Veröffentliche auch du deine Arbeit – es ist ganz einfach!
Mehr InfosExamensarbeit, 2010, 72 Seiten
Examensarbeit
1
Im späten 17. Jahrhundert entstand in Europa der Konsum einer breiten Bevölkerungsschicht von Gütern und Dienstleistungen, die nicht lebensnotwendig waren. Diese Produkte können jedoch größtenteils nicht als „Luxuswaren“ - nach unserem heutigen Verständnis - verstanden werden, da sie nicht mehr nur einer geringen Elite zugänglich waren. Im Zuge des 18. Jahrhunderts nahm die Konsumgewohnheit unter allen Bevölkerungsschichten nochmals verstärkt zu.
Speziell der Konsum von kommerziell gefertigten Manufakturwaren wie Uhren, Spiegel, Kunstdrucke, Vorhänge, Möbel, Teppiche, Keramik, Porzellan, Silber und Zinn oder auch modischer Kleidung wie Strümpfe, Seidenkleider, Taschentücher, Schirme und Fächer nahm enorm zu. Aber auch bei der Ernährung und den Genussmitteln war ein Wandel zu verzeichnen. Ca. 25% der Bevölkerung konsumierte nun Tabak, Zucker und koffeinhaltige Getränke.
Der stärkste Sektor des Konsums und somit auch der damaligen Wirtschaft war das zunehmende Interesse an Bekleidung und Schmuck. Dies zeigt sich unter anderem an der hohen Anzahl von Kleiderdiebstählen im 18. Jahrhundert sowie an florierenden Secondhandshops, bei denen diejenigen einkauften, die sich nichts anderes leisten konnten. Die ersten Secondhandshops in Deutschland kamen ebenfalls im späten 17. Jahrhundert auf. Auch für den Bereich des Haushalts wurde neuerdings viel konsumiert. Es bestand ein zunehmendes Interesse an Haushalts- und Küchenwaren, woraus auch veränderte Haushaltsrituale resultierten. Ein weiteres Merkmal für den Konsum des 18. Jahrhunderts war das Aufkommen von Waren speziell für Kinder, wie z.B. Kinderbücher. Auch Sportgeräte wurden vermehrt angeschafft. All diese Dinge wurden bald in jedem „anständigen“ mittelständischen Haushalt als unumgänglich angesehen. Markenware und Markenimages spielten dabei, außer in der Pharmazie, noch keine besondere Rolle.[1]
Am meisten konsumiert wurde unter den Wirtschaftseliten, Handel betreibenden Schichten und vielen Handwerkern in den Städten.[2] Aber auch in den ärmsten Familien fand man nicht selten z.B. Bilder an den Wänden oder andere, nicht lebensnotwendige Güter.[3]
England und die Niederlande führten den Konsum innerhalb Europas an,[4] wobei Frankreich und England als die Zentren für Mode und Kultur galten. Aber auch in Deutschland fand man alle Merkmale der frühen Konsumgesellschaft! Wie in anderen Ländern Europas konsumierte man alle möglichen Güter, bereiste die „Antike“ in Italien, genoss die Landschaften der Schweiz und kleidete sich wie in Paris und London. Deutsche Komponisten ergänzten den Markt der italienischen und franzö n Tradition und waren überall in Westeuropa ein weit verbreitetes Konsumgut.[5]
Besonders ausgeprägt war das Konsumbewusstsein in Großstädten wie Hamburg und Berlin, dicht gefolgt von kleineren Städten wie Frankfurt, Dresden und Leipzig. Im Laufe des 18. Jahrhunderts verbreitete sich das Interesse an Konsum weiter über die zahlreichen Residenz- und Universitätsstädte und war bald in allen deutschen Territorien mehr oder weniger stark vorhanden.[6]
Diese „Konsumrevolution“ war jedoch nicht nur das Anzeichen einer beginnenden Massenproduktion. Viele der konsumierten Güter wurden in kleinen Einheiten hergestellt und waren nicht standardisiert. Die ersten Anzeichen der aufkommenden Massenproduktion können also nicht als wesentlicher Grund für den Anstieg des Konsums gesehen werden[7], sondern eher umgekehrt die höhere Produktion als Resultat eines größer werdenden Verlangens.
Um nun einen groben Überblick über das Gefüge der Faktoren zu geben, die formal für den Anstieg des Konsums eine Rolle gespielt hatten, stütze ich mich auf die von John Brewer zusammen getragenen Forschungsergebnisse.
Sehr interessant ist, dass der Besitz von Waren stetig zugenommen habe, wohingegen die Reallöhne gleich geblieben oder sogar zurück gegangen seien. Somit könnte also auch ein Lohnanstieg als Grund für den vermehrten Konsum ausgeschlossen werden.
Forschungen der frühen Neuzeit ergaben - so Brewer - dass im 17. und 18. Jahrhundert bessere Vertriebssysteme entwickelt worden seien und die Märkte sowie der Einzelhandel stark zugenommen habe. Die Märkte und Kirmessen fanden nun viel häufiger statt und die Geschäfte waren dann in den meisten Gegenden - bis auf Sonntags - täglich geöffnet. Auch Hausierer waren eine neue Erscheinung im 18. Jahrhundert.
Als einen weiteren wesentlichen Faktor in Bezug auf den Anstieg des Konsums nennt Brewer, dass bereits hoch entwickelte Verlagshäuser, kommerzielle Werkstätte ( Manufakturen ), Ateliers zur Ausstellung von Bildern und eine gute Kommunikations- sowie Infrastruktur existiert habe. In vielen Zeitungen fand man außerdem einfache, undurchdachte Reklame, die sich meist darauf beschränkte, schlicht die Funktion des Produkts anzupreisen. Zudem gab es schon damals verschiedene Verkaufsmethoden wie Sonderangebote, Preisausschreiben, Versandkataloge, Zertifikate und abgepackte Waren.
Des Weiteren zeigten die Forschungen, dass immer mehr Menschen aus dem Wunsch heraus, Konsumgüter zu erwerben, länger und härter arbeiteten. Somit sei also, so die Ergebnisse Brewers, nicht, wie man annehmen könnte, der Konsum ein Resultat eines höheren Einkommens, sondern ein bestehendes Verlangen nach Konsum die Ursache für eine Veränderung der Arbeitspraktik, also eines höheren Einsatzes gewesen.[8]
Diese letzte These, bei der sich Brewer auf drei Werke des Historikers Jan de Vries bezieht, ist für diese Arbeit im Folgenden von großer Bedeutung, da sich das Verlangen der Menschen nach Konsum, auch meiner Ansicht nach nicht alleine durch die oben genannten Faktoren, wie die Verbesserung der Märkte, die gute Infrastruktur oder die Kapitalverschiebung vom Adel auf bürgerliche Schichten sowie durch bestimmte Verkaufsstrategien erklären lässt. Woher kam also dieses Verlangen nach Konsum außerdem?
Die Bürger im Deutschland des 18. Jahrhunderts, in einer Gesellschaft, in der formal noch immer der Adel tonangebend war, bemühten sich stets, bei den höheren Schichten - seien es besser gestellte Bürger oder Adelige - Anerkennung hervorzurufen. Dies vermochte man beispielsweise durch Wohltätigkeit, Teilnahme am öffentlichen Leben wie z.B. durch Theaterbesuche[9] oder aber durch die Darstellung der eigenen Person zu erreichen.
Da man durch seine Eltern einem gewissen Stand mit speziellem sozialen Ansehen zugeordnet wurde, konnte eine entsprechende Präsentation seiner Person nach Außen hin dazu dienen, seinen Geburtsstand zu überwinden und vor der Gesellschaft als etwas „Besseres“ zu gelten. So konnte man zwar die sozialen Nachteile nicht ganz aufheben, sie jedoch tatsächlich mindern und zudem das Selbstbewusstsein stärken. Diese Angestrengtheit der bürgerlichen Schichten führte vermutlich nicht selten zu unglaubwürdigen und aufgesetzten Verhaltensweisen.[10] Oft schienen einige Bürger durch ihre positiv wirkende Präsentation jedoch durchaus Erfolg gehabt zu haben. Bei Knigge heißt es diesbezüglich:
„Wir sehen die wichtigsten, hellsten Köpfe in Gesellschaften, wo aller Augen auf sie gerichtet waren und Jedermann begierig auf jedes Wort lauerte, das aus ihrem Munde kommen würde, eine nicht vorteilhafte Rolle spielen; sehen, wie sie verstummen […] indes ein andrer, äußerst leerer Mensch seine drei und zwanzig Begriffe, die er hie und da aufgeschnappt hat, so durcheinander zu werfen […] versteht, daß er Aufmerksamkeit erregt und selbst bei Männern von Kenntnissen für etwas gilt. […], und daß die Geistreichen, von der Natur mit allen innern und äußern Vorzügen beschenkt, oft am wenigsten zu gefallen, zu glänzen verstehen.“[11]
In Gesellschaft „glänzen“ konnte man dabei jedoch nicht nur durch Sprachgebrauch und Bildung, sondern durch eine Vielzahl neuer Gepflogenheiten wie dem Konsum einiger neuen Genussmittel (- wie Tabak, Kaffee und Tee -) oder auch durch prestigeträchtige Objekte wie durch Haus, Garten, Einrichtung[12] sowie durch die Kleidung und das äußere Erscheinen[13]. Bereits der zeitgenössische Adolph Knigge musste feststellen, dass es in Deutschland sehr war, bei der Gesellschaft – bei Menschen „aus allen Klassen, Gegenden und Ständen“ - „ohne Zwang, ohne Falschheit, ohne sich verdächtig zu machen“ auf Gefallen zu stoßen, da es eine so große „Verschiedenheit der Gegenstände“ gegeben habe, die die Aufmerksamkeit der verschiedenen Volksklassen erregt habe.[14] Dabei postuliert Knigge aber zugleich, dass jeder Mensch in der Welt nur soviel gelte, „wozu er sich selbst“, nach Außen hin, mache.[15]
Die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts entwickelte sich demnach - um ein Modell des Soziologen Pierre Bourdieu anzuwenden - zu einer Art „Kampfschauplatz“, zu verstehen als ein System von Aktionen und Reaktionen und einem System objektiver Beziehungen, worin die Positionen und Standpunkte relational bestimmt waren. Dabei kann der Konsum von Gütern zur Verbesserung des sozialen Status als eine Art „Umstellungsstrategie“ angesehen werden, durch die versucht wurde, die Stellung innerhalb der Sozialstruktur zu behaupten oder zu verbessern.[16] Auf diesem „Kampfschauplatz“ wurden somit - verfolgt man dieses abstrakte Modell - „Konkurrenzkämpfe“ ausgetragen, bei denen mit Hilfe des Systems distinktiver, also Positions- zuweisender Zeichen (z.B. Mimik, Sprache etc.) und Produkte (z.B. Schmuck, Kleidung)[17] angestrebt wurde, Vorteile gegenüber anderen Menschen, bzw. Klassen, zu erringen.[18] Dass hierbei der Begriff eines „Konkurrenzkampfs“ keinesfalls übertrieben ist, lässt sich anhand einiger zeitgenössischer Gesellschaftsanalysen Knigges veranschaulichen:
„Es ist unterhaltend für den Beobachter zu sehn, welchen Tauschhandel von Schmeicheleien die Menschen unaufhörlich untereinander treiben und wie fast alle ihre Verbindungen auf diese Warenspekulation berechnet sind. […] Fast die ganze Kunst der feinen Lebensart beruht weniger auf zweckmäßigen, wahren, gegenseitigen Gefälligkeiten als auf einem stillschweigenden Vertrage, sich einander Gesinnung und Empfindungen zu heucheln, wovon nicht eine Spur im Herzen und Kopfe ist. […] So bereitwillig aber auch die Menschen sein mögen, da, wo es ihnen Vorteil bringen kann, auch wider ihre Überzeugung für die Unvollkommenheit ihrer Mitbürger blind zu sein und sich gegenseitig mit Beifall und Lob zu hintergehen, so wenig Gerechtigkeit lassen sie […] dem wahren Verdienste widerfahren, wenn dadurch das ihrige verdunkelt werden kann.“[19]
Die repräsentierte soziale Welt konstituierte sich demnach in Bezug auf die „Konkurrenzkämpfe“ aus einer Beziehung zwischen klassifizierbaren Praxisformen und Gütern einerseits und einem Klassifikationssystem, bestehend aus der Unterscheidung und Bewertung der Formen und Güter. Als solche Klassifikationssysteme dienten im 18. Jahrhundert – und das war neu - der „Geschmack“[20], die „Mode“, „tugendhaftes Verhalten“ oder auch Vorgaben aus Anstandsbüchern, die, je nach Klassenzugehörigkeit unterschiedlich bewertet wurden.
In diesem „Spielfeld“ der sozialen Repräsentation ging es also um strukturierte Produkte („opus operatum“) innerhalb einer klassifizierenden Struktur („modus operandi“), der eine in den Köpfen der damaligen Menschen verankerte Ordnung zugrunde lag und die sich durch die Lebensstile, bzw. Praxisformen äußerten.[21] Der Aneignung dieser Lebensstile, also der Aneignung spezifisch klassifizierter und klassifizierender Produkte oder Verhaltensweisen, lag dabei ein ebenfalls klassenspezifisches Verständnis von „Geschmack“ zugrunde.
Die „soziale Konditionierung“ erfolgte dann durch den meist gezielten Einsatz des „opus operatum“ - z.B. Häuser, Möbel, Kleidung, Tabak, Tee, Bücher, Gemälde, Parfums oder auch die gesellschaftlichen (Verhaltens-) Praktiken - wodurch das Anderssein demonstriert werden sollte.[22] Zum Kaufanreiz wurde somit nicht die Funktion der Produkte, sondern deren Bedeutung. Die Aufmerksamkeit der Bürger des 18. Jahrhunderts galt vor allem solchen Produkten, die Abgrenzung und Zuordnung in der Gesellschaft ermöglichten.[23]
Dem Ganzen lag ein tief in den Köpfen der damaligen Menschen verankerter Abgrenzungs- und Differenzierungswille zugrunde, der mit unseren heutigen pluralistisch geprägten gesellschaftlichen Einstellungen nur noch schwer nachzuvollziehen ist.[24] Oft wurden die konsumierten Güter dabei auch als Loblied an den materiellen Reichtum des frühmodernen bürgerlichen Lebens verstanden,[25] der durch die Geldverschiebung während des Siebenjährigen Krieges sowie die zunehmende Liberalisierung des Wirtschaftssystems zu Stande gekommen war.[26]
Inwiefern es diesbezüglich schwierig gewesen sein musste, das „opus operatum“ tatsächlich situationsgerecht einzusetzen, um in „der Kunst zu leben“ nicht als unkompetent zu erscheinen und inwiefern die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts extrem von materialistischen Äußerlichkeiten und Vorurteilen geprägt war, verdeutlichen Ausschnitte eines Artikels aus einem der ersten Lifestylemagazine namens „Der Menschenfreund“ von 1747. Unter der Überschrift „Von der Kunst zu leben“ lässt sich dort Folgendes finden:
„Ein munteres Wesen, ein scherzhaftes Gespräche, eine gewisse kleine Nachläßigkeit in Reden und Handlungen kann uns bey unseres gleichen beliebt machen, welches aber bey Personen von höherem Stande nicht eben so gut statt finden wird. Man würde sich auch sehr irren, wenn man glauben wollte, man müßte immer einerley Art der Aufführung beybehalten, ohne insbesondere auf das Alter, und die einem jeden Alter eigne Umstände zu sehen. Nicht nur ein jeder Stand, sondern auch ein jedes Alter hat etwas eignes.[…] Wenn man demnach recht zu leben wissen will, so muss man bey jedermann, so zu reden, den Mantel nach dem Winde hängen.“[27]
Auch Knigge analysierte diesen Sachverhalt, beschreibt jedoch darüber hinaus auch einen verstärkten Trend der Mitmenschen seiner Zeit, sich als „Männer von hervorstehenden Talenten, von ausgebreitetem Rufe oder von großem Gewichte“[28] hervorzutun, oder so zu erscheinen, als sei man wohlhabend, um sich somit in den „Zirkel Reicher und Vornehmer“ einzuschleichen.[29] Knigge protokolliert diesbezüglich, dass häufig „die Sitten der sogenannten höhern Stände auf eine zuweilen in das Komische fallende Weise“ kopiert worden seien. Außerdem habe man versucht, ausländische Sprachen in der Gesellschaft zu sprechen, die man eigentlich gar nicht beherrschte oder aber man habe sich „auf phantastische Weise“ gekleidet, nur um nach Außen hin als reich und vornehm zu gelten.[30]
Eng in Verbindung mit der Bedeutung von Produkten steht der „gute Geschmack“. Auch das Bewusstsein der Bürger für einen solchen war eine Neuheit, die sich während des 18. Jahrhunderts nach und nach ausdifferenzierte.
Noch im 17. Jahrhundert verstand man unter dem Begriff lediglich den Sinn der Zunge oder des Gaumens. Dann, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Begriff des „Geschmacks“ auf die Bereiche der Poetik und Rhetorik angewandt. Ab 1760 wurde der Begriff dann in der Malerei eingeführt, wobei er in der Regel einen gewissen Stil bezeichnete.[31]
In den folgenden Jahrzehnten wurde die Bedeutungsebene von „Geschmack“ dann noch mehrmals - unter anderem durch Immanuel Kant - erweitert. Kant verstand unter „gutem Geschmack“, von ihm auch als „Wohlgefallen“ bezeichnet, eine Sinnesempfindung, etwas nicht nur nach eigenem Gefallen, sondern nach einer, vom Großteil der Gesellschaft als positiv empfundenen Regel zu wählen.[32] Zugleich sieht Kant die Ursache einer solchen Wahl in einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich wetteifernd nach Außen hin präsentieren wollen. Somit ließ sich „Geschmack“ nicht mehr nur auf ein eingeschränktes Spektrum von Produktionen anwenden, sondern umfasste nun bald alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Ein Bürger des 18. Jahrhunderts - so die damaligen Komplimentierbücher - hatte auf einen „guten Geschmack“ Wert zu legen, da dieser als eine bürgerliche Tugend angesehen wurde.[33]
„Alle Darstellung seiner eigenen Person oder seiner Kunst mit Geschmack setzt einen gesellschaftlichen Zustand (sich mitzuteilen) voraus, der nicht immer gesellig (teilnehmend an der Lust anderer) sondern im Anfange gemeiniglich barbarisch, ungesellig und bloß wetteifernd ist. […] Geschmack […] ist also ein Vermögen der gesellschaftlichen Beurteilung äußerer Gegenstände in der Einbildungskraft“[34]
Diese Ausführungen zeugen gewissermaßen von einer frühen Form der Bedürfniserzeugung durch den imaginierten Prestigewert von Waren als gesellschaftlich klassifizierende Statussymbole. In der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in der sich unterschiedliche gesellschaftliche Positionen zunehmend kontrastierter durch verschiedene Lebensverhältnisse und Lebensweisen darstellten, bewirkte nun der Geschmack – um in den Worten Pierre Bourdieus zu sprechen - „dass man hat, was man mag, weil man mag, was man hat, nämlich die Eigenschaften und Merkmale, die einem de facto zugeteilt und durch Klassifikation de jure zugewiesen werden.“[35]
Das gesellschaftliche Auftreten ist also das entscheidende Schlüsselmoment, wenn es darum geht, die Hintergründe zur Entstehung dieser frühen Konsumgesellschaft zu verstehen. Kann man nun aber als Grund für den so drastisch ansteigenden Konsum der deutschen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, neben seiner Eigenschaft zur Befriedigung existenzieller Bedürfnisse wie Hunger usw., annehmen, dass er ein Mittel zur sozialen Imitation höherer Schichten war?
Jedenfalls wird dies von den Forschern häufig behauptet[36] und nach meinen Untersuchungen erscheint mir diese These durchaus auch für das Deutschland des 18. Jahrhunderts gerechtfertigt. Selbst die meisten zeitgenössischen Autoren wie Kant und Knigge waren der Ansicht, dass die Gesellschaft ihrer Zeit vor allem konsumiere, um sozial höher stehende Menschen nachzuahmen. Eine zu sehr einseitige Sichtweise ist allerdings auch hier gefährlich. Meiner Ansicht nach war es ein Gefüge vieler wechselseitig wirkender Kausalzusammenhänge, die die Entstehung eines neuen (bürgerlichen) Konsumenten möglich machte. Ein Gefüge verschiedener dynamischer Kräfte – wie ich es unter Punkt 3 näher beschrieben habe – war gewissermaßen die Voraussetzung dafür, dass das Verlangen nach sozialer Positionsverbesserung auf einen fruchtbaren Boden fallen, sich drastisch vergrößern und nun auch praktisch umgesetzt werden konnte.
Eine weitere Theorie liefert Colin Campbell in seinem Werk „Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism“. Er bezieht sich dabei auf England im 18. Jahrhundert und versteht den Konsum als eine Art Hedonismus, der dem Konsumenten während seines Einkaufs und darüber hinaus, Glücksgefühle bereiten würde. Somit könnte Konsum auch als eine Art Lebensgefühl oder „Livestyle“ angesehen werden.[37]
Meines Erachtens stehen diese beiden Theorien allerdings nicht im Widerspruch zu einander, denn es ist zu vermuten, dass ein Konsument, dadurch, dass er durch bestimmte Waren seine gesellschaftliche Stellung verbessert oder zu mindest das Gefühl hat, dies zu tun, auch gewisse Glücksgefühle erfährt. Somit würde das Eine das Andere nicht ausschließen, ganz im Gegenteil. Hierzu bietet es sich an, einen Beitrag von Immanuel Kant zu zitieren, der den eben von mir beschriebenen Sachverhalt bereits anhand seiner zeitgenössischen Gesellschaft analysierte:
„Der Geschmack (gleichsam als formaler Sinn) geht als Mitteilung eines Gefühls der Lust oder Unlust an Andere und enthält eine Empfänglichkeit, durch diese Mitteilung selbst mit Lust affiziert, ein Wohlgefallen (complacentia) daran gemeinschaftlich mit Anderen (gesellschaftlich) zu empfinden.“[38]
Im 18. Jahrhundert wuchs das Interesse des gesamten Volks an Literatur jeglicher Art. Das war neu, da das Lesen während des Mittelalters hauptsächlich dem Klerus, ab dem 17. Jahrhundert wenigen gebildeten höheren bürgerlichen und adeligen Schichten vorbehalten war.[39]
Wohingegen man es vor dem 18. Jahrhundert pflegte, wenige Bücher aus der meist kirchentreuen Hausbibliothek mehrmals und intensiv zu lesen, um im Rahmen einer patriarchalisch- genossenschaftlichen Bildung das Geglaubte, Gewohnte und Gültige in sich zu festigen und zu stärken versuchte, so entstand dann auch erstmals eine Flut von kurzfristiger Freizeitliteratur wie die ersten Formen von Romanen oder Lifestyle- und Modemagazinen[40]. Es wurden nun zunehmend unter allen Bevölkerungsschichten literarische Erzeugnisse konsumiert und es wurde zu einem Trend, in Gesellschaft über Literatur zu debattieren.[41]
Besonders charakteristisch für die Entwicklungen des Literaturkonsums ist die Entstehung und Durchsetzung einer Vielzahl neuer, periodisch erscheinender Zeitschriften und Zeitungen als neue Massenkommunikationsmittel. So hatte sich das Zeitschriftenwesen, das zunehmend für verschiedene Wissensgebiete und soziale Schichten ausdifferenziert wurde, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts allgemein durchgesetzt und erlebte in der zweiten Jahrhunderthälfte einen explosionsartigen quantitativen Aufstieg.[42] Die wohl damals berühmteste deutsche Zeitschrift, der „Hamburger Patriot“, eine „moralische Wochenschrift“, erreichte nach zeit-genössischen Schätzungen bereits um 1720 eine Verkaufsziffer von ca. 5 000. Eine derartig hohe Auflage sollte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch von wenigen Zeitschriften übertroffen werden. Schillers „Historischer Calender für Damen“ erreichte in einzelnen Jahrgängen bis zu 10 000, Wielands „Teutscher Merkur“ und Nicolais „Allgemeine Deutsche Bibliothek“ bis zu 2 500 Abonnenten. Das „Journal des Luxus und der Moden“, herausgegeben von Friedrich Justin Bertuch, verzeichnete durchschnittlich eine Auflage von etwa 1 500. Dabei entstand eine Vielzahl weiterer Zeitschriften, von denen jedoch viele die ersten Jahre ihrer Existenz aufgrund von mangelnder Lesernachfrage nicht überdauerten.[43]
Auch auf dem bereits sehr viel älteren Buchmarkt vollzogen sich tiefgreifende Veränderungen im Zuge des 18. Jahrhunderts, wobei zunächst eine überdimensionale Steigerung der Produktionszahlen während der zweiten Jahrhunderthälfte ins Auge fällt.[44] Ein Leipziger Messkatalog verzeichnet beispielweise eine Steigerung von Neuerscheinungen von über 400%, gemessen von 1700 bis 1800. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Literatur mit neuen Inhalten zunehmend die alten theologischen Inhalte - quantitativ betrachtet – ablöste. In einem Vergleich der Auflagen von Neuerscheinungen von 1740 bis 1800 stellt sich z.B. Folgendes dar: Die Auflage von „Populär- moralischen Schriften“ und Literatur aus den Bereichen „Mathematik, Naturwissenschaften“ stieg in diesem Zeitraum um ca. 500%, die Auflage von Literatur aus dem Bereich der „schönen Künste und Wissenschaft“ sogar um rund 1100%, wohingegen für Literatur mit theologischen Inhalten im selben Zeitraum nur einen Zuwuchs von ca. 20% zu verzeichnen ist.[45] Dieser Sachverhalt zeugt nicht nur vom explosionsartigen Anstieg literarischer Produkte, sondern auch von einem anderen „Leseverhalten“, vor allem, was die Inhalte betrifft.
Eine wichtige Vorraussetzung für den ansteigenden Literaturkonsum und den Wandel in diesem Bereich waren Veränderungen bezüglich der Produktion literarischer Produkte. Der Mäzen, der bis dahin für die Honorierung von Autoren verantwortlich war, wurde nach und nach durch selbstständige Verleger abgelöst. Erst dadurch wurden die literarischen Produkte zu einer marktrelevanten Ware, deren Wert sich von nun an nach ihrer Verkäuflichkeit auf dem freien Markt und somit auch von der Nachfrage unter der Bevölkerung richtete.[46] Dies hatte wiederum im Wesentlichen zwei markante Folgen: Zum Einen profitierten zunehmend Verleger und Autoren von dieser Entwicklung- so schätzt man heute, dass die Anzahl der Autoren zwischen 1755 und 1800 von rund 2500 auf ca. 10 000 anstieg. Zum Anderen führte die Tatsache, dass die Literatur nun als Massenkonsumgut zu Absatz auf dem Markt führen musste dazu, dass man sich an ein neues Publikum aus den bürgerlichen Schichten richtete, was dann zu veränderten Inhalten führte. Durch einen Ausschnitt aus Kants Polemik gegen Nicolai mit dem Titel „Über die Buchmacherei“ lässt sich dieser Sachverhalt deutlich veranschaulichen:
„Ein erfahrener Kenner der Buchmacherei wird als Verleger nicht erst darauf warten, daß ihm von schreibseeligen, allezeit fertigen Schriftstellern ihre eigene Ware zum Verkauf angeboten wird; er sinnt sich als Direktor einer Fabrik die Materie sowohl als die Fasson aus, welche vermutlich – es sei durch ihre Neuigkeit oder auch Skurrilität des Witzes, damit das lesende Publikum etwas zum Angaffen und zum Belachen bekomme, - welche, sage ich, die größte Nachfrage, oder allenfalls auch nur die schnellste Abnahme haben wird.“[47]
Während des 18. Jahrhunderts erweiterte sich das Spektrum von literarischen Inhalten. Diese waren von nun an auch geprägt von den neuen Wissenschaften, den Künsten, der Mode, dem Gedankengut der Aufklärung und Anderem. Man kann in diesem Zusammenhang auch von einer „Verbürgerlichung des Literatur“ sprechen.[48] Während im 17. Jahrhundert die fast ausschließlich theologischen Inhalte durch einige vorwiegend höfisch orientierte Inhalte ergänzt wurden, nahm die Literatur im 18. Jahrhundert einen völlig anderen, nämlich „bürgerlichen“ Charakter an.[49] Die Dramenformen wurden insofern „verbürgerlicht“, als dass nun Bürger als menschliche Individuen, nicht mehr bloß als Standesangehörige dargestellt wurden und in diesen „bürgerlichen Trauerspielen“ das bürgerliche Leben[50] – kein episches Heldenleben und meistens konträr dem höfischen Leben dargestellt[51] – als heldenhaft stilisiert wurde. Zudem ersetzten auch bürgerliche Helden aus Romanen die meist höfischen Helden aus dem Epos ab. Während der Held des Epos sich in einer Welt der göttlichen und ständischen Ordnung befand, bewegt sich der Held des Romans sich in meist traumhaft utopischen Geflilden und in zunehmend psychologisierten Rahmenhandlungen. Solche Tendenzen einer „Verbürgerlichung“ zeigten sich auch bei den meisten anderen literarischen Erzeugnissen dieser Zeit.[52]
Durch diese Art der Kommerzialisierung der Inhalte sowie ihrer Funktionen zum Meinungsaustausch, als Diskussionsplattform und der allgemeinen Kommunikation aber auch als eine neue Freizeitbeschäftigung führte dazu, dass Literatur zu einem elementaren Grundbedürfnis vieler bürgerlicher Schichten wurde.[53] Dadurch war die Nachfrage für den ständig expandierenden Literaturmarkt gesichert. Einen weiteren Beleg für diese Kommerzialisierung des Literaturmarkts aber auch dafür, dass diese Tendenz durchaus von manchen Zeitgenossen äußerst skeptisch betrachtet wurde, liefert Knigge:
„Eine noch verächtlichere Art von schriftstellerischem Wucher äußert sich bei solchen Leuten, die, mit allen Talenten zu einer edlen Beschäftigung ausgerüstet, aus dem verderbten Geschmacke des Publikums Vorteil ziehen und literarische Modeartikel liefern, die jeden Mann von reinerm Gefühl anekeln; Leute, die dann, wenig bekümmert um echten Geschmack und Sittlichkeit, die Messen bald mit Ritter-, Geister- und Ordensmärchen, bald mit Romanen voll matter Empfindelei, bald mit mystischem Unsinne, je nachdem grade die eine oder andre dieser Torheiten im Schwange geht, überschwemmen.“[54]
Die neuen literarischen Inhalte drangen dabei häufig sehr tief ins Bewusstsein der Konsumenten ein, indem sie auch dem emanzipatorischen Interesse und damit der Bewusstseinsbildung der Bürger diente. Vor allem viele Frauen, die Jeunesse dorée oder auch viele Jugendliche der wohlhabenden Schichten verfielen dabei wohl oft in eine Art „Lesewut“, einer Art fieberhaften Auslieferung seiner selbst an die Welt der Literatur. Peter Michelsen vergleicht dies sogar mit dem Drang nach Bewusstseinserweiterung heutiger Drogenkonsumenten.[55] So gab es in Deutschland beispielsweise zeitweise eine so genannte Werther- Mode unter den Jugendlichen, wobei die Lektüre über „die Leiden des jungen Werthers“ nicht nur die Lesegewohnheiten, sondern auch Manieren, Freizeitverhalten und Kleidung der jüngeren Angehörigen des Bildungsbürgertums beeinflusste.[56] Der Literaturkonsum und die daraus erworbene „Bildung“ konnte den Menschen auch dazu dienen, sich in Gesellschaft in ein rechtes Licht zu rücken, sich einer bestimmten Klasse anzuschließen oder ihr im sozialen Kontext zugeordnet zu werden. Deshalb wurden literarische Kenntnisse oft auch vorgetäuscht, bzw. bildungsbürgerliche Verhaltensweisen nachgeahmt. Auch hieran lässt sich somit veranschaulichen, wie wichtig der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts die Repräsentation der eigenen Person war. Bei Knigge heißt es diesbezüglich:
„Man strebt nach Erwerbung neuer Kenntnisse, nicht sowohl um Geist und Herz zu veredeln und dadurch ein würdiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden, als vielmehr des eignen Genusses wegen und um damit prahlen zu können. Man legt sich auf schöne Künste und Sprachen, um in Gesellschaft zu glänzen und Lob einzuernten.“[57]
Man kann die These aufstellen, die neuen Lesegewohnheiten seien gewissermaßen auch eine der Voraussetzungen für die Entstehung einer neuen Konsumgesellschaft gewesen, da sie der Formierung von Konsumwünschen und deren Publikation diente.[58] In diesem Zusammenhang von Bedeutung ist das Aufkommen und das Lesen von Lifestyle- und Modemagazinen. Es war auch neu, beispielsweise beim Lesen des Journals des Luxus und der Moden, in Traumwelten einzutauchen, alternative Lebenswelten zu imaginieren und die eigene Lebenssituation gedanklich zu transzendieren, indem man sich beispielsweise überlegte, welche Wirkung man mit welchen Gegenständen in welchen gesellschaftlichen Kreisen erzielen könnte.[59] Wesentlich neu war also in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Wareninszenierungen, die dann die Phantasien der potentiellen Konsumenten in einem Maße anregten, wie es die Produkte an sich, hätte man sie nur beim Kleinhändler im Schaufenster liegen gesehen, wohl nicht vermocht hätten.[60]
Interessant in Bezug auf den Literaturkonsum, einen bürgerlichen Wandel und einem Wandel in der gesamten ständischen Gesellschaft sind auch die, ebenfalls im 18. Jahrhundert aufgekommenen Lesegesellschaften. Das waren demokratisch organisierte Verbindungen, in denen Bibliotheken angelegt wurden, über literarische Inhalte diskutiert wurde und Literatur „zirkulierte“, das heißt, sie wurde nach dem Lesen an andere Mitglieder weiter gegeben, wodurch Geld gespart werden konnte. Da in vielen Lesegesellschaften sowohl Bürger verschiedenster Schichten als auch Adelige vertreten waren, führte dies zu einer ständeübergreifenden Art von Kommunikation, die in der altständischen Gesellschaft zuvor nicht möglich gewesen wäre. Somit kann der Konsum von Literatur als wichtiges Medium bürgerlicher Schichten für ihren sozialen Aufstieg betrachtet werden.[61] Die bürgerlichen Gelehrten wie Professoren, Lehrer, studierte Beamte, Juristen oder Ärzte - die sich als Teil eines neu etablierten, ständig wachsenden „Bildungsbürgertums“ verstanden und unter denen der Literaturkonsum am höchsten war - formierten sich im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer der wichtigsten und einflussreichsten Gruppen der Bürger.[62]
In keiner vorhergehenden Epoche hatte es so viele Kenner und Liebhaber von Kultur gegeben, wie in der Epoche der Aufklärung.[63] Weshalb das Interesse des gesamten Volks an kulturellen „Gütern“ während des 18. Jahrhunderts so enorm anstieg und inwiefern diese „Güter“ zur Abgrenzung oder auch Annäherung der Volksklassen - ja sogar zur Konstituierung eines neuen „bürgerlichen“ Bewusstseins dienten, soll im Folgenden dargestellt werden. Darüber hinaus lässt sich anhand des Kulturkonsums veranschaulichen, inwiefern sich die verschiedenen Stände in der kulturellen Praxis tatsächlich mehr und mehr vermischten, obwohl sich das Bürgertum doch andererseits in ihrer kulturellen Theorie bewusst gegenüber den adeligen Ständen abgrenzen wollte.[64]
Mein Verständnis von „Kultur“ umfasst hierbei nicht nur die Summe aller künstlerischen Veranstaltungen und Angebote, sondern auch ein Ensemble von Werten und daraus abgeleiteten Normen sowie Formen des Verhaltens und der Kommunikation.[65] Die „Kultur“ greift demnach auch tief in fast alle elementaren Bereiche des Lebens ein.[66]
Auch für den Bereich des Kulturkonsums des 18. Jahrhunderts ist von einer Art „Kommerzialisierung“ zu sprechen. Die Vermarktung trennte sich in einem progressiven Prozess von der Produktion, neue Kulturunternehmer eroberten das Feld[67] und die Inhalte der aufgeführten Stücke wurden zunehmen für das breiter werdende Publikum „verbürgerlicht“.[68] Im Zuge dieser Entwicklung vergrößerte sich die Breite und Variation des kulturellen Angebots und Kultur wurde zudem wesentlich leichter für beinahe alle Klassen zugänglich. Die „Elite“ der bürgerlichen Kulturkonsumenten bestand zwar noch meist aus wohlhabenden Wirtschaftsbürgern wie Fabrikanten, Bankiers oder aber Beamte, doch der Genuss von Kultur kam auch den weitaus weniger wohlhabenden Bürgern zu Gute. Kultur konnte nicht nur direkt auf der Bühne, im Konzert oder in der Ausstellung, sondern auch indirekt über die Presse, im Journal, im Buch, im Druck oder sogar per Katalogbestellung konsumiert werden. In Kaffeehäusern konnte man beispielsweise Literatur nur für den Preis eines Getränks lesen und der Besuch von Auktionshäusern oder Kunsthandlungen war sogar gänzlich kostenfrei.[69]
Die („höfische“) Kultur in der noch sehr viel strenger hierarchisch gegliederten Gesellschaft des 16. und 17. Jahrhunderts bestand aus überwiegend epischen Inhalten, im Rahmen derer meist zwischen einem „Edlen“ und einem „Unedlen“ unterschieden wurde, wobei die Stücke, die dem gemeinen Volk gefallen hatten, als vulgär abgetan wurden. Dagegen entwickelte sich während des 18. Jahrhunderts – im Zuge der Kommerzialisierung und „Verbürgerlichung“ der Kultur – eine wesentlich weniger klassendifferenzierte Form der Kultur – eine „bürgerliche“ Kultur.[70] Manche Autoren sprechen in diesem Zusammenhang sogar von „Bürgerlichkeit“ als eine neue Form der Kultur.[71]
Wesentliche Unterschiede - was die Entwicklung von Konsumtendenzen betrifft - waren dabei, dass nun die Instrumente zur Aneignung dieser neuen Kulturform viel mehr Menschen zugänglich waren, als zuvor[72] - wohingegen man früher als Aristokrat geboren werden musste, um die in der Kultur repräsentierten „Heldenkriterien“ zu erfüllen und nicht als „vulgär“ in seinen kulturellen Tätigkeiten zu gelten, konnte man sich das Privileg eines solchen „kulturellen Kapitals“ dann durch kulturelle Bildung erarbeiten oder vortäuschen. Es entstand somit im Laufe des 18. Jahrhunderts eine europaweite kulturelle Identität, in der die Bedeutung von Standeszugehörigkeit und Nationalität zunehmend zurücktrat.[73] Da es sich auch die (zunehmend aufgeklärten) Aristokraten nicht nehmen ließen, an der neuen Vielfalt kultureller Angebote teilzuhaben[74], entwickelte sich die Kultur des 18. Jahrhunderts nach und nach zu einem ständeübergreifenden, gemeinsamen Gut, „das jedem zu einem Teil und allen gemeinsam gehörte“.[75]
So zogen es nun auch Aristokraten in zunehmendem Maße vor, anstatt ihren bisherigen Aktivitäten wie der Jagd, den Paraden oder den Bällen nachzugehen, ausgiebig Kultur, beispielweise in Theatern, Opern, Kunstausstellungen oder durch Literatur zu konsumieren. Somit vermischten sich die Aristokraten in der gesellschaftlichen Realität zunehmend mit wohlhabenden und gebildeten Bürgern, indem man gemeinsam an Kulturangeboten partizipierte.[76] Die gemeinsame kulturelle Aktivität führte dabei auch oft zu ausgiebiger Kommunikation unter den Ständen. Man saß zwar meistens getrennt, worauf der Adel auch Wert legte, dennoch verband das Unterhaltungsbedürfnis und der Kulturkonsum die Stände untereinander, da Aristokraten und Bürger nun die selben, zunehmend „verbürgerlichten“ Stücke im Theater ansahen, man an den selben Stellen pfiff und klatschte, die selben Romane las und gemeinsam über Modeneuheiten und Klatsch debattierte.[77]
Nach Pierre Bourdieu ist kein Güterbereich zur Manifestation sozialer Unterschiede so umfassend geeignet wie der der Kulturgüter, da in ihnen die Distinktionsbeziehung objektiv angelegt sei und diese Beziehung bei jedem konsumtiven Akt, bewusst oder nicht, gewollt oder nicht, durch die notwendigen Voraussetzungen ökonomischer sowie kultureller Aneignungsinstrumente reaktiviert werde. Dabei liefere gerade dieser Bereich eine unerschöpfliche Fülle an Möglichkeiten, dem Streben der Menschen nach Unterscheidung nachzugehen. Hier liegt dabei das Verständnis zugrunde, dass kulturelle Ausprägungen, die wir meist rein ästhetisch, als Varianten eines bestimmten Stils erleben von den ebenfalls kulturell partizipierenden Menschen als ein differenzierter Ausdruck von sozialen Qualitäten wahrgenommen wird. Die Kultur sowie deren Aneignung und Erwerb kann somit als ein – so Bourdieu - „zum Ding gewordenes Distinktionsverhältnis“, das selbst ein soziales Verhältnis darstellt, angesehen werden. Damit ist auch Yeats Kunstverständnis „Art is a social act of solidary man“ zum Ausdruck gebracht.[78] Kant analysierte diesen Sachverhalt bereits äußerst treffend an seinen Mitmenschen:
„Dagegen kann das Vergnügen überdem noch gefallen, nämlich dadurch daß der Mensch an solchen Gegenständen, mit denen sich zu beschäftigen ihm Ehre macht, ein Vergnügen findet: z.B. die Unterhaltung mit schönen Künsten statt des bloßen Sinnengenusses, und dazu noch das Wohlgefallen daran, daß er (als feiner Mann) eines solchen Vergnügens fähig ist.“[79]
Es entstand also, vorangetrieben durch den sich ausbreitenden Kulturkonsum, ein neues Feld der gesellschaftlichen Praktiken und der kulturellen Identität, in dem die verschiedensten Volksklassen vertreten waren. Auch in diesem Feld gab es aber eine „Elite“, wobei die Elite- bildende Kraft nun nicht mehr durch Geburtsstand und materiellen Besitz, sondern durch „Bildung“, also die Aneignung kultureller Kenntnisse, bestimmt war.[80] So beanspruchte auch das Bürgertum – speziell das Bildungsbürgertum - innerhalb des kulturellen Felds einen gewissen „Führungsanspruch“[81], den es im 19. Jahrhundert noch weiter ausbauen sollte, wobei es sich die Kultur dann zu einem exklusiven Betätigungsfeld machte und höfische Elemente wie Unterhaltung, Vergnügung und Abwechslung weitgehend aus diesem Bereich verbannte.[82] Die Annäherung zwischen Bürgertum und Adel nahm allerdings im Zuge dieser Entwicklung trotzdem noch weiter zu.[83]
Aber auch für die untersten Stände wie Bauern, Krieger und Arbeiter bot die Orientierung an der neuen „bürgerlichen“ Kultur zwei wichtige Funktionen: Einerseits konnte man durch die Übernahme kultureller Muster, Verhaltensweisen und Inhalte nach Außen hin demonstrieren, dass man nach zeitgenössischen Maßstäben kulturfähig war, was zu verbessertem sozialen Ansehen führte. Andererseits wurde diese Kultur zu einer Art emotionalem Anker der unteren Schichten, da sie an die nivellierend subversive Kraft von Bildung und „aufgeklärt“- kultureller Ideologie glaubten.[84] Auch hieran lässt sich verstehen, inwiefern die Bedeutung von sozialer Positionsverbesserung durch Güter und öffentliches Auftreten tief ins Bewusstsein der damaligen Menschen getreten war.
[...]
[1] Brewer, Jhon: Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen ?, S. 61-66.
[2] North, Michael: Genuss und Glück des Lebens, S. 217-218.
[3] Brewer, Jhon: Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen ?, S. 62.
[4] Ebd. S. 65.
[5] North, Michael: Genuss und Glück des Lebens, S. 217-220.
[6] Vgl. North, Michael: Genuss und Glück des Lebens, S.2-3.
[7] Brewer, Jhon: Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen?, S. 63.
[8] Brewer, Jhon: Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen ?, S. 63-66.
[9] North, Michael: Genuss und Glück des Lebens, S. 217-220.
[10] Vierhaus, Rudolf: Der Aufstieg des Bürgertums vom späten 18. Jahrhundert bis 1848/49, S. 66-69.
[11] Knigge, Adolph: Ueber den Umgang mit Menschen, München 1975, S. 21-22.
[12] North, Michael: Genuss und Glück des Lebens, S. 99-125.
[13] Ebd. S. 55-77.
[14] Knigge, Adolph: Ueber den Umgang mit Menschen, Hannover 1792, S. 10.
[15] Knigge, Adolph: Ueber den Umgang mit Menschen, München 1975, S. 39.
[16] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1993, S. 261.
[17] Ebd. S. 278.
[18] Ebd. S. 261-262.
[19] Knigge, Adolph: Über Eigennutz und Undank. Ein Gegenstück zu dem Buche: Über den Umgang mit Menschen, Tübingen 1996, S. 54-55.
[20] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. S. 277-279.
[21] Ebd. S. 281.
[22] Ebd. S. 282-283.
[23] Brewer, Jhon: Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen ?, S. 67-70.
[24] Vgl. Nipperdey, Thomas: Kommentar: „Bürgerlich“ als Kultur, in: Kocka, Jürgen (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 143-144.
[25] Brewer, Jhon: Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen ?, S. 67-70.
[26] Daniel, Ute: Hoftheater, S. 116-117.
[27] Der Menschenfreund, den 25. des Schriftmonats 1747, S. 205.
[28] Knigge, Adolph: Über Eigennutz und Undank, S. 47.
[29] Ebd. S. 51.
[30] Ebd. S. 51.
[31] North, Michael: Genuss und Glück des Lebens, S. 142.
[32] Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Königsberg 1798, S. 184-185.
[33] Frieling, Kisten O.: Ausdruck macht Eindruck. S. 75.
[34] Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Königsberg 1798, S. 187.
[35] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, S. 285-286.
[36] Brewer, Jhon: Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen?, S. 69.
[37] Brewer, Jhon: Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen?, S. 71.
[38] Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Königsberg 1798, S. S. 191.
[39] Michelsen, Peter: Der unruhige Bürger. Der Bürger und die Literatur im 18. Jahrhundert, in: Vierhaus, Rudolf (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, Heidelberg 1981, S. 112.
[40] Ebd. S. 107, S. 116.
[41] Dann, Otto: Die Lesegesellschaften und die Herausbildung einer modernen bürgerlichen Gesellschaft in Europa, in: Dann, Otto (Hrsg.): Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich, München 1981, S. 10-16.
[42] Ebd. S. 14-15.
[43] North, Michael: Genuss und Glück des Lebens, S. 6-7.
[44] Dann, Otto: Die Lesegesellschaften und die Herausbildung einer modernen bürgerlichen Gesellschaft in Europa, S. 15.
[45] Vgl. die tabellarischen Statistiken in: North, Michael: Genuss und Glück des Lebens, S. 9-10.
[46] Michelsen, Peter: Der unruhige Bürger, S. 108.
[47] Zit. nach: Ebd. S. 109-110.
[48] Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800- 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1987, S. 533.
[49] Michelsen, Peter: Der unruhige Bürger, S. 115.
[50] Ebd. S. 115-116.
[51] Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, S. 132-133.
[52] Michelsen, Peter: Der unruhige Bürger, S. 115-117.
[53] Dann, Otto: Die Lesegesellschaften und die Herausbildung einer modernen bürgerlichen Gesellschaft in Europa, S. 9-16.
[54] Knigge, Adolph: Über Eigennutz und Undank, S. 91.
[55] Michelsen, Peter: Der unruhige Bürger, S. 107.
[56] North, Michael: Genuss und Glück des Lebens, S. 71-72.
[57] Knigge, Adolph: Über Eigennutz und Undank, S. 68.
[58] North, Michael: Genuss und Glück des Lebens, S. 61.
[59] Vgl. Breen, T.H.: The meanings of things: interpreting the consumer economy in the eighteenth century, in: Brewer, John; Porter, Roy (Hrsg.): Consumption and the world of goods, London New York 1993, S. 253-254.
[60] Vgl. Ullrich, Wolfgang: Habenwollen, S. 46-50.
[61] Dann, Otto: Die Lesegesellschaften und die Herausbildung einer modernen bürgerlichen Gesellschaft in Europa, S. 9-29.
[62] Vierhaus, Rudolf: Der Aufstieg des Bürgertums vom späten 18. Jahrhundert bis 1848/49, S. 72.
[63] North, Michael: Genuss und Glück des Lebens, S. 1, S. 171.
[64] Vgl. Nipperdey, Thomas: Kommentar: „Bürgerlich“ als Kultur, S. 143.
[65] Bausinger, Hermann: Bürgerlichkeit als Kultur, in: Kocka, Jürgen (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 121-122.
[66] Nipperdey, Thomas: Kommentar: „Bürgerlich“ als Kultur, S. 143-144.
[67] North, Michael: Genuss und Glück des Lebens, S. 1-3.
[68] Vgl. Michelsen, Peter: Der unruhige Bürger, S. 111-119.
[69] North, Michael: Genuss und Glück des Lebens, S. 2.
[70] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, S. 357- 359.
[71] Vgl. Bausinger, Hermann: Bürgerlichkeit als Kultur.
[72] Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, S. 359.
[73] North, Michael: Genuss und Glück des Lebens, S. 3.
[74] Ebd. S. 3.
[75] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, S. 358.
[76] North, Michael: Genuss und Glück des Lebens, S.1.
[77] Ebd. S. 217-218.
[78] Ebd. S. 355-357.
[79] Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Hamburg 2000, S. 150-151.
[80] Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, S. 361-362.
[81] Bausinger, Hermann: Bürgerlichkeit als Kultur, S. 130.
[82] North, Michael: Genuss und Glück des Lebens, S. 218.
[83] Bausinger, Hermann: Bürgerlichkeit als Kultur, S. 132.
[84] Ebd. S. 133-134.
Kommentare