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Mehr InfosBachelorarbeit, 2009, 43 Seiten
Bachelorarbeit
Westfälische Hochschule Gelsenkirchen, Bocholt, Recklinghausen
1,3
Zur Biographie der Fernsehreportage ist in der Fachliteratur wenig Exaktes dokumentiert. Witzke und Rothaus sehen die Anfänge der modernen Fernsehreportage Ende der 1950er Jahre Anfang der 1960er Jahre[1]. Dann erst waren Kamera- und Tontechnik soweit entwickelt, dass das spontane Drehen authentischer Situationen möglich war. Diese Entwicklung war für die Autoren die Geburtsstunde der modernen Fernsehreportage.
Einer der Pioniere dieser Zeit war Robert Leacock. Er war maßgeblich an der Verbesserung des technischen Equipments beteiligt und entwickelte daraus eine neue, beweglichere Art des Filmens, das direct cinema. Sein Ziel: Die Kamera so einzusetzen, dass ihre Anwesenheit auf die gefilmten Menschen so wenig Einfluss wie möglich ausübt. Wie bei der geschriebenen Reportage soll hier die Kamera zum Augenzeugen werden. Sie soll nicht inszenieren, sondern sich den Zufälligkeiten der Wirklichkeiten aussetzen.
„Was unterscheidet die Reportage von anderen Formen des Fernsehjournalismus? Wer Praktikern diese Frage stellt, wird hundert verschiedene Antworten erhalten…“, so beginnt Günther Neufeldt seine Ausführungen über die Fernsehreportage in dem Sammelband „ABC des Journalismus“[2]. Neufeldt sieht den Hauptunterschied zu allen andern Formen in der Beschränkung. Die Reportage sammelt nicht alle möglichen Bilder oder Quellen, sondern begnügt sich mit einem örtlich und zeitlich begrenzten Geschehen, wie einer Schiffsreise von A nach B zum Beispiel. Im Folgenden werden die gängigsten Darstellungsformen im Fernsehen, die Nachricht, die Dokumentation und das Feature, mit der Reportage verglichen.
Die Reportage soll eine Innenansicht der Geschehnisse liefern. Damit steht sie im Kontrast zur Nachricht, welche die Dinge übergreifend betrachtet. Typisch für eine Nachricht: Sie bietet bereits in den ersten Zeilen einen Überblick. Die Erzählstruktur geht vom Wichtigen zum Unwichtigen. Die Reportage gehorcht dagegen den Gesetzen der Dramaturgie. Sie erzählt die Dinge in der Reihenfolge, in der sie passieren und schafft damit ein Raum-Zeit-Kontinuum, also eine natürliche zeitliche und räumliche Entwicklung. Mit diesen Unterschieden zur Nachricht ist die Fernsehreportage viel näher am Zuschauer, denn auch er denkt nicht allumfassend, nicht vollständig wie ein Lexikon. Sein Leben besteht ebenfalls aus momentanen Eindrücken und aus reduzierten Zugängen zum Thema.
Immer öfter mischen sich heutzutage allerdings verschiedene journalistische Formen mit der Reportage. Häufig sind als Reportage angekündigte Fernsehbeiträge als Feature oder Dokumentation einzustufen, die lediglich Reportage-Elemente besitzen. Das Feature ist ein umfangreicher journalistischer Beitrag, der attraktivitätssteigernde Techniken verwendet und analytisch-deduktiv aufgebaut ist[3]. Das Feature analysiert also vom Gesamtzusammenhang zum Einzelfall. Das zentrale Merkmal des Features ist die These, die der Autor aufgrund seiner Recherchen entwickelt hat und die er nun anhand einzelner Beispiele belegt. An diesem Punkt liegt die Grenze zwischen Feature und Reportage[4]. Während das Feature vom Hauptthema auf beispielhafte Fälle zurückgreift, geht die Reportage induktiv vor, arbeitet also vom Einzelschicksal hin zu einem übergeordneten Zusammenhang. Das Feature erzählt keine Geschichten. Es geht um allgemeine Schlussfolgerungen. Der Zuschauer erhält nicht das Angebot etwas mitzuerleben. Im Gegensatz zur Reportage darf beim Feature auch inszeniert werden – zeitliche und räumliche Sprünge sind jederzeit möglich. Für das Fernsehfeature gilt eine besonders große stilistische Freiheit. Es darf und soll sogar verschiedene Stilmittel nutzen, sie mit technischen Mitteln, wie Tricks und Simulationen anreichern, um seine These zu untermauern. Reportagen sind weniger planbar, sind improvisierter und der Autor ist präsenter. Dadurch sind Reportagen authentischer und tragen eine individuellere und persönlichere Handschrift als das Feature[5].
Die Dokumentation ist die reduzierte Form des Features[6]. Allerdings präsentiert sie schwerpunktmäßig Bild- und Tondokumente, und keine inszenierten Aufnahmen. Die Dokumentation ist wie das Feature eine deduktive Erzählform. Ziel der Dokumentation ist es, eine möglichst objektive Position einzunehmen und sachlich zu informieren (Abb.1).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.1: zeigt den Unterschied zwischen der Dokumentation und der Reportage
Quelle: Witzke, Bodo & Rothaus, Ulli (2004). Die Fernsehreportage. Seite 83
Ein Beispiel aus der Praxis soll den Unterschied zwischen den drei Darstellungsformen Dokumentation, Feature und Reportage verdeutlichen:
So ist der Film „Keine Chance für Erfinder?“ ein typisches Feature, dessen These die Frage nach der Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft stellt. Dabei werden zum Zweck der Attraktivitätssteigerung einzelne Erfindungen vorgestellt. Den Schwerpunkt des Films bilden aber Interviews mit Betroffenen und Experten, in denen die These diskutiert wird. „Erfinder in Deutschland“ ist hingegen eine typische Dokumentation, die den mühseligen Weg beobachtet, den ein Erfinder zurücklegen muss, bis seine Innovation als Produkt auf den Markt kommt. Eine typische Reportage ist letztendlich ein Tag auf der Erfindermesse, in der all die skurrilen und weniger skurrilen Begebenheiten einer solchen Veranstaltung plastisch wiedergegeben werden.
Was die Erzählweise angeht, gilt für Gunter Link, Abteilungsleiter beim SWR: „Ein Fernsehfeature ist subjektiver als eine Dokumentation, objektiver als eine Reportage, die in Bildern Objektives aus einem betont subjektiven Blickwinkel pointiert erzählt. Eine Reportage hat deshalb häufig eine Botschaft. Ein Fernsehfeature kann, muss aber keine haben.“
Die große Stärke der Reportage im Vergleich zu anderen Darstellungsformen: Sie spricht nicht nur den Kopf des Zuschauers an, sondern vor allem Herz und Bauch.
Die Dramaturgie ist eines der entscheidenden Elemente der Reportage[7]. Ein Nachrichtenbericht ist faktenorientiert. In der Reportage geht es dagegen um elementare Gefühle wie Freude, Trauer, Liebe oder Hass. Die Reportage will Spannung aufbauen und soll einen Anfang, einen Mittelteil und einen Schluss haben. Die klassische Dramenlehre stellt diesen Ablauf als Kurve dar, genannt Franzschen Pyramide. Ein besonders wichtiges Element ist dabei der Handlungsumschlag, der auf dem Höhepunkt die Wendung des Geschehens bewirkt.
Zunächst soll jedoch die Aufmerksamkeit des Zuschauers gewonnen werden.
Laut Kandorfer gibt es folgende emotionale Elemente, die die Zuwendung des Zuschauers optimieren:
1. Kontraste und Paradoxien: z.B. ein erwachsener Mann, der sich vor Spinnen fürchtet
2. Überraschung: z.B. eine unerwartete Wende im Handlungsverlauf
3. Neugierde: z.B. interessante Themen, Bildkompositionen oder Formulierungen, die die Aufmerksamkeit des Zuschauers wecken
4. Retardierung: z.B. wird die Problemlösung durch eine Parallelhandlung hinausgeschoben
5. Erregung: z.B. Sex, krasse soziale Unterschiede
6. Humor
Der Anfang der Reportage macht zum einen das Thema deutlich und zum anderen den Stil, in dem erzählt wird. Der Autor muss ein Versprechen abgeben, dass irgendetwas Spannendes, Interessantes oder Wichtiges zu sehen sein wird. Er muss also den Verlauf der Geschichte andeuten, ihn aber nicht verraten. Aus diesem Grund soll auch der „eyecatcher“, also sehr bild- oder geschichtsstarke Elemente, nicht unbedingt an den Anfang, denn er nimmt zu viel Spannung aus dem Geschehen. Witzke und Rothaus beschreiben es ähnlich :
“Jede Geschichte verlangt nach einem Aufbau, der das Publikum schnell bindet, der schnell klar macht, worum es geht, warum der Zuschauer weiter dran bleiben soll. Dazu baut man Spannungsbögen, bestehend aus dem Aufbau von Erwartungen, einem motivierten Anstieg der Spannung, über einen - erahnbaren - Höhepunkt, bis hin zum Abklingen der Spannung.“
Eine forcierte Aneinanderreihung von Neuem führt genauso zur Langeweile, wie eine nicht enden wollende Aufzählung des Immergleichen.
Den Gesetzen der Dramaturgie zu folgen heißt gleichzeitig auch, dass sich die Fakten dieser Dramaturgie unter zu ordnen haben. Der Dreh- und Angelpunkt einer geschickten Dramaturgie: Menschen, an deren Schicksal der Reporter die Geschichte erzählt. ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender bestätigt diese Aussage[8]: “In einer guten Reportage lernt der Zuschauer Menschen kennen - Menschen zu denen er ein Verhältnis entwickeln kann: Sympathie, Abneigung oder auch eine Mischung aus beidem, ein Hin- und Hergerissensein zwischen Faszination und Befremden…“
Die Fachliteratur ist sich uneins, auf welche Art und Weise die Reportage erzählen sollte. Laut Wilpert[9] ist die Reportage charakteristisch für ihre Nähe zur objektiven nachprüfbaren Wirklichkeit und gleichzeitig für ihre leidenschaftslos sachliche Schilderung des Details. Die Perspektive des Erzählens ist für ihn allenfalls die des Berichterstatters, meist bleibt sie jedoch ohne Tendenzen. Ähnlich fällt auch die Definition von Radke aus. Ihr Kennzeichen sei die weitgehend unwichtige Darstellung eines Sachverhalts, so wie er sich dem Reporter und der Kamera zu einem bestimmten Zeitpunkt darbietet. Schulz beschreibt die Reportage zwar auch als tatsachenorientiert, aber für sie ist sie vielmehr ein persönlich gefärbter Erlebnisbericht. Als ausschließlich subjektiv, also aus einer Sicht erzählend, beschreibt auch Netzer die Reportage, denn der Reporter soll schildern, soll beschreiben, was er erlebt. Er soll dem Rezipienten die Begebenheit miterleben lassen, ihm die Szene vor Augen führen. Wie wertend und einflussreich seine Sicht auch ist, bleibt der Reporter, trotz der unterschiedlichen Ansichten, Betrachter des Geschehens. Er ist also unstrittiges Element der Reportage.
Durch die Reportage soll dem Zuschauer also die Möglichkeit gegeben werden, Ereignisse und Situationen mit den Augen des Reporters noch einmal unmittelbar erleben zu können[10]. Diese Rolle des Reporters birgt aber auch eine Gefahr: Zwar soll er die Dinge so erzählen wie er sie sieht, wertet er das Geschehen jedoch zu sehr, verliert er an Glaubwürdigkeit. Aus diesem Grund ist die Reportage ein Balanceakt zwischen Subjektivität und Objektivität, aber auch zwischen Rationalität und Emotionalität. Walter von LaRoche gibt dem Verfasser einer Reportage den Tipp, Fakten zu liefern, aufgrund derer der Zuschauer zu einer eigenen Schlussfolgerung kommen kann. Das gelingt laut LaRoche durch eine genaue Beschreibung dessen, was der Reporter sieht.
Damit die Reportage authentisch bleibt, sie also die Wirklichkeit so darstellt, wie sie ist, muss auch das Fernsehteam entsprechend arbeiten. Das Team sollte sich zurückhalten und nicht fordernd auftreten[11]. Wilden-hahn nennt die Begriffe des Mitschwingens, des Improvisierens und des Unperfekten. Er will sich also von den Handlungen treiben lassen, will auf Unvorhergesehenes reagieren können und dafür auch bildtechnisch oder dramaturgisch nicht so perfekte Aufnahmen in Kauf nehmen.
Die größtmögliche Authentizität erreicht man:
1. Man filmt Situationen, die so aufregend sind, dass die Beteiligten die Kamera mit der Zeit vergessen
2. Man berichtet über Ereignisse, die sich ohnehin in der Öffentlichkeit abspielen - mit Protagonisten, die das Licht der Öffentlichkeit gewohnt sind
3. Man filmt Personen in einer Entscheidungssituation, in einer Prü-fung oder Krise, in der sie wiederum die Kamera vergessen und sich zudem ihr wahrer Charakter enthüllen soll.
4. Wenn ununterbrochen gefilmt wird, gewöhnen sich die Leute schnell daran.
Charakteristisch für die Reportage ist das Entdecken von etwas Neuem und sei es ein Einzelfall, der anders ist als alles bisher Erzählte[12].
Typische Situationen für die Reportage sind:
1. einmalige, unerhörte Geschichten (z.B. Katastrophen oder Unglücke)
2. Orte, von denen noch niemand berichtet hat
3. Geschehnisse, die die Dramaturgie einer Geschichte in sich bergen (Wettkämpfe, Reisen, medizinische Behandlungen etc.)
Doch häufig genug lassen sich Themen auch auf der Straße finden, so beschreiben es Witzke und Rothaus. Es kommt auf die eigene Perspektive, die eigene Neugier an. Auch bereits filmisch umgesetzte Themen können aus einem anderen Blickwinkel, einer anderen Perspektive, eine interessante Reportage ergeben. Ein Beispiel aus der Praxis erzählt Michael Schomers[13]:
„Spätherbst 1990. Freitagnachmittags auf der Autobahn. Wie so oft ist am Wochenende mal wieder die Hölle los…..Während ich im Schritttempo weiterfahre, bemerke ich auch eine Kolonne von Militärfahrzeugen der US-Armee. Müssen die gerade am Wochenende hier entlangfahren?
… Mir schießt plötzlich die Idee einer Reportage durch den Kopf, eine Reportage über die Vorbereitungen der US-Truppen in Deutschland und ihre Verlegung an den Golf. …“
Aus dieser Idee entstand schließlich eine 7-Minuten-Reportage für „Stern-TV“.
Reportagethema kann aber auch zum Beispiel der Alltag einer Politesse sein, oder ein Obdachloser, der unter einer Brücke lebt. Es sollen “…Einblicke in Milieus und Lebenswelten vermittelt werden, die dem Rezipienten ansonsten fremd bleiben“, so Claudia Mast[14]. Entscheidend dabei sind die Emotionen. Der Zuschauer soll erfahren, wie es den Hauptpersonen geht, was sie fühlen und denken. Die Reportage ist nah am Menschen und zeigt dessen Schicksal. Das ist ihre Stärke. Das macht sie echt.
Der erste Schritt bei der Umsetzung einer Reportage ist die Recherche. Das Wort stammt aus dem Französischen und bedeutet im Deutschen etwa „Untersuchung“ oder auch „Nachforschung“[15]. Sie soll Informationen zu einem Thema liefern, aber auch Hintergründe und Zusammenhänge aufdecken. Der Journalist ist am erfolgreichsten, wenn er systematisch vorgeht und in drei Richtungen recherchiert:
1. Thema
2. Bild
3. Organisation
Bei der thematischen Recherche geht es um Fakten, die der Reporter so umfassend wie möglich erarbeiten muss. Dazu nutzt er zum Beispiel das Internet und Zeitungsarchive oder er telefoniert mit beteiligten Personen. Zum Sammeln der Informationen gehört zusätzlich auch das Hinterfragen von Fakten und Aussagen.
Bei der Bildrecherche klärt der Reporter, wie er sein Thema in Bildern darstellen kann. Das geht entweder mithilfe einer Vorbesichtigung oder, wie bei der Reportage meist üblicher, durch Improvisation am Drehtag.
Die organisatorische Recherche ist notwendig, um einen glatten Produktionsablauf zu gewährleisten. Fragen können sein: Wo kann gedreht werden? Ist dort eine Drehgenehmigung erforderlich?
Aber auch: Welches Equipment wird am Drehort gebraucht?
Häufig wird die Recherche auch auf zwei Bereiche reduziert[16]: die inhaltliche und die organisatorische, produktionstechnische Recherche. Thematische und bildliche Recherche fallen hier also lediglich unter dem Bereich „Inhalt“ zusammen. Die Recherche soll vor allem „Wissensmunition“ liefern, also so viel Hintergrundwissen, dass dem Reporter die Fragen nicht ausgehen. Eine gründliche Recherche, eine gute inhaltliche Vorbereitung, ist so etwas wie ein Augenöffner, so Spiegel-Reporter Cord Schnibben[17]. Es ist das Sprungbrett für die Reportage. Ein fundiertes Hintergrundwissen dient dazu, die Absichten eines Protagonisten und die Beweggründe seiner Aussagen zu erkennen
Roman Brodman warnt allerdings vor zu viel Vorwissen:
„…Nun ist es Zeit zur Feststellung, dass die journalistische Qualität auch an der Recherche zugrunde gehen kann. Ich denke dabei an die mit falschem Eifer in die falsche Richtung übertriebene Recherche, die mir Unbefangenheit nimmt, mit der ich stellvertretend für den Zuschauer neugierig zu sein habe….“
„Weniger ist mehr“ gilt vor allem für das Vorgespräch mit den Protagonisten. Der Reporter soll nicht so weit gehen wie später beim Dreh. Die späteren Fragen werden persönlicher sein und die wesentlichen Konflikte des Menschen berühren. Erlaubt sind höchstens kleinere Provokationen, um zu testen, wie der Protagonist darauf reagiert.
Die Freiheit, sich Ereignisse oder Protagonisten auszusuchen sowie ununterbrochen die Kamera laufen zu lassen, gibt es in der Praxis häufig nicht.
Jedes ernsthaft betriebene Reportageprojekt steht in einem Spannungsverhältnis zu Fernsehanstalten, die möglichst planvoll und kalkulierbar arbeiten müssen[18]. Termine, Sendelängen und Budgets stehen im Mittelpunkt. Dazu kommt der Quotendruck. Schließlich und endlich geht es um Geld und damit auch um die Existenz eines Senders. Bevor die Sender Reportageaufträge vergeben, wollen die Verantwortlichen deshalb möglichst genau wissen, wofür sie ihr Geld ausgeben und was am Ende dabei herauskommt. Deshalb ist es zum Beispiel üblich, ein Treatment oder auch Storyboard zu erstellen. Das Treatment, im deutschen etwa „Verfahren“, ‚,Aufbereitung“, bietet einen schriftlichen Überblick über die Umsetzung eines Reportagethemas[19]. Es erzählt etwas über den Spannungsbogen der Geschichte, die Interviewpartner, oder welche Drehorte es gibt. Das Treatment wird zum Beispiel zwischen Produktionsfirma und Sender besprochen und gibt beiden einen Eindruck davon, wie die Reportage später aussehen könnte. Dieses „Kopfkino“ spricht allerdings für viele Autoren gegen die Grundsätze der Reportage. Brodman in einem Brief an eine Kollegin:
„Ich war schon immer der Meinung, dass für Dokumentarfilme keine Drehbücher geschrieben werden sollten. Jetzt weiß ich, dass man auch das Drehbuch im Kopf verbieten müsste. …. Es gibt wohl kaum einen unter uns, der der Versuchung nie erlegen wäre. Ein Gefäß aufzustellen und es im Sinne seiner Erwartungen zu füllen. Wie sollte man ohne Erwartungen überhaupt zum Thema kommen? Wie sollte man das Interesse an einem Stück dieser Welt mit der Leidenschaftlichkeit ausstatten, die unsere Neugierde fordert, wenn dieses Interesse nicht zielgerichtet sein darf?... Der Fußgänger unter den Dokumentarfilmern braucht die gezielte Erwartungshaltung schon als Legitimation seines Ansinnens…“
Auch Jens Monath, Redakteur beim ZDF, rät von einem Treatment ab[20]:
“Sie widersprechen der klassischen Reportage , bei der man losgeht, um etwas zu erleben. Storyboard und Reportage, das ist er größte Gegensatz, den man sich vorstellen kann.“
Michal Schomers, der hauptsächlich für das ZDF arbeitet, sieht das anders[21]:
“…Man braucht beim dokumentarischen Arbeiten eine Grundlage, Drehplan oder Treatment, in dem das Thema filmisch, bildlich umgesetzt wird, in welchem eine erste Fassung des Films auf dem Papier entsteht. Man sucht nach Geschichten und Bildern, die ausdrücken, was man dem Zuschauer vermitteln will. Dies ist die erste Stufe: im Kopf des Autors entstehen Bilder, entsteht ein Film.“
Authentizität, Spontaneität und Planung einer Geschichte müssen aber kein Widerspruch sein. Meist sind Zufälle bei einem Dreh häufig gar keine, sondern der intelligente Einsatz von geplanten Aktionen, Interaktionen, Konfrontationen oder angestoßenen Begegnungen. Ohne ein zielgerichtetes Interesse des Reporters endet die Beobachtung eines Geschehens im simplen Betrachten, in „nutzlosem Draufblicken“[22]. Dieses zielgerichtete Interesse bedeutet auch, sich auf immer wieder neue Situationen einzulassen.
Müller-Hanft beschreibt diese Momente, in denen die Geschichte eine neue Wendung erhält, aus seiner Erfahrung:
„…Filmen ist Fragestellen an die Wirklichkeit. Man denkt sich was, sammelt Material dazu, und dann kommt der Moment, wo das ganze Konzept umkippt, dann diktiert das Material selbst, wie es bearbeitet werden muss…“[23]
Für die Reportage ist nicht nur wichtig, was jemand sagt, sondern auch wie er es sagt. Und das ist das erste Mal (fast) immer am Authentischsten. Fragen immer und immer zu wiederholen, bis der Reporter seine gewünschte Antwort erhält, ist nicht im Sinne der Reportage. Damit sich ein Protagonist beim Dreh öffnet, emotional erzählt, ist es wichtig, schon bei Recherchegesprächen mit ihm auf einer Wellenlänge zu liegen, sein Vertrauen zu gewinnen. Damit das gelingt, geben Witzke und Rothaus vier Tipps im Umgang und bei der Auswahl der Protagonisten[24]:
1. Der Journalist darf sich nicht wichtiger nehmen als die Protagonisten und muss ehrlich sein
2. Er darf dem Protagonisten keine falschen Versprechen geben (zum Beispiel, dass der Dreh seine Probleme löst)
3. Neugierige Protagonisten auswählen und keine bezahlten
4. Verantwortung gegenüber den Protagonisten zeigen
Die Auswahl der Protagonisten ist elementar für eine lebendige Reportage. Hilfreich sind eine ausgeprägte Mimik, ein besonderes Aussehen, oder eine ungewöhnliche Handlung. So kann das Interesse des Zuschauers geweckt werden. Menschen, die etwas erreichen wollen, am Besten gegen Widerstände, ergeben für den Autor fast automatisch eine Geschichte. Es eignet sich nicht jeder als Interviewpartner. Nicht jeder kann vor einer Kamera emotional erzählen.
Gute Interviewpartner sind:
1. Menschen, die sich nicht von einer Kamera beeindrucken oder einschüchtern lassen
2. Menschen, die gerne plastisch und bunt erzählen
3. Menschen, die voraussichtlich während des Drehs in Konfliktsituationen geraten
4. Menschen, die durch spannende äußere Dinge von den Dreharbeiten abgelenkt sind (Rennfahrer vor Autorennen z.B.)
Die Protagonistenauswahl ist entscheidend für die Lebendigkeit einer Reportage.
Laut Witzke und Rothaus sind die Grundvoraussetzungen für einen guten Reporter Menschenliebe, politisches Verständnis, eine starke Psyche, Fremdsprachenkenntnisse, Gesundheit, Glück und Neugierde[25]. Auch wenn die Aufzählung übertrieben und sicher ironisch gemeint ist, soll sie wohl dennoch zeigen, wie vielseitig ein Reporter sein muss. Zudem trägt er eine große Verantwortung, nicht zuletzt für das Gelingen und Misslingen der Reportage.
Für Michael Schomers ist der Reporter aufgrund seiner vielfältigen Aufgaben „Mädchen für alles“[26]. Die wichtigste Aufgabe des Reporters sei jedoch, den Film im Kopf zu haben. Er muss zum Beispiel wissen, welche Bilder benötigt werden, oder was die Protagonisten sagen sollen. Laut Witzke und Rothaus sollte der Reporter allerdings nicht zu starr an seinem Konzept festhalten[27]. Er braucht unbedingt Mitdenker, vom Kameramann bis zum Beleuchter. Gemeinsame Diskussionen und Überlegungen seien wichtig. Statt Rechthaberei sollte der Reporter für andere, vielleicht bessere Ideen offen sein. Recht außergewöhnlich klingt Michael Schomers Vorstellung über die Führung im Team. Normalerweise sei der Reporter der Teamchef beim Dreh, wenn der Reporter jedoch freier Mitarbeiter ist, gelte der angestellte Kameramann als Teamchef. In meinen Augen ist es aber, auch wenn der Reporter freier Mitarbeiter ist, nicht Aufgabe des Kameramanns, die Geschichte zu erzählen und demnach auch nicht seine Kompetenz zu entscheiden, wann, wo und mit wem gedreht wird. In der Literatur sind zu diesem Punkt keine weiteren Aussagen zu finden.
Der Reporter soll vor allem Nähe zum Protagonisten schaffen und emotionale Reaktionen hervorrufen. Trotz dieser persönlichen Nähe muss der Reporter dennoch innerlich Distanz waren, damit seine Geschichte objektiv genug bleibt.
Entscheidend für das Gelingen einer Reportage ist auch die Art der Interviewführung[28]. Zu manchen Emotionen, Gedanken oder Hintergründen kann der Reporter nur mithilfe von Fragen vordringen. Das Interview muss allerdings Teil der Geschichte sein. Die Antworten müssen spontan und authentisch und deshalb nicht vorher abgesprochen sein. Der Satz „Sagen sie doch einfach noch mal“, ist aus Sicht des Autors tabu. Die Fragen müssen emotionale Reaktionen beim Protagonisten hervorrufen. Sachinformationen gehören in den Text. Anders als bei einem Nachrichtenbericht soll das Reportageinterview laut Georg Troller „…Intime Dinge aus den Leuten herauszuholen, …, so dass sich der Zuschauer angesprochen fühlt und sagt: So bin ich doch auch, der hat meine Probleme, das ist das Höchste, was man überhaupt erreichen kann.“
Entscheidend ist also die Identifikation mit dem Protagonisten.
Wichtig sind die richtigen Momente, um Fragen zu stellen. Die richtige Frage zum falschen Zeitpunkt oder die falsche Frage zum richtigen Zeitpunkt schadet einer guten, nachvollziehbaren Story[29].
Grundlegend gibt es zwei verschieden Arten des Interviews. Zum einen das spontane Interview und zum anderen das Tiefeninterview. Das Spontaninterview ergibt sich häufig in Reportagen. Meist dann, wenn die Kamera ein Geschehen begleitet und etwas passiert, das nach einer Frage verlangt. Zum Beispiel, wenn ein Heilpraktiker einen Patienten akupunktiert und er erklärt, warum er die Nadel an bestimmten Stellen platziert und was diese Nadelstiche auslösen. Das Interview sollte möglichst kurz und in die Handlung ‚eingebettet’ sein[30]. Das Tiefeninterview ist systematischer. Es ist besonders interessant, wenn der Protagonist im Mittelpunkt steht. Das Tiefeninterview soll, wie der Name es vermuten lässt, möglichst emotionale Antworten aus dem tiefsten Inneren des Interviewten hervorbringen. Damit das möglich ist, werden solche Gespräche in ruhigen Momenten, ohne große Ablenkung gedreht. Häufig ist dann für den Zuschauer nicht vielmehr als das Gesicht des Interviewten zu sehen. Der Zuschauer wird so durch den Hintergrund nicht abgelenkt und kann sich voll und ganz den Aussagen, aber auch der Mimik des Interviewten widmen. Die Gefahr bei solchen Kameraeinstellungen: durch die Statik läuft das Bild aus dem Ablauf der bewegten Reportagebilder heraus. Es wird zu einem leblosen Statement. Es muss Einstellungen geben, die zu dem Ort des Interviews hin- und wegführen, um die Kontinuität des Raumes und der Zeit zu gewährleisten.
Die natürlichste Form ist aber eine eingefangene Gesprächssituation mit „echten“ Menschen, die zusammensitzen und sich unterhalten. Nichts ist dagegen „unechter“ als sprechende Köpfe, „Talking heads“, also irgendwelche Gesichter von Menschen, die man im Film nicht kennen lernt. Finden diese Gespräche nicht statt, sollte der Reporter sie anschieben. Gibt es keinen Gesprächspartner, rückt der Reporter in diese Rolle. Seine wichtigste Eigenschaft bei diesen Gesprächen ist die des Zuhörens, findet Nikolaus Brender, Chefredakteur des ZDF[31]. Denn in jeder Antwort steckt ein Angebot für weitere Fragen.
Der Reporter muss den inneren Konflikt des Protagonisten finden. Zwar sollte der Fragesteller vorher ein Konzept haben, aber seine Fragen auch auf die Antworten aufbauen lassen, wenn die Chance auf tiefer gehende, emotionale Antworten besteht[32].
Ein Beispiel, wie ein Interview nicht geführt werden soll, ist für viele Autoren die Geschichte von Loriots „Der Lottogewinner“. Es geht um ein Interview mit dem Lottogewinner Erwin Lindemann. In einem Vorgespräch lässt der Regisseur sich alles über die Pläne des Lottogewinners erzählen. Seine Aussage soll Herr Lindemann jetzt vor laufender Kamera wiederholen. Ein ums andere Mal verhaspelt sich Erwin Lindemann. Der Regisseur lässt die Szene wieder und wieder wiederholen. Schließlich ist Herr Lindemann so verwirrt, dass er am Ende „…im Herbst der Papst mit seiner Schwester eine Herrenboutique in Wuppertal eröffnet.“ Es passiert häufig, dass ein Interview mehrere Male wiederholt werden muss, bis jeder der am Dreh Beteiligten(Autor, Kameramann und Tonassistent) zufrieden ist. Im Schnitt werden dann oft doch die erste Einstellung genommen, da sie meist die Spontanste und Schönste ist.
Zusammengefasst gib es drei Hauptregeln für das Interview:
1. Sie müssen Teil der Geschichte sein und optisch wie inhaltlich in den Fluss der Reportage eingebunden sein.
2. Bei Interviews sollen Inszenierungen vermieden werden, auch dann, wenn der Ort des Interviews schon vorher feststeht.
3. Fragen sollen nicht vorher abgesprochen sein.
[...]
[1] Witzke & Rothaus, 2003, S. 43 & 56ff
[2] Neufeldt, in Mast, 2004, S.269ff
[3] Ordolff, 2005, S.268ff
[4] Vgl. Witzke & Rothaus, 2003, S. 79ff
[5] Vgl.Link, in Mast 2004, S.290
[6] Vgl. Witzke & Rothaus, 2003, S. 81ff
[7] Vgl. Witzke & Rothaus, 2003, S. 235ff
[8] Vgl. Brender, in Mast, 2004, S.279
[9] Witzke & Rothaus, 2003, S. 15ff
[10] Vgl. Mast, 2004, S. 256
[11] Witzke & Rothaus, 2003, S. 116ff
[12] Witzke & Rothaus, 2003, S. 26ff
[13] Schomers, 2001, S.20ff
[14] Mast, 2004, S. 256
[15] Vgl. Mast, 2004, S. 204ff
[16] Vgl.Morawski, 2007, S. 65ff
[17] Witzke & Rothaus, 2003, S. 137ff
[18] Witzke & Rothaus, 2003, S. 126ff
[19] Vgl.Ordolff, 2005, S.250ff
[20] Ordolff & Wachtel, 1998, S.81
[21] Schomers, 2001, S.92
[22] Vgl.Morawski, 2007, S. 21ff
[23] Witzke & Rothaus, 2003, S. 124ff
[24] Witzke & Rothaus, 2003, S. 144ff
[25] Witzke & Rothaus, 2003, S. 148
[26] Schomers, 2001, S.124
[27] Witzke & Rothaus, 2003, S. 265ff
[28] Witzke & Rothaus, 2003, S. 159ff
[29] Vgl.Morawski, 2007, S. 159ff
[30] Witzke & Rothaus, 2003, S. 164ff
[31] Vgl.Morawski, 2007, S. 86ff
[32] Vgl. Mast, 2004, S. 297ff
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