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Mehr InfosBachelorarbeit, 2011, 47 Seiten
Geowissenschaften / Geographie - Bevölkerungsgeographie, Stadt- u. Raumplanung
Bachelorarbeit
1,7
Das Wort Marginal stammt vom lateinischen Ausdruck margo und bedeutet Rand. In der Sozialgeographie kennzeichnet der Begriff Marginalität zwei Dimensionen der Armut. Zum einen die bausubstanzielle und im räumlichen Sinne aufzufassende Dimension in Form von randstädtischen, minderwertigen Siedlungsflächen. Zum anderen die unzureichende Beteiligungsmöglichkeit der Bewohner solcher Siedlungen an politischen und ökonomischen Entscheidungen als auch ihre Diskriminierung im soziokulturellen Bereich (Husa/Wohlschlägl 1988:31). In Großstädten von Entwicklungsländern werden Marginalsiedlungen anhand verschiedener Merkmale charakterisiert (Husa/Wohlschlägl 1988:31-32). Mertins (1984:434) nennt neben einer hohen Wohndichte mit einer überdurchschnittlich großen Anzahl von Personen je Wohnung, Hütte oder Haus auch die mangelhafte Bausubstanz. Im innerstädtischen Bereich spricht er in diesem Zusammenhang vom Verfall beziehungsweise von der Degradierung älterer Stadtviertel, während er im randstädtischen Bereich (bei vorhandenen Flächen auch im innerstädtischen Bereich) meist temporäre Behausungen und/oder Behelfshütten aus einfachen Baumaterialien (zum Beispiel Holz-Bambus-Lehm – Bauweise) anführt. Zudem stellt der Mangel an Wasserzapfstellen und sanitär-hygienischen Einrichtungen (nur für jeweils mehrere Haushalte verfügbar) eine unzureichende Wohninfrastruktur dar. Ein weiteres Merkmal ist die mangelhafte öffentliche Infrastruktur mit schlechten Straßen, einer schlechten oder gänzlich fehlenden Ver- und Entsorgung (Strom, Wasser, Abwasser, Müll), zu wenigen oder keinen Schulen und ungenügenden oder fehlenden medizinisch-hygienischen Einrichtungen. Außerdem ist ein hoher Anteil von Erwerbspersonen mit Niedrigsteinkommen oder unsicherem Einkommen aufgrund von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung charakteristisch. Viele Personen besitzen keine feste Arbeitsstelle, sondern nur Gelegenheitsjobs. Bähr und Mertins (2000:19-20) erweitern die genannten Charakteristika. Mit dem hohen Prozentsatz der in Armut lebenden Bevölkerung ist ein großer Anteil der im informellen Sektor Tätigen verbunden. Sie sprechen von einem Anteil von 60-75% in fast allen Marginalvierteln. Im informellen städtischen Sektor liegen zumeist die einzigen Verdienstmöglichkeiten für die städtische Unterschicht (Deffner/Struck 2007:26). Des Weiteren gibt es eine hohe und sogar noch ansteigende Kriminalität, welche zum einen durch wachsende Armut, zum anderen durch zunehmende Politisierung oder Tribalisierung der Bewohner und davon ausgehenden Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden lokalen Führern verursacht wird. Die Ausgrenzung der Bewohner vom „offiziellen“ städtischen Bereich, welche zu einer politischen und ökonomischen Unterprivilegierung sowie sozialer Diskriminierung beiträgt, ist ein weiteres Merkmal. Husa und Wohlschlägl (1988:31) fügen diesen Merkmalen hinzu, dass es keine international einheitliche Norm bei der Vergleichbarkeit von Wohnbedingungen und Wohnstandard in Marginalsiedlungen gibt. Dies kann nur regionsspezifisch vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Struktur und des wirtschaftlichen Entwicklungsstandes eines Landes erfolgen. Bei den Typen von großstädtischen Marginalvierteln wird in der einschlägigen Literatur prinzipiell zwischen sogenannten Squatter settlements (Hüttensiedlungen) und Slums unterschieden (Mertins 1984:437). Die Hüttensiedlungen sind informell entstandene irreguläre Siedlungen, die fast geschlossen die Ränder aller Agglomerationen der Dritten Welt umziehen. In kleinerer Zahl finden sie sich auch auf innerstädtischen Flächen, zumeist an naturräumlich ungünstigen Standorten (Bähr/Mertins 2000:19). Abbildung 1 zeigt eine solche Hüttensiedlung in Südafrika.
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Abbildung 1: Hüttensiedlung in Südafrika. Quelle: Focus Online (2010).
Laut Husa und Wohlschlägl (1988:33) liegen Squattersiedlungen auf zum Teil sehr großen Arealen am Rande der geschlossen bebauten Stadtfläche oder schließen als zellenförmige Erweiterungen an diese an. Meist existieren sie in schlecht erschlossenen, abgelegenen oder unwegsamen Landstrichen, zum Beispiel auf steileren Hanglagen oder überschwemmungsgefährdeten Standorten. Kennzeichnend für solche Hüttensiedlungen ist, dass die Behausungen von den Siedlern aus eigener Kraft in einfacher Bauweise und unter Zuhilfenahme aller nur möglichen Baumaterialreste errichtet worden sind. „Auch spätere Verbesserungsmaßnahmen erfolgen stets in Eigenleistung durch die Bewohner“ (Husa/Wohlschlägl 1988:33). Bezüglich des Rechtsstatus wird in illegale, semilegale und legale Ansiedlungen unterschieden. Hinzu kommen solche mit ungeklärtem Rechtsstatus. Illegale Hüttenviertel wurden mittels Landbesetzung oder „Invasionen“ errichtet, während bei den semilegalen die Bebauung der parzellierten Fläche nicht genehmigt ist. (Heineberg 2006:277). „In beiden informellen Siedlungstypen setzen unmittelbar nach der Entstehung zwei Prozesse ein“ (Mertins 2006:69). Zum einen eine baulich-infrastrukturelle Konsolidierung/Verbesserung, vor allem der fast ausschließlich in Selbsthilfe vorgenommene sukzessive Umbau der Hütte zum Haus sowie dessen spätere Vergrößerung durch Aufstockung und Anbauten. Zusätzlich entstandener Wohnraum wird überwiegend vermietet, was folglich den Verdichtungsprozess weiter fördert. Zum anderen eine Teilung der Parzellen zum Zwecke des Hütten-/Hausbaus auf den verkauften neuen Teilstücken. Bei semilegalen Wohnvierteln sind die Parzellen durchschnittlich 100 bis 150 qm groß. Auch dadurch wird der Verdichtungsprozess beschleunigt und infrastrukturelle und soziale Probleme werden größer (Mertins 2006:69). Die Slums, welche den anderen Haupttyp von Marginalvierteln darstellen, sind baulich und infrastrukturell degradierte, hochverdichtete ehemalige Wohnviertel der Ober- und oberen Mittelschicht, zum Teil auch der restlichen Mittelschicht, im Innenstadtbereich (Bähr/Mertins 2000:19). Die Gebäude und Wohnungen sind wegen Überbelegung und unterbliebenen Reparaturen in diesen schlechten Zustand geraten. Der Großteil der Slumbewohner lebt in einem Mietverhältnis, wobei die Vermietung oder Untervermietung vielfach zimmerweise, oft auch bettenweise, erfolgt. Die extrem hohe Wohndichte ist nicht zuletzt mit einer Erweiterung des Fassungsvermögens der Quartiere durch nachträglich erstellte Hinterhofbehausungen zu erklären. Slums stellen häufig aufgrund ihres Angebots an kleinen und zentral gelegenen Wohngelegenheiten den ersten Auffangort für alleinstehende oder zunächst ohne Familienangehörige zugewanderte Migranten dar. Bis in die sechziger Jahre waren Slums die wichtigsten Auffangquartiere für Zuwanderer aus unteren Sozialschichten. Durch Vordringen der modernen City und durch Sanierungsmaßnahmen nimmt ihr Umfang ständig ab. Weiterhin sind die massenhaften Zuwanderungsströme in die Metropolen der dritten Welt inzwischen so groß geworden, dass sie die Aufnahmekapazität der Slums überschreiten (Husa/Wohlschlägl 1988:32). Zumeist werden auch andere degradierte Viertel wie zum Beispiel „traditionelle“ Unterschichtviertel, planmäßig angelegte Arbeiterviertel aus der Zeit um die Jahrhundertwende oder ältere Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus zur Gruppe der Slums gerechnet. Zum Teil werden unter dem Begriff Slum auch alle städtischen Marginalviertel subsumiert (Bähr/Mertins 2000:19). Husa und Wohlschlägl (1988:32) sprechen in diesem Zusammenhang davon, dass diese Ausdehnung des Slum-Begriffs, welche man vor allem bei vielen englischsprachigen Schriften findet, sachlich nicht ganz richtig ist. Das folgende Bild zeigt ein von der Definiton her „typisches“ Slum in Phnom Penh, der Hauptstadt Kambodschas.
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Abbildung 2: Slum in Phnom Penh. Quelle: Amazing Data (2009).
In den Bereich städtische Marginalität kann man auch die sogenannten „pavement dwellers“ einordnen. Sie treten insbesondere in allen süd- und südostasiatischen Großstädten sehr zahlreich auf. In Bombay wird ihre Zahl zum Beispiel auf 500.000 – 700.000 geschätzt. Es handelt sich dabei um Obdachlose, die meist an Straßenrändern, auf Bürgersteigen, Plätzen, in Vorgärten, Parks et cetera schlafen, aber auch oft versuchen, dort mit Decken, Zelt- oder Plastikbahnen ihren Bereich abzugrenzen (Bähr/Mertins 2000:21-22). Diese Form ist somit kleinräumiger als ein ganzes Marginalviertel. Tabelle 1 von Mike Davis zeigt eine weltweite Übersicht über die Slumbevölkerungen. Er benutzt dabei den Begriff Slum stellvertretend für Marginalviertel. Auffallend ist, dass die Länder Äthiopien (99,4%), Tansania (92,1%) und Sudan (85,7) bei den Anteilen der städtischen Slumbevölkerung ein rein afrikanisches Spitzentrio darstellen.
Tabelle 1: Slumbevölkerungen pro Land. Quelle: Davis (2006), 29.
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Ähnliche Daten zeigt Abbildung 3. Sie zeigt die Anteile der städtischen Bewohner und die der Slumbevölkerung. Auch hier wird der Begriff Slum äquivalent zu Marginalviertel verwendet.
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Abbildung 3: Stadt- und Slumbevölkerung in den Entwicklungsländern. Quelle: Perlman (2010), 47.
„Brasilien weist weltweit eine der höchsten Ungleichverteilungen des Wohlstandes auf, die in den Metropolen und Megastädten am deutlichsten Gestalt annimmt“ (Deffner 2008:27). Der extrem breiten Unterklasse steht eine dünne Mittel- und potente Oberklasse gegenüber (Rothfuß 2008:20). Bei der Betrachtung des GINI Index, welcher die Verteilung und Konzentration des nationalen Vermögens angibt, fällt auf, dass Brasilien mit 0,61 auch andere süd- beziehungsweise mittelamerikanische Staaten teilweise weit hinter sich lässt. Allein die reichsten 10% besitzen mit 45,8% fast die Hälfte des Einkommens Brasiliens. Hingegen liegt dieser Anteil zum Beispiel in Deutschland bei nur 22,1%. Die folgende Tabelle 2 verdeutlicht das.
Tabelle 2: Sozio-ökonomische Charakteristika Brasiliens im Vergleich mit ausgewählten Ländern in Lateinamerika und Europa. Quelle: Rothfuß (2008), 14.
Selbst innerhalb einer Berufsgruppe sind die Einkommensunterschiede in Brasilien unverhältnismäßig hoch. So hat eine Recherche der anerkannten Wochenzeitung veja aus dem Jahre 1997 ergeben, dass die untersten Einkommensgruppen im Bereich des öffentlichen Dienstes der Polizei rund 185 US-Dollar im Monat verdienen, die höchste dagegen 32.000 US-Dollar. Das bedeutet ein Verhältnis von 1:173, wohingegen zum Vergleich in Deutschland das Verhältnis bei 1:5 liegt (Rothfuß 2008:20). Der seit 1940 existierende Mindestlohn liegt derzeit bei 380 Reais, was einem Wert von etwa 150 Euro entspricht (Rothfuß 2008:19). Laut dem brasilianischen Institut für Geographie und Statistik (portugiesisch: Instituto Brasiliero de Geografia e Estatstica, kurz IBGE 2005) müssen über die Hälfte der Bevölkerung mit einem Gehalt unter zwei Mindestlöhnen pro Monat auskommen. Im Jahre 2000 lag beispielsweise das Einkommen eines Achtels der Bewohner Rio de Janeiros unterhalb der absoluten Armutsgrenze und reichte nicht für die Befriedigung der grundlegendsten Bedürfnisse aus (Lanz 2007:193). Die brasilianische Gesellschaft kann mit einer Urbanisierungsrate von 83,3% weitgehend als eine städtische gekennzeichnet werden, mit fortgeschrittenem Einfluss globalisierter Lebensweisen, Wertvorstellungen und Konsummustern. Die auffallende Ungleichheit beim Einkommen spaltet jedoch nicht nur die Gesellschaft, sondern mit ihr auch den städtischen Raum zutiefst in eine reiche und eine arme Stadt. Diese beiden Extreme stehen sich nicht mehr großräumig wie zu Zeiten der „polarisierten Stadt“ am Ende der Verstädterungsphase um 1970 gegenüber. Sie begegnen sich in immer dichterem Nebeneinander sozial und physisch fragmentierter Räume (Deffner 2008:27). Abbildung 3 zeigt ein Modell der Struktur und Entwicklung der lateinamerikanischen Stadt von 1550 bis in die heutige Zeit. Am Ende der Verstädterungsphase gegen 1970 hat sich bereits ein großer Bereich mit zentralen und etlichen peripheren Marginalvierteln gebildet. Die Grafik von der „fragmentierten Stadt“ zeigt neben der Tatsache, dass zentrale Marginalviertel verdrängt wurden und sich die einzelnen Räume mit unterschiedlichen Sozialstatus vermehrt haben, auch, dass zum Beispiel periphere Marginalviertel in direkter Nähe zu Gated Communities, welche hier als barrio cerrado bezeichnet werden, liegen.
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Abbildung 4: Modell der Struktur und Entwicklung der lateinamerikanischen Stadt. Quelle: Borsdorf/Bähr/Janoschka (2002), 305.
Auch das folgende Modell der sozialräumlichen Differenzierung lateinamerikanischer Metropolen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigt das Eindringen von Marginalräumen beziehungsweise –vierteln in die Wohnbereiche statushöherer Schichten. Zudem wird hier zwischen legalem und illegalem Status sowie legaler und illegaler Entstehung von Vierteln unterschieden.
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Abbildung 5: Modell der sozialräumlichen Differenzierung lateinamerikanischer Metropolen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Quelle: Gebhardt et al. (2007), 654.
Zwischen 50 und 60% der städtischen Bevölkerung Lateinamerikas leben in inner- und randstädtischen Marginalvierteln (Heineberg 2006:279). In den insgesamt neun Metropolitanregionen Belém, Fortaleza, Recife, Salvador, Belo Horizonte, Rio de Janeiro, Sao Paulo, Curitiba und Porto Alegre betrug der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung im Jahre 1990 zwischen 12,2% (Curitiba) und 47,4% (Recife). Die beiden mit Abstand größten Regionen um Sao Paolo und Rio de Janeiro kamen auf 21,6% beziehungsweise 32,2% (Wehrhahn 1998:663). Marginalviertel bezeichnet man in Brasilien unabhängig von ihrer räumlichen Lage im Stadtgebiet als bairros periféricos (Deffner 2008:32).
In den Ländern Lateinamerikas gibt es für die Armenviertel in den Städten oft mehrere Namen. Der Name Favela ist in Brasilien aber der bekannteste (Gogolok 1980:20). Die traditionelle sozialräumliche Gliederung brasilianischer Großstädte sieht in der Favela einen allgemeinen Begriff für innerstädtische Armutsviertel. Je nach ihrer Entstehungsgeschichte oder ihrer Lage im Stadtgebiet ist die Favela auch unter Begriffen wie corticos, alagados, morros oder bairros suburbanos bekannt (Deffner 2006:23). Andere Namen, die sich bei der Bezeichnung von Armenvierteln in Lateinamerika durchgesetzt haben, sind zum Beispiel „barriadas” in Lima (Bolivien), „callampas” in Santiago de Chile (Chile) und „villas miserias“ in Buenos Aires (Argentinien) (Souza 1993:214). Der Begriff Favela erhielt seine Bedeutung im Rio de Janeiro des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Im Jahre 1897 errichteten Söldner des „Canudos-Krieges“ eine Hüttensiedlung auf dem „Morro de Providencia“, den sie nach der „Favela-Anhöhe“ in Canudos (liegt im Bundesstaat Bahia im Osten Brasiliens) in „Morro de Favela“ umbenannten (Morro (port.) = Hügel). „Auf der Favela-Anhöhe, nach einer Pflanze benannt, die bei Berührung schmerzhafte Verbrennungen verursacht, wurde die letzte Schlacht gegen die Aufständischen des Canudos-Krieges gewonnen“ (Dietz 1998:96). Diese erste Favela Rio de Janeiros befand sich bezeichnenderweise gegenüber dem Kriegsministerium. Die Bewohner wollten mit der Existenz dieser Siedlung ihre Forderungen nach Arbeit und angemessenen Wohnungen Ausdruck verleihen (Dietz 1998:96). Danach wurde der Name Favela für ähnliche Siedlungen an Hängen und Hügeln Rio de Janeiros benutzt (Gogolok 1980:20) und bezeichnete schon bald alle illegalen Siedlungen schlechter Wohnqualität, die auf den Morros und auch auf ebenem Gelände entstanden (Dietz 1998:96). Zanini (2005:55) spricht davon, dass das Wort Favela zum ersten Mal am 4. November 1900 in einem Brief des Polizeikommissars des zehnten Reviers an den Polizeichef von Rio de Janeiro Verwendung fand. Darin schreibt er von der Besiedlung des „Hügel der Favela“ durch Landstreicher, Kriminelle, Deserteure, Diebe und Soldaten, weiterhin, dass es keine Straßen gibt, die Hütten aus Holz gebaut und von Zink bedeckt sind. Er erbittet weiterhin Vorkehrungen zum Abriss der Hütten und Baracken, welche ohne vorherige städtische Genehmigung errichtet wurden und nicht den vorschriftsmäßigen hygienischen Bedingungen entsprechen. Schon damals wurde die Favela von den politischen Autoritäten und einigen Teilen der Bevölkerung bereits in dem Moment in dem sie auftauchte als Problem gesehen. Konkrete Maßnahmen wurden allerdings nicht unternommen und die erste Favela konnte weiter existieren und sich ausbreiten (Zanini 2005:55-56). Favelas sind ihrer Genese nach mehrheitlich Landbesetzungen und haben somit oft eine illegale Entstehungsgeschichte (Dietz 1998:96). Meist handelte es sich um den Bau spontaner Unterkünfte auf fremdem öffentlichen oder privaten Grund, vor allem von Großgrundbesitzern oder der Kirche (Deffner 2008:30). Sie befinden sich in der Regel auf Flächen, die für eine legale Erschließung und den Bau von Wohnhochhäusern nicht geeignet sind wie zum Beispiel hangrutschungsgefährdete Gebiete oder Überschwemmungszonen. Noch immer entstehen in Brasilien stadtauswärts entlang der Stadtentwicklungslinien neue spontane, meist illegal konstruierte informelle Ansiedlungen (Deffner 2007:213). Zur Verbreitung innerhalb eines Stadtgebietes lässt sich auch sagen, dass die ärmsten Favelas in ebeneren, wassernahen Gebieten, die besser gestellten auf den Hügeln liegen. Etwa 65% der Favelas sind an einer Hanglage zu finden (Evenson 1973:23). Abbildung 6 zeigt die am Hang gelegene Favela Dona Marta in Rio de Janeiro.
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Abbildung 6: Favela Dona Marta im Stadtteil Botafogo (Rio de Janeiro). Quelle: Diercke (2011).
Die folgende Abbildung 7 zeigt eine Favela auf Pfählen in Salvador.
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Abbildung 7: Blick auf Pfahlbautensiedlung (Palafitas) im Stadtteil Mangueira in Salvador de Bahia. Quelle: Bürger (2005).
Viele der Favelas besitzen aber gleichzeitig auch eine dauerhafte Existenz in attraktiven (inner-)städtischen Lagen, zumeist in direkter Nachbarschaft zu Vierteln der wohlhabenden Bevölkerung (Deffner 2006:21). Irregulär, illegal besetzt, in ihrer Mehrheit heute allerdings konsolidiert und größtenteils mit Besitztiteln versehen. So beschreibt Deffner (2008:28) zusammenfassend die Favela. Deswegen sind Favelas im engeren Sinne weder der Gruppe der Slums noch der Hüttensiedlungen zuzurechnen (siehe Kapitel 2). Somit würden auch zum Beispiel die Pfahlbautensiedlungen, welche in der Regel einen Hüttencharakter besitzen, von dem Begriff Favela ausgeschlossen sein. Unabhängig von der begrifflichen Unschärfe kann festgehalten werden, dass Favelas in ihrer heutigen Erscheinung den städtischen Lebensraum der Armen darstellen, deren Einkommen nicht ausreicht um jenseits des eigenen mietfreien Hauses mit der Familie oder in größerer Distanz zu Aktionsräumen von Arbeit, Versorgung und Freizeit zu wohnen (Deffner 2006:24). Deffner (2008:29) bezeichnet Favelas aufgrund ihrer mehr als einhundertjährigen Entwicklungsgeschichte als gewachsene und mehrheitlich städtebaulich akzeptierte und institutionalisierte Marginalräume. Heutzutage haftet ihnen kaum mehr der Charakter des Spontanen an. Eine Bezeichnung der Favela als Marginalviertel hält Deffner (2008:29) unverändert als gerechtfertigt, da, obwohl sie sich stadträumlich betrachtet nicht immer „am Rande“ befinden, ihre Bewohner es gesellschaftlich gesehen dennoch sind. Kapitel Fünf beschreibt eingehender Merkmale, die für eine Abgrenzung der Favela von anderen Marginalvierteln brauchbar sein könnten. Tabelle 3 zeigt die Größen der Favelas und ihre Anteile an den Bevölkerungszahlen in den Millionenstädten. Auffallend hoch ist der Wert im nordbrasilianischen Belém mit 35%. Allein in Rio de Janeiro leben über eine Millionen Menschen in Favelas. Laut Perlman (2010:52) gibt es dort über 1000 solcher Marginalviertel.
Tabelle 3: Favelas in den Millionenstädten Brasiliens. Quelle: Perlman (2010), 52.
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Favelas können teilweise sogar Größenordnungen von Großstädten erreichen. Achinger (1997:30) spricht von der Rocinha als größte Favela Südamerikas mit rund 300.000 Einwohnern während Lanz (2007:194) „nur“ von offiziell über 56.000 redet. Bei der Betrachtung der folgenden Tabelle ist festzuhalten, dass das Favelawachstum in jeder Dekade das Wachstum der Stadt übertroffen hat. Die höchste Wachstumsrate gab es in den fünfziger Jahren als die Land-Stadt-Wanderungen in großem Maßstab einsetzten. Auf ganz Brasilien gesehen verließen in diesem Jahrzehnt etwa 24% der ländlichen Bevölkerung das Land in Richtung Stadt (Achinger 1997:17). In Rio de Janeiro wurden 44% der Favelas in den Jahren von 1941 bis 1960 gegründet (Achinger 1997:30).
Tabelle 4: Wachstum der Favelas in Rio de Janeiro. Quelle: Perlman (2010), 55.
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Favelas existieren laut Wehrhahn (1998:656) in allen brasilianischen Großstädten, nicht nur in den großen Metropolen. „Zwischen 20 und 40 Prozent der Bevölkerung der wichtigsten Städte des Landes leben in Favelas“ (Blum/Neitzke 2004:8).
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