3
handelt es sich weniger um wirkliche Meinungsverschiedenheiten, als eher um
Missverständnisse. Dem Diskurs über musikalische Autonomie wäre es vermut-
lich zuträglich, sich genauer darüber zu verständigen, was man mit dem Wort
verbindet oder wie man es einsetzen möchte. Was kann es also heißen, wenn
Autoren sich heute auf den Begriff der Autonomie berufen? Vor welchem
Hintergrund benutzen sie das Wort? Und welches wäre ein tragfähiges Verständ-
nis, das zur adäquaten Beschreibung des gegenwärtigen Umgangs mit Musik
dienen könnte?
Im Verlauf dieser Arbeit möchte ich eine Auffassung musikalischer Autonomie
untersuchen, die sich weitgehend von den Assoziationen der traditionellen
Werkästhetik löst und damit nicht mehr gedacht werden muss als etwas Isoliertes,
Vollendetes oder dauerhaft Wahres. Stattdessen möchte ich Möglichkeiten und
Grenzen einer musikalischen Eigengesetzlichkeit erörtern, die als Vorgehen
innerhalb einer kulturellen Praxis aufgefasst werden kann. Ich habe im Umgang
mit Musik gelernt, eine gewisse Eigenlogik der Stücke anzunehmen, um mich
ihnen überhaupt verstehend zu nähern.
Es erscheint mir wichtig zu betonen, dass ich im Folgenden keinesfalls einen
theoretischen Entwurf gestalten möchte, noch in irgendeiner Form andere Auffas-
sungsweisen künstlerischer Autonomie ,,korrigieren" möchte. Vielmehr bemühe
ich mich um eine Herleitung und Schilderung des aktuellen Verständnisses des
Begriffs, sowie um eine Beschreibung dessen, wie ich selbst eine Art der Selbst-
bestimmtheit im Umgang mit Musik erlebe.
Dieser Themenbereich ist von sich aus wenig fokussiert, sondern berührt viele
ästhetische Traditionen und neuere Denkansätze. Daher möchte ich die Frage
erstens dahingehend einschränken, dass ich auf die Materialsichtung aktueller
musikalischer Phänomene weitgehend verzichte und stattdessen das Augenmerk
auf den philosophisch-ästhetischen Diskurs richte. In der Hoffnung, dass mein
Gedankengang nicht zu sehr darunter leidet, klammere ich also Analysen oder
Berichte zu bestimmten zeitgenössischen Werken aus. Zweitens muss ich im
gegebenen Rahmen unter den relevanten Autoren eine Auswahl treffen, die zwar
notgedrungen subjektiv ist, bei der ich mich aber natürlich um Stringenz in Bezug
auf meine Fragestellung bemühe.
In den folgenden Abschnitten möchte ich zuerst schildern, auf welcher musikphä-
nomenologischen Grundlage sich der ästhetische Diskurs entspannt. Um über den
4
hierbei interessanten Begriff der ästhetischen Erfahrung zu sprechen, widme ich
der Ästhetik Immanuel Kants einige Worte. Hiernach gehe ich chronologisch vor,
um verwirrende Sprünge und Querverweise zu vermeiden. Das bedeutet, dass ich
die nach Kant entstehende geschichtliche Entwicklung des Begriffs musikalischer
Autonomie knapp umreiße und dann skizziere, wie sich die Musik des 20.
Jahrhunderts zunehmend vom Autonomiegedanken entfernte. Schließlich sollen
aktuelle Ansätze vorgestellt werden, die über das Konzept der ästhetischen
Erfahrung schreiben, sich oftmals aber nicht einer Vorstellung autonomer Musik
verwehren und zum Schluss beschreibe ich meine teils kritischen, teils konstrukti-
ven Überlegungen zur Autonomieästhetik im gegenwärtigen Musikgeschehen.
5
II Zur Autonomieästhetik: Hintergrund und Gegenwart
Die Frage nach den Verwendungsweisen und den Möglichkeiten des Gedankens
einer musikalischen Selbstgesetzgebung soll in den nächsten Kapiteln in Teilfra-
gen aufgetrennt werden. Wie oben bereits angesprochen, leite ich das erste
Kapitel ein mit einer groben Umschreibung des aktuellen Musikgeschehens,
erkläre dann eine gängige Art seiner theoretischen Erfassung, nämlich die
sogenannte ästhetischen Erfahrung und lege die dazu gehörenden philosophischen
Grundfragen bei Immanuel Kant an. Das zweite Kapitel widme ich einer kurzen
Erläuterung des Begriffs der ästhetischen Autonomie, sowie seiner geschichtli-
chen Entwicklung ausgehend vom Idealismus und der musikalischen Romantik
bis hin zur Avantgarde mit Theodor W. Adorno. Hier schließe ich auf zur zeitge-
nössischen Musik und zu den theoretischen Ansätzen von Umberto Eco und
Rüdiger Bubner, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Interesse
waren. Vor dem bis dahin beschriebenen Hintergrund kann ich im dritten Kapitel
mit Juliane Rebentisch nach der Aktualität des Autonomiegedankens fragen. Das
vierte und letzte Kapitel schließlich dient der Darstellung meiner eigenen Überle-
gungen zur Vorstellung der Autonomie gegenwärtiger Musik. Hier möchte ich
versuchen, im aktuellen Diskurs die Beachtung eines Aspekts anzuregen, der, wie
ich glaube, bislang vernachlässigt wird.
1. Zum aktuellen Musikgeschehen
Der Einblick in das aktuelle Musikgeschehen, der zunächst geschaffen werden
soll, muss zwar notgedrungen oberflächlich bleiben, dient hier aber trotzdem
dazu, die problematische Situation zu erhellen, der sich die gegenwärtige Mu-
sikästhetik gegenüber sieht. Dieser Abschnitt ist also als Einführung gedacht und
damit noch nicht argumentativ eingebunden.
Nachdem mit Arnold Schönberg und der Zweiten Wiener Schule inzwischen die
letzten großen Schulen historisch geworden sind, spricht man nur noch selten von
,,Schulen" sondern häufiger von ,,Strömungen" in der Musik. Das hat seine
Ursache nicht nur darin, dass die theoretischen Darstellungen der neuesten Musik
noch jung sind und ohne den vermeintlich ordnenden zeitlichen Abstand zurecht-
kommen müssen. Bemerkenswert ist an der Arbeit der jüngsten Komponisten und
6
Musiker nämlich ein besonderer Umstand, der eine immer stärkere Entgrenzung
14
und Ausdifferenzierung der Musik begünstigt: Sie sehen sich heute nicht mehr so
stark genötigt, sich etwas erstreiten zu müssen, wie noch viele der Generationen
vor ihnen.
15
Weder müssen sie sich von den Lehren ihrer Vorgänger abheben
denn gedankliche und stilistische Offenheit ist ein bereits erkämpfter Zustand der
künstlerischen Arbeitswelt noch müssen sie gegen ihre institutionelle Verdrän-
gung in ein gesellschaftliches Abseits kämpfen. Moderne klassische Kompositio-
nen jeder Art haben längst ihren festen Platz in Konzertprogrammen oder Einspie-
lungen. Von einer musikalischen Strömung zu sprechen, ist also nicht nur eine
Frage der Darstellung, sondern deutet auf eine signifikante Veränderung hin.
Anstelle von linearen Geschichtskonstruktionen dienen daher zum Beispiel
netzartige Strukturen eher zur adäquaten Veranschaulichung.
16
Die Idee des
Fortschrittsdenkens dagegen ist wohl inzwischen überkommen.
,,Wenn etwas progressiv fortgeschritten ist, dann ist dies der im 18. Jahrhundert
einsetzende Individualisierungsprozess künstlerischer Formen [...]"
17
.
Es herrscht ein ausgeprägtes Nebeneinander von Nationalstilen, Musikformen und
sogar von Generationen. Als illustrierendes Beispiel sei hier das pointierte
Vorwort der Partitur von ,,Harbour Town Love at Millenium's End" von Manfred
Stahnke zitiert:
,,Mein Denkbild bewegt sich in Richtung eines ,altgriechischen Mittelalterjazz',
der geprägt ist durch die lineare Polymetrik der hohen Anden."
18
Es wird zufallsgenerierte Musik komponiert, experimentelle Musik, Spektrale
Musik im Mikrotonbereich, Klangfarbenkompositionen, Musik, die erst im
14
Vgl. Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst, Junius Verlag, Hamburg, 2013, S. 21.
15
Vgl. Helga de la Motte-Haber (Hrsg.): Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert, Band 4, 1975-
2000, Laaber-Verlag, Laaber, 2000, Einleitung, S. 16.
16
Helga de la Motte-Haber (Hrsg.): Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert, Band 4, 1975-2000,
Laaber-Verlag, Laaber, 2000, Einleitung, S. 15.
17
Helga de la Motte-Haber (Hrsg.): Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert, Band 4, 1975-2000,
Laaber-Verlag, Laaber, 2000, S. 14.
18
Zitiert nach: Friedemann Kawohl: Kammermusik zwischen Moderne und Postmoderne, in:
Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert, Band 4, 1975-2000, Helga de la Motte-Haber (Hrsg.),
Laaber-Verlag, Laaber, 2000, S. 169.
7
Konzert mit dem Publikum zusammen entsteht, dann meditative Musik, die dem
Klang selbst metaphysische Wirkung zuspricht, klassizistische Musik und solche
Musik, die traditionelle Kompositionskonventionen dekonstruieren soll.
Klänge, Worte und Emotionen werden oft nur noch angedeutet und ihre Ausge-
staltung dem Hörer und dem Interpreten überlassen. So soll Musik nicht mehr von
etwas Bestimmtem erzählen, sondern eine Bandbreite an Assoziationen anregen
und ermöglichen. Indem die Musik auf solche Art Zustände im Hörer generiert,
wird dieser mit seiner eigenen Wahrnehmung bewusst konfrontiert. Diese, die
eigene Wahrnehmung und das eigene Erleben von Musik, stehen im Fokus vieler
aktueller Kompositionen. Darüber, wie Helmut Lachenmann die Wahrnehmungs-
tätigkeit des Hörers herausfordert, schreibt Helga de la Motte-Haber:
,,In solch einem Zustand gesteigerter Aufmerksamkeit werden zwar innere Emp-
findungen wach, sie dienen aber nicht dazu, eine Botschaft zu vernehmen, son-
dern den Wahrnehmungsvorgang zu intensivieren."
19
Übergreifend kann man sagen, dass das Interesse am musikalischen Werk
zurücktritt zugunsten der Frage nach dessen Wahrnehmung. Obwohl immer noch
,Werke' im herkömmlichen Sinn geschrieben und aufgeführt werden, tragen diese
keine Symbolfunktion mehr, sie sind nicht mehr Botschaftsvermittler, sondern
werden ganz grundlegend zum ,Ermöglicher' für den Hörer. Dessen gespannte
Hellhörigkeit wirft seine Aufmerksamkeit schließlich auf ihn selbst zurück.
Komponisten erproben dieses Feld bis hin zu recht exponierten Positionen, wie sie
der gern zitierte Ausspruch Lachenmanns zum Ausdruck bringt:
,,Der Gegenstand von Musik ist das Hören, die sich selbst wahrnehmende Wahr-
nehmung."
20
19
Helga de la Motte-Haber (Hrsg.): Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert, Band 4, 1975-2000,
Laaber-Verlag, Laaber, 2000, Einleitung, S. 20.
20
Zitiert nach: Rainer Nonnenmann, Neue Zeitschrift für Musik, Heft 06, 2014, S. 88, URL:
http://www.musikderzeit.de/de_DE/journal/current/showarticle,38721.html, Zugriff am
21.05.2016.
8
1.1. Ästhetische Erfahrung
Während das Spektrum der Kompositionsmethoden, der verwendeten Klangmate-
riale, vertretenen Stile und Ansichten während der letzten Jahrzehnte immer
unüberschaubarer zu werden scheint, rückt gewissermaßen die übrig gebliebene
Konstante des Musikgeschehens ins Blickfeld: der Hörer und seine ästhetische
Wahrnehmung.
Im Zentrum der theoretischen Analyse und häufig auch des Schaffens zeitgenössi-
scher Musik steht die Beobachtung nicht des Musikgegenstandes, sondern der
Vorgänge im Rezipienten. Man empfindet die ästhetische Erfahrung als konstante
und ergiebige Quelle angesichts ständig sich wandelnder Musikformen. So ist es
zur Zeit gerade nicht der Diskurs um die Autonomie von musikalischen Kunst-
werken, der am meisten Zuspruch erfährt. Im Gegenteil, in dieser Frage zeigten
sich viele Wissenschaftler und Künstler bis vor kurzem recht zurückhaltend oder
skeptisch. Während also Komponisten in Abkehr von traditionellen Werkkatego-
rien mehr und mehr mit den Möglichkeiten der rezipierenden Erfahrung ihrer
Musik experimentieren, verlegen sich entsprechend die Theoretiker auf Ansätze,
die ohne eine Bestimmung dessen auskommen, was ein Musikstück genau sein
muss.
Nun entstammen die Überlegungen zur ästhetischen Erfahrung nicht erst der
Auseinandersetzung mit gegenwärtiger Musik. Der Gedanke einer Ästhetik, die
sich vorrangig mit den intellektuellen und emotionalen Reaktionen des Rezipien-
ten auseinandersetzt, reicht zurück bis zur ,,Kritik der Urteilskraft"
21
von Imma-
nuel Kant. Zeitgenössische Musikästhetiker wie etwa Rüdiger Bubner, der als
einer der ersten Autoren in den 1970er Jahren über die ästhetische Erfahrung
schrieb und auf den ich später noch zu sprechen komme, argumentieren für eine
Verabschiedung des funktionell problematischen Werkbegriffs und frischen dafür
ausdrücklich den von Kant gestalteten Begriff der ästhetischen Urteilskraft wieder
auf. Der nächste Abschnitt ist folglich einer kurzen Erklärung einiger Komponen-
ten der kantischen Ästhetik gewidmet.
Um von Kant ausgehend im Folgenden einen übersichtlichen Diskussionsverlauf
skizzieren zu können, habe ich mich dazu entschlossen, weitgehend chronologisch
21
Immanuel Kant: Kritik der ästhetischen Urteilskraft, aus: Kritik der Urteilskraft, Heiner
Klemme (Hrsg.), 2. Auflage, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2009, S. 48-104.
9
vorgehen. Denn es sind zwar die relevanten Begriffe und Setzungen, die ich
behandeln möchte, bei den meisten Autoren zu finden. Würde ich aber systema-
tisch nach den eingeführten und diskutierten Kategorien vorgehen, würden die
Texte der Autoren stark auseinandergenommen und ihre Verständlichkeit wohl zu
sehr leiden.
1.2. Kant: Das freie Spiel der Erkenntniskräfte
Wenn ich in diesem Kapitel Ausschnitte der kantischen Ästhetik rekonstruiere, so
geschieht dies im Hinblick auf meine Fragestellung, das heißt auf eine mögliche
Autonomieästhetik gegenwärtiger Musik und ihre Herkunft. Die Darstellung der
besagten Ausschnitte kann also nur zweckgebunden und rudimentär stattfinden,
um den gegebenen Rahmen nicht zu überschreiten.
Unter Kants Prämisse, dass alles in der Welt uns nur durch unsere Erfahrung
gegeben sein kann, setzt er an die Schlüsselposition seiner Ästhetik nicht etwa
einen gegenstands-konstitutiven Begriff des Schönen, wie es viele seiner Zeitge-
nossen tun, sondern führt die reflektierende Urteilskraft ein. Ein Fall dieser
reflektierenden Urteilskraft ist die Betrachtung des Ästhetischen. Das heißt, über
das Schöne oder die Kunst selbst enthält er sich konsequent, während er über
unsere Einstellung dazu festhält: Wir begegnen dem Schönen mit interesselosem
Wohlgefallen. Wohlgefallen stellt sich im Subjekt bei der Beurteilung nicht nur
des Schönen, sondern auch angenehmer und moralisch guter Dinge ein. Aber nur
dem Schönen begegnen wir ohne Interesse, ohne, dass uns ein Bedürfnis treibt.
,,Man kann sagen: dass unter allen diesen drei Arten des Wohlgefallens das des
Geschmacks am Schönen einzig und allein uninteressiertes und freies Wohlgefal-
len sei [...]"
22
Hier prägt Kant zwar eine entscheidende Eigenheit des Schönen, aber er tut dies
nur mittelbar, über den Zugang des Subjekts, das dem Schönen begegnet. Der
Schlüssel ist aber unsere Art der ästhetischen Betrachtung: Die Interessenlosig-
keit, die Abwesenheit vom Zwang der Sinne oder der Vernunft
23
gewährt dem
22
Immanuel Kant: Kritik der ästhetischen Urteilskraft, aus: Kritik der Urteilskraft, Heiner Klemme
(Hrsg.), 2. Auflage, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2009, S. 56f.
23
Vgl. ebd., S. 57.
10
reflektierenden Subjekt eine Freiheit, die es sonst nicht erreicht. Wir versuchen
nicht, etwas Bestimmtes zu verstehen, das Gehörte oder Gesehene auf einen
definitiven Begriff zu bringen. ,,Das interesselose Wohlgefallen hemmt [...] die
Intention auf bestimmte Erkenntnis oder Gegenstandserkenntnis [...]"
24
Denn Kant
unterscheidet zwischen verschiedenen Formen des Urteils und der Erkenntnis: Er
setzt reflektierende Urteilskraft als Gegensatz zu bestimmender Urteilskraft.
Letztere bedeutet, man ordnet Besonderes unter Allgemeines und erstere bedeutet,
es gibt gar keinen verfügbaren Allgemeinbergriff.
25
Mit der ästhetischen Betrach-
tung ist also eine reflektierende Urteilskraft gemeint, die nicht Besonderes unter
Allgemeines sortiert, sondern die gar keinen verfügbaren Allgemeinbegriff kennt.
Die ästhetische Urteilskraft befindet sich also im Vorfeld
26
einer möglichen
konkreten Erkenntnis und aktiviert die Erkenntnis überhaupt
27
, eine abstrahierte,
leere Form der Erkenntnis, die frei von zielgerichteter Bindung ist.
,,Soll nun der Bestimmungsgrund des Urteils über diese allgemeine Mitteilbarkeit
der Vorstellung bloß subjektiv, nämlich ohne einen Begriff vom Gegenstande ge-
dacht werden, so kann er kein anderer als der Gemütszustand sein, der im Ver-
hältnis der Vorstellungskräfte zueinander angetroffen wird, sofern sie eine gege-
bene Vorstellung auf Erkenntnis überhaupt beziehen."
28
Es wird kein Begriff vom Gegenstand, vom Schönen, gesetzt, daher haben wir
auch keine bestimmte Erkenntnis. Wenn unser Denken aber nicht auf ein be-
stimmtes Ziel hin gelenkt und kanalisiert wird, dann befindet es sich in einem
Zustand in der Schwebe ohne mögliche verbindliche Auflösung; die Suche, die
Reflexion nach einem Allgemeinbegriff wird motiviert, ist aber nie ganz zu
klären.
29
Die geistige ,,Tätigkeit"
30
, die zu einem ästhetischen Urteil führt und
24
Brigitte Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik, Dieter Schönecker (Hrsg.), WBG,
Darmstadt, 1997, S. 81.
25
Vgl. Rüdiger Bubner: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, in: Ästhetische
Erfahrung, Suhrkamp, Berlin, 1989, S. 36.
26
Brigitte Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik, Dieter Schönecker (Hrsg.), WBG,
Darmstadt, 1997, S. 83.
27
Immanuel Kant: Kritik der ästhetischen Urteilskraft, aus: Kritik der Urteilskraft, Heiner
Klemme (Hrsg.), 2. Auflage, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2009, S. 67.
28
Ebd. S. 67.
29
Rüdiger Bubner: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, in: Ästhetische Erfahrung,
Suhrkamp, Berlin, 1989, S. 36.
11
nicht zu einem bestimmten Urteil, besteht in einem freien Spiel der beiden
Erkenntniskräfte Verstand und Einbildung - , die ohne Allgemeinbegriff, also
ohne bestimmten Zweck oder ohne auf eine bestimmte Erkenntnis gerichtet zu
sein (sondern auf Erkenntnis überhaupt) nicht eingeschränkt sind
31
. Sie können
sich frei erproben - ein intellektuelles Spiel ohne jede Einschränkung.
Darüber, dass Kant den Begriff der ästhetischen Erfahrung selbst gar nicht
benutzt, sondern von reflektierender Urteilskraft und von Erkenntnis überhaupt
spricht, schreibt Brigitte Scheer:
,,Kant verwendet diesen Ausdruck ,ästhetische Erfahrung' nicht, da sein Erfah-
rungsbegriff im Rahmen der ,Kritik der reinen Vernunft' bereits für die Systema-
tik gegenständlicher Erkenntnis in Beschlag genommen ist. Der Sache nach han-
delt es sich bei der ,Erkenntnis überhaupt' jedoch um ein wesentliches Moment
dieser in der Gegenwart so viel beschworenen ,ästhetischen Erfahrung', das heißt
einen Wirklichkeitsbezug, der frei ist von Verdinglichung und Missachtung des
Individuellen."
32
Kant enthält sich also entgegen vieler seiner Mitstreiter gänzlich einer konstituti-
ven Bestimmung des Künstlerischen. Ihn interessiert, welchen Zugriff wir
denkend auf Ästhetisches haben können, das heißt, auf welche Art wir, angeregt
durch das Schöne, unsere Erkenntniskräfte walten lassen und etwas erleben, das
sich als Erkenntnis überhaupt beschreiben lässt.
Dieser kurze Einblick in die kantische Ästhetik lässt einige wichtige Begriffe
unberührt (wie etwa die dort behauptete Allgemeingültigkeit des subjektiven
ästhetischen Urteils). Doch im Hinblick auf eine Erneuerung seiner Erkenntnisse,
wie sie verschiedene Autoren der Gegenwart vornehmen, wurden hier die wich-
tigsten Eckpunkte wohl genannt.
1.2.1. Das Subjekt in der nachfolgenden Ästhetik
Wie bereits erwähnt wird Kants Gedankengang einer Ästhetik der subjektiven
Erfahrung später wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. Vorher allerdings
durchlaufen verschiedene Aspekte seiner Theorie noch viele Wandlungen und
30
Immanuel Kant: Kritik der ästhetischen Urteilskraft, aus: Kritik der Urteilskraft, Heiner
Klemme (Hrsg.), 2. Auflage, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2009, S. 69.
31
Vgl. Ebd., S. 67.
32
Brigitte Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik, Dieter Schönecker (Hrsg.), WBG,
Darmstadt, 1997, S. 106, s. Fußnote.
12
Modulationen. Das Postulat eines freien Subjekts, das Kunst ohne Bindung an
äußere Zwecke erlebt (wie etwa den Zweck moralischer Bildung durch Kunst)
entspricht einer Ablösung der Kunst vom klassisch-humanistischen, heteronomi-
schen Verständnis. Hier geschieht eine geistige Wendung zur Entstehung eines
modernen Subjekt- und Individualitätsbegriffs.
33
Als besonders zukunftsweisend und tragfähig erwies sich also Kants Konzentrati-
on um das Subjekt als eigentliches Richtmaß für alles Schöne. Das Schöne an sich
ist ihm zufolge nicht durch Begriffe festzumachen, ,,da doch Schönheit ohne
Beziehung auf das Gefühl des Subjekts für sich nichts ist."
34
So verlegt er die
Philosophie der Ästhetik ganz in das Subjekt und konstatiert:
,,dass wir in der Beurteilung der Schönheit überhaupt das Richtmaß derselben a
priori in uns selbst suchen und die ästhetische Urteilskraft in Ansehung des Ur-
teils, ob etwas schön sei oder nicht, selbst gesetzgebend ist."
35
Gewissermaßen in Analogie zur These eines vernünftigen, selbstständigen
Individuums wird der Begriff der freiheitlichen Selbstbestimmung durch nachfol-
gende Autoren auf das Schöne selbst gelenkt. Die Voraussetzungen zur Idee des
künstlerischen Autonomiebegriffs sind geschaffen und werden vor allem im
deutschen Idealismus emphatisch ausdifferenziert.
36
2. Musikalische Autonomie: Begriff und Entwicklung
Das Phänomen autonomer Musik wird üblicherweise im 18. und 19. Jahrhundert
verortet, als man begann, von einer speziellen Instrumentalmusik als ,absoluter
Musik' zu sprechen. Im historischen Gebrauch ist der Autonomiegedanke
allerdings nicht so genau zu rekonstruieren, wie es auf den ersten Blick scheinen
könnte. Er diente zur Benennung etlicher unterschiedlicher Musikformen, die im
33
Michael Einfalt: Autonomie, in: Karlheinz Barck et al. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe.
Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 1, Metzler, Stuttgart/Weimar, 2001, S. 432.
34
Immanuel Kant: Kritik der ästhetischen Urteilskraft, aus: Kritik der Urteilskraft, Heiner
Klemme (Hrsg.), 2. Auflage, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2009, S. 68.
35
Immanuel Kant: Kritik der ästhetischen Urteilskraft, aus: Kritik der Urteilskraft, Heiner
Klemme (Hrsg.), 2. Auflage, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2009, S. 251.
36
Vgl. Michael Einfalt: Autonomie, in: Karlheinz Barck et al. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe.
Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 1, Metzler, Stuttgart/Weimar, 2001, S. 432.
13
weiteren Sinne eigenständig waren. In diesem und dem nächsten Abschnitt soll es
also darum gehen, einige dieser Aspekte zu beleuchten und gewissermaßen die
Bandbreite abzustecken, die mit dem Autonomiebegriff transportiert wird, damit
ich meine eigene Position später genauer positionieren kann. Ungenauigkeiten
sind in der Kürze der Schilderung wohl nicht zu vermeiden, trotzdem habe ich
mich entschieden, einige wichtige Positionen wenigstens zu erwähnen, statt sie
hier zu übergehen, später jedoch vorauszusetzen.
In der Blütezeit des Gedankens einer freien, erhabenen Musik taucht die Bezeich-
nung ,autonom' nur selten auf. Wo jedoch von absoluter Musik die Rede ist,
werden die Begriffe absolut und autonom weitgehend synonym verwendet. Der
Terminus Autonomie umschreibt
,,alle Formen der Verselbstständigung, Selbstsetzung und Unabhängigkeit künst-
lerischer Phänomene und weist einen breiten Konnotationsbereich mit einer Fülle
begrifflicher Äquivalente oder Teiläquivalente auf [...]."
37
Wo man nicht explizit von Autonomie spricht, dort gebraucht man Ausdrücke wie
vollkommen, absolut, frei, organisch, rein, nutzlos oder ohne Zweck. Um diese
,,Fülle begrifflicher Äquivalente" gedanklich zu ordnen, bietet es sich zum einen
an, zu unterscheiden zwischen institutioneller Autonomie - also der Unabhängig-
keit von Vorgaben des Staates, des Hofes, der Kirche, der Partei, sogar einer
ganzen Gesellschaft - und ideeller, künstlerischer Autonomie - also etwa der
Lossagung von der historischen Abbildfunktion der Musik. Zum anderen könnte
man fragen: Was genau ist autonom? Das Subjekt des Komponisten? Das Werk
selbst? Das musikalische (Roh-) Material? Denn an die jeweilige Antwort auf
diese Fragen knüpfen je wieder andere musikalische und theoretische Konsequen-
zen an.
2.1. Kurze Geschichte des Begriffs
Baumgarten und Moritz
Die Formel der Autonomie von Kunstwerken richtete sich ursprünglich gegen die
Vereinnahmung der Kunst zu fremden Zwecken. Mit Alexander Gottlieb Baum-
37
Michael Einfalt: Autonomie, in: Karlheinz Barck et al. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe.
Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 1, Metzler, Stuttgart/Weimar, 2001, S. 434
14
garten wird Musik zu einem ästhetischen Genuss, dem man sich in kontemplativer
Art widmet. Baumgarten veröffentlichte seine Schrift ,,Aesthetica" um 1750 - also
noch vor Kant, dessen ,,Kritik der Urteilskraft" erst 1790 erschien. Als ,,ästheti-
sches Vermögen"
38
beschreibt er darin eine Art der geistigen Aneignung der
künstlerischen Schönheit und Vollkommenheit, die sich wissenschaftlich als
sinnliche Erkenntnis umschreiben lässt. Die Freiheit von äußeren Zwecken ist
Bedingung und Kriterium für den kontemplativen ästhetischen Genuss.
39
Es
entsteht eine ,,autonome[...] Sphäre künstlerischer Erfahrung"
40
, in der die
,,Unabhängigkeit des Künstlers [...] der Freiheit von Kunst selbst"
41
entspricht.
Der Eigenwert des Künstlerischen bei Baumgarten wird jedoch mit einer morali-
sierenden Funktion verknüpft, nämlich der als defensiver Gegenentwurf zur
Gesellschaft.
42
Karl Philipp Moritz schuf den berühmten Ausdruck des ,,In-Sich-Selbst-
Vollendeten"
43
, indem er die innere Zweckmäßigkeit der Kunst, also ihren
Selbstzweck, weiter zuspitzt.
,,Der bloß nützliche Gegenstand ist also in sich nichts Ganzes oder Vollendetes,
sondern wird es erst, indem er in mir seinen Zweck erreicht, oder in mir vollendet
wird. Bei der Betrachtung des Schönen aber wälze ich den Zweck aus mir in
den Gegenstand selbst zurück: ich betrachte ihn, als etwas, nicht in mir, sondern
in sich selbst Vollendetes, das also in sich ein Ganzes ausmacht, und mir um sein
selbst Willen Vergnügen gewährt."
44
Bemerkenswert klar hält Moritz die Distanzierung des Schönen vom Nützlichen,
mithin Profanen fest. Das ,,süße Staunen, das angenehme Vergessen unserer
selbst"
45
sind Ausdrücke, die Moritz' Brief in eine Reihe mit anderen kontempla-
38
Ebd., S.440.
39
Vgl. ebd.
40
Ebd., S. 441.
41
Michael Einfalt: Autonomie, in: Karlheinz Barck et al. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe.
Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 1, Metzler, Stuttgart/Weimar, 2001, S. 441
42
Vgl. Ebd., S. 440 f.
43
Karl Philipp Moritz: Über den Begriff des in sich selbst Vollendeten. An Herrn Moses Mendels-
sohn (1785), in: Karl Philipp Moritz. Werke, 1. Auflage, Horst Günther (Hrsg.), Band 2, Insel,
Frankfurt, 1981.
44
Ebd., S. 543.
45
Ebd., S. 545.
15
tiven Kunstanschauungen stellt, in denen das rezipierende Subjekt selbst eine
untergeordnete Rolle spielt.
Kant
Immanuel Kant rückt das rezipierende Subjekt wieder ins Zentrum des ästheti-
schen Interesses, wie im vorangegangenen Kapitel im Zusammenhang mit
ästhetischer Erfahrung bereits erwähnt. Wenn er vom uninteressierten und freien
Wohlgefallen spricht, meint er Freiheit von heteronomen Zwecken. Hier kommt
die Eigengesetzlichkeit der Kunst bei Kant zur Sprache.
,,Die Freiheit des Wohlgefallens ist so Teil der Freiheit, durch die der Mensch
,seinem Dasein als der Existenz einer Person einen absoluten Wert gibt.'"
46
Durch die Freiheit des Wohlgefallens, einem Vermögen des Gemüts, macht sich
der Mensch seine eigene Freiheit und Autonomie bewusst.
47
Indem Kant Schön-
heit aber mit Freiheit, also auch mit gesellschaftlicher Unabhängigkeit dieserart
verbindet, bereitet er einem vorrangig soziologischen Aspekt autonomer Kunst
den Weg, der sich von der gesellschaftlichen Sphäre ausdrücklich abwendet. Denn
während größere bürgerliche Gruppen sich allmählich der Kunstrezeption und
reproduktion zuwenden, vollzieht die Idee des Ästhetischen parallel eine Abwen-
dung vom ,,bürgerlichen Erwerbsstreben und den Triebfedern gesellschaftlicher
Wohlfahrt."
48
So klingt die Betonung Kants der unbedingten Nutzlosigkeit wahrer
Schönheit bereits wie eine Mahnung.
Seit der frühen Romantik wird der Gedanke der absoluten, autonomen Musik
intensiv gepflegt. Er wird nun kaum noch hinterfragt, sondern als gegeben
aufgefasst und auf verschiedene Schattierungen hin untersucht. So kommt es, dass
man dem Wort Autonomie in den einschlägigen Schriften nur noch selten begeg-
net: ,,Der Kampfbegriff der Klassik wird in dem Augenblick obsolet, da die
Autonomie in institutioneller Hinsicht gegeben ist, aber von neuen ästhetischen
Tendenzen überlagert wird."
49
Als wichtige, gleichwohl nur exemplarische
Autoren dieser Zeit sind E.T.A. Hoffamnn, Eduard Hanslick und Georg Wilhelm
46
Michael Einfalt: Autonomie, in: Karlheinz Barck et al. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe.
Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 1, Metzler, Stuttgart/Weimar, 2001, S. 444.
47
Vgl. ebd., S. 445.
48
Ebd., S. 441.
49
Ebd., S. 432.
16
Friedrich Hegel zu nennen. Ihren Schriften ist gemeinsam, dass sie ,,nicht eigent-
lich die Autonomie selbst, sondern mögliche Dimensionen des als selbstverständ-
lich gefassten Begriffs der Autonomie erörtern."
50
Hoffmann und Hanslick
Im Jahr 1810 veröffentlich E.T.A. Hoffmann in der Neuen Musikzeitung eine
Rezension der 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven, die noch lange von sich
reden machte. Darin sprach er der Instrumentalmusik als einziger Musikform zu,
das Wesen der Musik rein auszusprechen:
,,Wenn von der Musik als einer selbstständigen Kunst die Rede ist, sollte immer
nur die Instrumentalmusik gemeint sein, welche, jede Hilfe, jede Beimischung ei-
ner anderen Kunst verschmähend, das eigentümliche, nur in ihr zu erkennende
Wesen der Kunst rein ausspricht."
51
An seiner Rezension ist aus musikwissenschaftlicher Perspektive vor allem das
Vorgehen interessant: Abgesehen von Einleitung und Schluss enthält sich der
Autor aller Gefühls- oder Erkenntnisschilderungen und beschreibt die Musik nur
mithilfe von musikalischen Begriffen. Diese Rekonstruktion der Sinfonie, die auf
nichts verweist, das außerhalb der Musik selbst liegt, transportiert einen impliziten
Autonomiebegriff. Die Musik geht gewissermaßen durch das auf, was musika-
lisch der Fall ist.
,,Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf; eine Welt, die
nichts gemein hat mit der äußeren Sinnenwelt, die ihn umgibt, und in der er alle
durch Begriffe bestimmbaren Gefühle zurücklässt, um sich dem Unaussprechli-
chen hinzugeben."
52
Der österreichische Musikkritiker Eduard Hanslick veröffentlichte seine Schrift
,,Vom Musikalisch-Schönen"
53
im Jahr 1854. Er schließt in seiner revidierten
Ästhetik der Tonkunst zunächst alles aus, was sich ihm zufolge nicht eignet, das
spezifisch Schöne in der Musik zu erklären. Namentlich setzt er sich von der
seinerzeit verbreiteten Gefühlsästhetik oder Affektenlehre ab, die meint, Musik
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Ebd., S. 449.
51
E.T.A. Hoffmann: 5. Symphonie (c-moll) op. 67, aus: E.T.A. Hoffmann, Musikalische Novellen
und Aufsätze, Edgar Istel (Hrsg.), Gustav Bosse Verlag, Regensburg, 1920, S. 19.
52
Ebd., S. 19.
53
Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, Dietmar Strauss (Hrsg.), Schott, Mainz, 1990.
17
sei eine Darstellung von Gefühlen. Hanslick dagegen vertritt eine musikästheti-
sche Haltung, die sich dagegen verwehrt, Musik nur als Sprachrohr für außermu-
sikalische Phänomene zu begreifen.
,,Nun haben wir den positiven Gehalt zu jenem Umriß hinzuzubringen, indem wir
die Frage beantworten, welcher Natur das Schöne einer Tonkunst sei? Es ist ein
specifisch Musikalisches. Darunter verstehen wir ein Schönes, das unabhängig
und unbedürftig eines von außen her kommenden Inhaltes, einzig in den Tönen
und ihrer künstlerischen Verbindung liegt."
54
Wenn aber keinerlei von außen kommender Inhalt konstitutiv für das musikalisch
Schöne ist, was kommt dann stattdessen in einem Musikstück zum Ausdruck?
Hanslick antwortet konsequent: musikalische Ideen. Indem er alles Außermusika-
lische in der Musik nachdrücklich ausschließt und durch musikalische Ideen
ersetzt, kommt auch hier der Gedanke autonomer Musik zur Gestalt:
,,Eine vollständig zur Erscheinung gebrachte musikalische Idee aber ist bereits
selbstständiges Schönes, ist Selbstzweck und keineswegs erst wieder Mittel oder
Material zur Darstellung von Gefühlen und Gedanken [...]"
55
Hanslick präzisiert seinen Gedanken recht anschaulich, indem er von tönend
bewegter Form als einzigem Inhalt und Gegenstand von Musik spricht. Die
zunächst zirkulär wirkende Äußerung, nur Form sei der Inhalt von Musik, lässt
sich vermutlich auflösen, indem man sich von der üblichen Form-Inhalt-
Dichotomie löst und das ,,musikalische Phänomen" bei Hanslick als unauflösli-
che, selbstgenügsame Einheit betrachtet.
Hegel
Georg Wilhelm Friedrich Hegel als vielleicht folgenträchtigster Theoretiker der
idealistischen Ästhetik verortet die Freiheit der Kunst in einem umfassenden
philosophischen System. Autonome Kunst hat ihm zufolge die Aufgabe, die
Wahrheiten und Interessen des Geistes zu Bewusstsein zu bringen, uns die
Wahrheit über uns selbst bewusst zu machen und sie sinnlich darzustellen:
Wahrhafte Kunst ist unabhängig von fremden Zwecken und
54
Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, Dietmar Strauss (Hrsg.), Schott, Mainz, 1990,
S. 74.
55
Ebd., S. 75.
Ende der Leseprobe aus 72 Seiten
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Details
- Arbeit zitieren
- , 2016, Musikalische Autonomie als Praxis. Eine Ästhetik gegenwärtiger Musik nach Ludwig Wittgenstein, Hamburg, Bedey Media GmbH, https://www.bachelor-master-publishing.de/document/365503
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