderer Stelle: „[…] daß sich die Individuierung nicht als die in Einsamkeit und Freiheit vollzogene Selbstrealisierung eines selbsttätigen Subjekts vorgestellt wird, sondern als sprachlich vermittelter Prozeß der Vergesellschaftung […].“ Habermas (1992: 191)
[90] Bucheli (2004: 46)
[91] Genazino (1992: 106)
[92] Jung (1995: 100)
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